Globalisierung der Religionen


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Das Zeitalter des globalen Dialogs

Leonard Swidler

I. Ein radikal neues Zeitalter

Oswald Spengler schrieb 1922 sein vielfach umjubeltes Buch Der Untergang des Abendlandes[1] und 1941 veröffentlichte Pitirim A. Sorokin sein gleichermaßen populäres Buch The Crisis of Our Ages.[2] Diese gewaltigen Weltenbrände waren in der Tat Manifestationen der dunklen Seite eines einzigartigen Durchbruches in der Geschichte der Menschheit. Die Unheilsverkünder waren natürlich korrekt darin, dass sie verstanden, dass die Menschheit in ein radikal neues Zeitalter eingetreten ist. Zu Beginn dieses Jahrhunderts sprachen die Neinsager gewöhnlich nur vom Untergang der westlichen Zivilisation (z.B. Spengler, Sorokin), aber nach der Ankunft von Atomkraft und Kaltem Krieg warnte die neue Generation der Pessimisten - wie es nicht ohne Berechtigung heißt: corruptio optimae pessima - vor einer weltweiten Katastrophe. Dieses zutage tretende Bewusstsein einer globalen Katastrophe ist ein klares, wenngleich negatives Zeichen dafür, dass etwas tiefgreifendes, radikal Neues auf die Bühne der Geschichte der Menschheit eintritt.

Ferner haben in letzter Zeit eine Anzahl sehr ernster akademischer Analysen in ähnlicher Weise auf ein Heraufkommen eines radikal neuen Zeitalters in der menschlichen Geschichte hingewiesen. Ich werde im Detail auf zwei davon weiter unten eingehen. Das erste ist das Konzept des „Paradigmenwechsels“, speziell in der Auslegung von Thomas Kuhn und des katholischen Theologen Hans Küng[3]. Das Zweite ist die Vorstellung von der „Zweiten Achsenzeit“, wie sie von Ewert Cousins[4], auch ein katholischer Theologe, formuliert wurde. Daraufhin werde ich meine eigene Analyse darlegen, die die beiden enthält, sie aber in einen noch breiteren Zusammenhang setzt, den ich als eine Bewegung der Menschheit sehe, heraus aus einem mehrere Jahrtausende langen „Zeitalter des Monologs“ in ein neu hereinbrechendes „Zeitalter des Dialogs“, in der Tat, ein hereinbrechendes „Zeitalter des Globalen Dialogs“.

II. Der Paradigmenwechsel

Thomas Kuhn revolutionierte unser Verständnis der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens mit seinem Begriff des Paradigmenwechsels.[5] Er hat mit größter Sorgfalt gezeigt, dass fundamentale „Paradigmen“ oder „exemplarische Modelle“ die großen Gedankenrahmen sind, innerhalb derer wir alle beobachteten Daten einordnen und interpretieren, und dass wissenschaftlicher Fortschritt unweigerlich letztlich einen Paradigmenwechsel herbeiführt[6] – z.B. vom Geozentrismus zum Heliozentrismus.

Diese Einsicht gilt jedoch nicht nur für die Entwicklung des Denkens in den Naturwissenschaften, sondern kann auch auf alle Hauptdisziplinen menschlichen Denkens angewandt werden, einschließlich religiösen Denkens. Religion wird hier verstanden als „eine Erklärung des letztlichen Sinnes des Lebens und wie man entsprechend lebt.“[7]

III. Der moderne große Paradigmenwechsel

Seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat das Christentum einen großen Paradigmenwechsel durchgemacht, besonders in Hinsicht darauf, wie wir Menschen unseren Verstehensprozess selbst verstehen und welchen Status wir der „Wahrheit“, d.h. unseren Aussagen bezüglich der Wirklichkeit, zumessen. Dieses neue epistemologische Paradigma bestimmt zusehends, wie wir Dinge wahrnehmen und mit ihnen umgehen. Deshalb ist die Rolle, die dieses begriffliche Paradigma oder Wirklichkeitsmodell spielt, auch in der Religion, kaum zu überschätzen.

