Globalisierung der Religionen


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Das verletzte Gefühl

Eine unendliche Geschichte

Andreas Mertin

Ende Oktober 2014 rauscht eine Meldung durch die Medien, die zu empörten Kommentaren und scheinheiligen Solidaritätsbekundungen führte. Vor einem Auftritt des Satirikers Dieter Nuhr in Osnabrück hatte ein muslimischer Bürger Strafanzeige gegen Nuhr wegen Beleidigung der Religion gestellt. Im Rahmen seines Programms setzt sich Nuhr immer wieder einmal kritisch mit dem Islam und den Islamisten, aber auch mit dem Christentum und der Katholischen Kirche auseinander. Das gehört seit der Aufklärung zum Standardprogramm der Satire. Religionskritik war und ist ein Ferment satirischer Arbeit. Insofern macht Dieter Nuhr einfach nur seinen Job. Er macht ihn mit viel Sprachwitz, aber auch erkennbar mit moralischer Empörung über die seines Erachtens unmöglichen Rahmensetzungen muslimischer Vertreter. Setzt man das Kritisierte zur Kritik in Beziehung, ist Nuhr eher noch als milde und harmlos einzuschätzen. Besonders ist seine satirische Kritik am Islam nur deshalb, weil so wenige seiner Kollegen es wagen, das Gleiche zu tun. Nein, Dieter Nuhr beleidigt nicht den Islam, er kritisiert und kommentiert ironisch Erscheinungsformen des Islam. Diese Erscheinungsformen sind selbst Beleidigungen des Islam. Nur so wird ein Schuh daraus.

Nun kann es aber durchaus sein, dass jemand in der satirischen Zuspitzung dieser Kritik sich als Muslim getroffen fühlt. So, wie es seit gut 200 Jahren ja auch angesichts der satirischen Kritik an der Kirche immer wieder vorkommt, dass Christen sich davon getroffen fühlen. Was macht man, wenn man sich getroffen und verletzt fühlt? Steckt man das einfach ein? Das hieße, nicht nur einfach nachzugeben, sondern zugleich auch den Anderen nicht ernst zu nehmen. Er meint ja, was er sagt. Und strittig ist, ob das was er sagt, die Grenzen des Erlaubten überschreitet oder nicht. Dafür gibt es Gesetze. Wenn jemand also meint, Nuhr habe hier die Grenzen überschritten, dann kann er protestieren und wenn das nicht hilft und nicht zu einer Klärung führt, dann muss er den Weg des Rechts gehen. Das ist ganz und gar nichts Ehrenrühriges, sondern in einem Rechtsstaat etwas Selbstverständliches. Die Alternative wäre ja die Missachtung des Rechts und das hieße Selbstjustiz. Das will niemand.

Wenn also jetzt dem sich beleidigt fühlenden Muslim aus Osnabrück vorgehalten wird, er versuche die Meinungsfreiheit zu unterdrücken, dann kann man nur sagen: Nein, das ist nicht so, er schützt sie sogar indirekt, denn am Ende wird Nuhr Recht bekommen. So viel Vertrauen in den Rechtsstaat sollten wir haben. Aber es ist jedermanns gutes Recht, vom Rechtsstaat überprüfen zu lassen, ob Recht verletzt wurde. So einfach ist das. Man kann mit einiger Sicherheit vermuten, dass die Staatsanwaltschaft in Osnabrück sagen wird, dass hier das Recht durch Nuhr nicht verletzt wurde und dass der betroffene Muslim im Rahmen unserer Rechtsordnung erdulden muss, dass sich Satiriker über Erscheinungsformen des Islam lustig machen. Jede andere Entscheidung wäre für das deutsche Rechtssystem ungewöhnlich. Mich wundert eher, dass es bisher nur eine Strafanzeige gibt. Man wünschte sich doch im Gegenteil, mehr Muslime würden von ihren staatsbürgerlichen Rechten Gebrauch machen. Als die Satirikerin Kebekus das Lied „Dunk dem Herrn“ veröffentlichte, hagelte es knapp 100(!) Strafanzeigen empörter fundamentalistischer Christen – und dennoch wurde das Verfahren von der Staatsanwaltschaft zu Recht eingestellt, weil hier das eine Recht (die Kunstfreiheit) das andere Recht (die Religionsfreiheit) überwog – das war eine Stärkung unseres Rechtssystems. Aber das jemand sein Recht auf dem Rechtsweg sucht, ist nichts, was man ihm vorhalten kann. Was man verlangen kann und was man auch im vorliegenden Fall verlangen muss, ist, dass nach rechtlicher Klärung des Vorgangs die Sache erledigt ist. Dann kann man sich weiter betroffen fühlen, muss das aber hinnehmen.

Und auch das gehört zu den großen Rechten eines freiheitlichen Staates: es ist völlig egal, ob ein Atheist, ein Salafist oder ein Christ den Rechtsweg beschreitet. Vor dem Gesetz sind alle gleich – oder sollten es doch wenigstens sein. Salafisten haben, egal wie sie zu unserer Rechtsordnung stehen, dennoch die gleichen Rechte. Und in diesem Falle verhält sich der Betroffene so, wie es von unserer Rechtsordnung vorgesehen ist. Wenn er freilich auf seiner Demonstration gegen die Veranstaltung von Nuhr Plakate hochhält, auf denen steht „Nuhr lügt“ bzw. „Nuhr Lügen“, dann ist es das Recht von Dieter Nuhr, sich das ebenfalls nicht gefallen zu lassen und auf dem Rechtswege prüfen zu lassen, ob so etwas noch zur freien Meinungsäußerung von Bürgern gehört oder ob es die Grenzen des für eine Person der Öffentlichkeit Zumutbaren überschreitet.

