Globalisierung der Religionen


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Rilkes Stundenbuch

„Ich glaube an Nächte.“ (19) Mit diesem weihnachtlichen Motiv endet das erste Gedicht dieser neu inszenierten Sammlung von Rilkes Stundenbuch, das 1905 erstmals erschien und den Dichter über Nacht zur Berühmtheit machte. Das vorliegende Buch vereint verschiedene Wahrnehmungen dieser eigenartigen Gedichtsammlung: Es ist ein Buch zum Lesen, zum Schauen, zum Hören, zum Blättern, zum Verweilen, zum Stöbern, zum Sich-Irritieren-Lassen.

Das Buch besteht aus 67 gedruckten Gedichten, 90 schwarz-weiß-Fotografien und 2 CDs, die 2 Lesungen dieser Gedichte enthalten, welche sich Rilkes Erfahrung „einer inneren Akustik“ verdanken:

„Da stellten sich mir, seit einer ganzen Zeit schon, morgens beim Erwachen oder an den Abenden, da man die Stille hörte, Worte ein, die aus mir austraten und im Recht zu sein schienen, Gebete, wenn man will,– ich hielt sie dafür, ja nicht einmal: ich sprach sie hin und ordnete mich an ihnen für das Unbekannte des Schlafs oder des beginnenden Tags.“ (14, Brief an Marlise Gerding vom 14. Mai 1911)

Auf der zweiten CD liest Gotthard Fermor (Musiker und Direktor des Pädagogisch-Theolo­gi­schen Instituts Bad Godesberg) alle 67 Gedichte des Stundenbuchs, das bislang noch nie komplett eingespielt wurde. Fermors Interesse gilt der Klanggestalt dieser Gedichte. Diese Texte sollen zum Klingen kommen und dabei Innen und Außen verbinden. Das eröffnet ungewohnte Dimensionen des Verstehens von Gott, Welt und sich selber. Bildung heißt hier in mystischer Tradition: Sprache als Klang bildet sich uns ein.

Auf der ersten CD werden 21 Stücke des Stundenbuchs neu zusammengestellt und anhand der Struktur der mönchischen Tradition des Stundengebets vorgetragen: Gotthard Fermor liest sie, und Josef Marschall (Komponist, Keyboarder, Jazz-Pianist und Sounddesigner) verbindet die Stundengebete mit neu komponierter Musik, die als populäre minimal music bezeichnet werden könnte. Die Mystik der Rilkeschen Dichtung ist vielfach kompositorisch zum Klingen gebracht worden, man denke etwa an Hindemiths zwei Fassungen des Marienlebens. Marschalls Musik ist weit entfernt von Hindemithscher Komplexität. Marschall verdoppelt nicht die Dichte der Rilkeschen Dichtung, sondern lässt sie einfach nachklingen, schenkt ihr Klangraum, lässt sie ein- und ausatmen:

„Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen,
die sich nur schlecht aneinander gewöhnen:
denn der Ton Tod will sich erhöhn –
Aber im dunklen Intervall versöhnen
sich beide zitternd.
                          Und das Lied bleibt schön.“ (39)

Dieses Projekt bewegt sich jenseits der Trennung von E- und U-Kultur. Es wagt Popularität jenseits der Umtriebigkeit, Geschäftigkeit und Lautsprecherei alles Populären. Dafür sorgen auch die 90 schwarz-weiß-Fotografien von Klaus Diederich, die einladen, sich in den Texten des Buches zu verlieren und so deren Unschärfen auf sich wirken zu lassen. So kommt eine populäre, eine volkskirchliche Frömmigkeit zum Tragen, die weder frömmelnd noch aufdringlich daher kommt, sondern suchend bleibt – über den Tod, die Sprachlosigkeit hinaus. Rilke bietet keine Antworten auf drängende Fragen, sondern Abgrundwissen als Erhörung der Geheimnisse, die uns umgeben:

„Die Dinge sind alle nicht so faßbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat. Und unsagbarer als alles sind die Kunst-Werke, geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert.“ (14, Brief an Franz Xaver Kappus vom 17. Februar 1903)

So führt Mark Stephen Burrows (Professor für Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie an der Ev. Fachhochschule Bochum) ein in Rilkes Theologie und Frömmigkeit, die sich auf die Dunkelheit allen Seins einlässt, ohne von dieser verschlungen zu werden. Rilke findet Worte angesichts aller Welt Dunkelheit. Das macht die Faszination seiner Dichtung aus. Das könnte auch ein Impuls für unsere weihnachtliche Frömmigkeit sein: „Die 'Nacht' entlässt uns in das Ungewisse, sie lässt uns das Göttliche als das 'Kommende', das in jedem Bild und jedem Namen verborgen ist und zugleich über alle dem steht, erkennen.“ (15)

Eine weihnachtliche Kaufempfehlung!

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/92/hsw18.htm
© Harald Schroeter-Wittke, 2014