Lassen Sie mich nun dem post-Aufklärungs-epistemologischen Paradigmenwechsel zuwenden. Vor dem neunzehnten Jahrhundert wurde Wahrheit, das heißt eine Aussage über die Wirklichkeit, in Europa in einer absoluten, statischen, exklusivistischen Entweder-Oder-Art gedacht. Wenn etwas einmal wahr war, dann war es immer so. Zum Beispiel, wenn es wahr war, für den paulinischen Autor im ersten Jahrhundert zu sagen, dass Frauen in der Kirche zu schweigen hatten, dann war es immer wahr, dass Frauen in der Kirche schweigen sollten.[8] Seit dem 19. Jahrhundert aber ist das Verständnis von Wahrheit in Europa deabsolutisiert, dynamisch und dialogisch geworden - in einem Wort, Wahrheit ist „relational“[9]. Diese „neue“ Sicht von Wahrheit kam durch mindestens sechs unterschiedliche, jedoch nahe verwandte Wege zustande. In Kürze gesagt sind diese:

  1. Historizismus: die Wahrheit ist deabsolutisiert durch die Beobachtung, dass Wirklichkeit immer in Begriffen der zeitlichen Umstände beschrieben ist, während denen sie formuliert wird.
  2. Intentionalität: die Wahrheit zu suchen mit der Absicht, entsprechend zu handeln, deabsolutisiert die Aussage.
  3. Wissenssoziologie: die Wahrheit ist deabsolutisiert in Bezug auf Geographie, Kultur und soziale Stellung.
  4. Begrenzungen der Sprache: die Wahrheit als die Bedeutung von etwas und besonders als Sprechen über das Transzendente ist deabsolutisiert durch die Natur der menschlichen Sprache.
  5. Hermeneutik: alle Wahrheit, alles Wissen wird als interpretierte Wahrheit, als interpretiertes Wissen gesehen und ist daher vom Beobachter deabsolutisiert.
  6. Dialog: der Wissende bindet Wirklichkeit ein in einen Dialog in einer Sprache, die der Wissende vorhergibt, welche Tatsache dabei alle Aussagen über die Wirklichkeit deabsolutisiert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unser Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit eine radikale Veränderung durchgemacht hat. Dieses neue Paradigma, das gerade geboren wird, versteht alle Aussagen über die Wirklichkeit, insbesondere über die Bedeutung von etwas als historisch, intentional, perspektivisch, partial, interpretierend und dialogisch. Was alle diese Vorstellungen gemeinsam haben, ist die Vorstellung von Relationalität, das heißt, dass jegliche Expression oder Vorstellung von Realität auf eine fundamentale Weise mit dem Sprecher oder Wissenden in Beziehung steht.

IV. Die kopernikanische Wende in der katholischen Kirche

Die katholische Kirche bietet ein klares Beispiel für den Post-Aufklärungs-Paradigmenwechsel auf einer globalen kommunalen Ebene durch die kopernikanische Wende des Vaticanum II (1962-65).

Diese kopernikanische Wende ereignete sich in fünf Hauptrichtungen:

1. Die Wende hin zur Freiheit
Das Image, das der Katholizismus am Ende der 1950er Jahre projizierte, war das eines riesigen Monolithen, der Gehorsam als höchste Tugend ansah.[10] Durch das Vaticanum II aber wird dieses sehr unfreie Image und diese Realität völlig transformiert. Plötzlich schien die Menschheit, einschließlich der Katholiken, ihres „Mündig-Werdens“ bewusst zu werden und damit ihrer Freiheit und Verantwortlichkeit.