Problematisch finde ich bei dem Ganzen eigentlich nur die Haltung der Neuen Osnabrücker Zeitung. Ich verstehe sie nicht. Sie hat nicht nur versucht, aus einem ganz normalen rechtsstaatlichen Vorgang einen Skandal zu machen, sie hat im anschließenden Kommentar, der Nuhr nur scheinbar verteidigt, diesem indirekt vorgeworfen, dass er sich nicht an die Wahrheit hält. Und das ist etwas völlig anderes, als wenn ein Individuum im Streit um Werturteile einem anderen vorwirft, er gebe nicht die Wahrheit wieder. Im Kommentar der NOZ heißt es:

„Da stellt sich auch nicht die Frage, ob ein Satiriker wie Dieter Nuhr lügt. Er sollte das dürfen, ohne dass bei ihm der Staatsanwalt auf der Matte steht. Wer will sich da zum Hüter der alleinigen Wahrheit aufschwingen? Nuhr darf sich auch irren – zum Beispiel, wenn er behauptet, der Islam habe sich immer nur dann tolerant gezeigt, wenn er keine Macht hatte. Die frühe Maurenzeit in Spanien gilt als gelebtes Miteinander von Christen, Juden und Muslimen. Und Saladin, der 1187 Jerusalem eroberte, ließ die Christen ziehen. So gnädig waren die Kreuzritter nicht.

Was meint der Kommentator, wenn er schreibt „Er sollte das dürfen“? Sprachlich kann sich das – da es vorher einen Absatz im Text gibt – nur auf das Verb „lügen“ beziehen. Das lässt es für den Leser so aussehen, als habe Nuhr tatsächlich etwas Falsches gesagt. Dafür gibt es aber keinen Beleg, sondern nur das Plakat des Betroffenen. Der im Anschluss hergestellte Zusammenhang zum Thema „alleiniger Wahrheit“ erschließt sich auch nicht. Seit über 100 Jahren wissen wir, dass es für dasselbe Phänomen einander ausschließende und dennoch wahre Beschreibungen geben kann. Es kommt eben, wie uns die Quantenphysik nahelegt, auf den Aufbau des Versuchs, d.h. der Wahrnehmung an. Und schließlich: Inwiefern irrt Nuhr, wenn er sagt, der Islam habe sich immer nur dann tolerant gezeigt, wenn er keine Macht hatte? Der Verweis auf die Mauren in Spanien ist kein gutes Beispiel, denn die haben Spanien nun gerade nicht im Rahmen friedlicher Missionsarbeit erschlossen, sondern nach einem achtjährigen Feldzug gegen die dort herrschende christliche Kultur. Ist das ein Beispiel für gelebtes Miteinander? Dass der gewaltsamen Eroberung einige Jahre friedlichen Zusammenlebens folgten, ist unbestritten. Aber auch das erste Judenprogrom ereignete sich unter maurischer Herrschaft. Und auch das ist wahr: „Besondere Kleiderordnungen für andersgläubige Minderheiten, nämlich Juden und Christen, waren 634 erstmals im Kalifat des arabischen Großreichs gefordert und eingeführt worden.“

Der letzte Satz des Kommentars „Saladin, der 1187 Jerusalem eroberte, ließ die Christen ziehen. So gnädig waren die Kreuzritter nicht“ ist ein performativer Selbstwiderspruch. Was wollte Saladin in Jerusalem - mit seinem Heer? Saladin ist mit seiner Biographie gerade kein Beispiel einer die Grenzen der Macht bedenkenden Gestalt. Saladin ließ die Christen nur gegen Zahlung einer Kopfsteuer ziehen, machte also das Gleiche wie die IS im Irak mit den Christen. Aber das sollte eigentlich jeder wissen, der Saladin als Argument verwendet. Nein, Nuhr irrt nicht, er gibt seine Wahrnehmung und Lesart der Geschichte zur Kenntnis. Das ist sein Recht. Es gibt alternative Lesarten, die auch ihre Wahrheit haben und ihr Recht. Gefährlich wird es erst da, wo die eine Wahrheit die andere zum Verschwinden bringen will. Und genau das ist der argumentative Kern von Nuhrs satirischen Ausführungen zum Islam.

P.S.

IDEA, das Nachrichtenportal unserer frommen evangelischen Glaubensgeschwister, weiß das Ganze noch zu steigern. Es titelt: Dieter Nuhr -  Ein Kabarettist im Visier radikaler Muslime. Nun wissen wir zum einen überhaupt nichts über den Muslim, der Anzeige erstattet hat, sieht man einmal von dem Umstand an, dass er einem Verein angehört, den der Verfassungsschutz problematisch findet. Auch die PKK ist immer noch unter Beobachtung des Verfassungsschutzes und in Deutschland sogar als Terrororganisation verboten, und doch verteidigt sie im Augenblick die Demokratie gegen ihrer Verächter mehr als es der deutsche Durchschnittsbürger tut. Dass man dagegen ernsthaft sagen kann, nur weil jemand den ordentlichen rechtsstaatlichen Weg geht, er nehme einen anderen „ins Visier“ ist schon ziemlich ungeheuerlich. Strafanzeigen sind keine Attentate. So kann man den Rechtsstaat den Menschen auch austreiben. Die Formulierung „dass ausgerechnet ein Salafist ihn angezeigt habe“ ist dagegen schon bedenklich, insinuiert sie doch, ein Salafist dürfe das (moralisch) nicht. Das zeigt, dass auch christliche Presseorgane ein gestörtes Verhältnis zum Rechtsstaat haben.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/92/am486.htm
© Andreas Mertin, 2014