2. Die Wende zum Historischen/Dynamischen
Jahrhundertelang war das Denken des offiziellen Katholizismus von einem statischen Verständnis von Wirklichkeit dominiert[11]; es hat nicht nur den demokratischen und den Menschenrechtsbewegungen des 19. Jahrhunderts Widerstand geleistet, sondern auch der wachsenden historischen, dynamischen Weise des Verstehens der Welt, einschließlich des religiösen Denkens. Das veränderte sich dramatisch mit dem Vaticanum II, auf dem die historische und dynamische Sicht von Wirklichkeit und Lehre offiziell vollständig angenommen wurde.[12]

3. Die Wende zur inneren Reform
Seit dem 16. Jahrhundert war selbst das Wort „Reform“ innerhalb der katholischen Kirche verboten, geschweige denn die Wirklichkeit.[13] In der Tat aber benutzten die Dokumente des Vaticanum II sogar das neuralgische Wort „Reformation“: „Christus ruft die Kirche, die auf ihrem Pilgerweg geht, auf zu der kontinuierlichen Reformation, derer sie immer bedarf“; „Alle [Katholiken] werden dazu hingeführt ... wo auch immer es notwendig ist, die Aufgabe der Erneuerung und der Reform mit Nachdruck anzugehen“ (Dekret über den Ökumenismus).[14]

4. Die Wende hin zu dieser Welt
Bis vor kurzem wurde der Begriff Heil (salvation auf Englisch) ausschließlich als „nach dem Tode in den Himmel zu gehen“ verstanden; seine Grundbedeutung, von salus, Heil, „volles gesundes Leben“ war im Christentum nach dem dritten Jahrhundert, weitgehend verloren.[15] Aber dieser Schwerpunkt hat sich mit dem Zweiten Vaticanum radikal verschoben, und das spiegelt sich besonders in dem Dokument Die Kirche in der modernen Welt wieder.

5. Die Wende hin zum Dialog
Jahrhundertelang, besonders seit dem 16. Jahrhundert, war die katholische Kirche weitgehend in einer Art von Solipsismus gefangen, in dem sie nur mit sich selber redete und mit dem Finger auf den Rest der Welt zeigte. Und wieder hat Johannes XXIII. und das Vaticanum II diese ganze Nabelschau radikal geändert. Ökumenismus wurde jetzt nicht nur geboten, sondern wurde gesehen als „zur ganzen Kirche, Gläubige wie Klerus, gehörig. Es schließt jeden mit ein“ (Dekret über den Ökumenismus). Papst Paul VI. gab sogar seine erste Enzyklika (Ecclesiam suam, 1964) speziell zum Thema Dialog heraus: „Dialog wird heutzutage verlangt ... Er wird von dem dynamischen Verlauf der Handlung verlangt, die das Gesicht der modernen Gesellschaft verändert. Er wird verlangt vom Pluralismus der Gesellschaft und von der Reife, die der Mensch in diesem Zeitalter erreicht hat. Ob er religiös ist oder nicht, seine weltliche Bildung ermöglicht es ihm zu denken und zu sprechen und einen Dialog mit Würde zu führen.“

V. Die Zweite Achsenzeit[16]

Es war Karl Jaspers, der deutsche Philosoph, der vor etwa siebenundvierzig Jahren auf die Bedeutung dieses Phänomens „Achsenzeit“ in seinem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte[17] hinwies. Er nannte den Zeitraum zwischen 800 und 200 vor unserer Zeitrechnung die Achsenzeit. Es ist in diesem Zeitraum, „dass wir die am tiefsten eingeschnittenen Trennungslinien in der Geschichte antreffen. Der Mensch, wie wir ihn heute kennen, fing an zu existieren. Der Kürze halber erlauben wir dies die ‘Achsenzeit‘ zu nennen.“[18]

Was ist das für eine Struktur des Bewusstseins und wie unterscheidet es sich vom Prä-Achsenzeit-Bewusstsein? Die vor der Achsenzeit vorherrschende Form des Bewusstseins war kosmisch, kollektiv, stammesorientiert, mythisch und ritualistisch. Das Bewusstsein der Stammeskulturen war eng verwandt mit dem Kosmos und den Fruchtbarkeitszyklen der Natur. Folglich war eine reiche und große Harmonie zwischen den frühen Völkern und der Welt der Natur etabliert, die in Mythos und Ritual reflektiert, ausgedrückt und gefeiert wurde. Genauso, wie sie sich selber als Teil der Natur sahen, so erfuhren sie sich selber als Teil des Stammes.

Die Achsenzeit leitete eine radikal neue Bewusstseinsform ein. Während früher das Bewusstsein stammesorientiert war, war das Achsenbewusstsein individualistisch. „Erkenne dich selbst“ wurde das Kennwort Griechenlands; die Upanischaden identifizierten den Atman, das transzendente Zentrum des Selbst. Der Buddha skizzierte den Weg der individuellen Erlösung; die jüdischen Propheten erweckten die individuelle moralische Verantwortung. Dieser Sinn einer individuellen Identität, losgelöst vom Stamm und von der Natur, ist das charakteristischste Zeichen des axialen Bewusstseins. Aus diesem ergeben sich andere Charakteristiken: Bewusstsein, das selbstreflektiv, analytisch ist und das angewandt werden kann auf die Natur als wissenschaftliche Theorie, auf die Gesellschaft als soziale Kritik, auf Wissen als Philosophie, auf Religion als eine Skizzierung einer individuellen spirituellen Reise. Dieses selbstreflektive, analytische, kritische Bewusstsein stand in scharfem Kontrast zum frühen mythischen und ritualistischen Bewusstsein.

Im Gefolge von Ewert Cousins können wir, wenn wir unseren Blick vom ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zum Vorabend des 21. Jahrhunderts schwenken, eine weitere Transformation des Bewusstseins erkennen, die so tief und weitreichend ist, dass er sie die Zweite Achsenzeit nennt.[19] Wie die erste, ereignet sie sich gleichzeitig um die ganze Erde herum, und wird sie den Bewusstseinshorizont für zukünftige Jahrhunderte bilden.

Um die Kräfte, die in der Zweiten Achsenzeit am Werk sind, besser zu verstehen, schöpft Cousins vom Denken des Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin.[20] Im Zuge seiner Evolutionsforschung skizzierte er die Entwicklung des Bewusstseins von seinen Wurzeln in der Geosphäre und Biosphäre hin in die Zukunft. In einem Prozess, den er „Planetisierung“ nennt, beobachtete er, dass sich in den letzten hundert Jahren eine Verschiebung in den Kräften der Evolution ereignet hatte. Diese Verschiebung ist die von Divergenz zu Konvergenz. Als menschliche Wesen zuerst auf diesem Planeten erschienen, versammelten sie sich in Familien und Stammeseinheiten, womit sie ihre eigene Gruppenidentität bildeten und sich von anderen Stämmen abtrennten. Auf diese Weise trennten sich die Menschen voneinander, schufen separate Nationen und eine reiche Vielfalt von Kulturen. Nur die kugelförmige Gestalt der Erde verhinderte uneingeschränkte Divergenz.

Mit dem Bevölkerungswachstum und der rapiden Entwicklung der Kommunikation konnten aber Gruppen nicht länger voneinander getrennt bleiben. Nachdem die Kräfte der Divergenz den Prozess Jahrtausende lang dominiert hatten, wurden sie nun von denen der Konvergenz verdrängt. Dieser Wechsel zur Konvergenz zieht die verschiedenen Kulturen in eine einzige planetarische Gemeinschaft zusammen. Obwohl wir über Tausende von Jahren der Divergenz konditioniert worden sind, haben wir jetzt keine andere Wahl, als kreativ mit den Kräften der Konvergenz zu kooperieren.

Nach Teilhard wird aber dieses neue globale Bewusstsein nicht alle Unterschiede zwischen den Völkern einebnen; sondern es wird, was er kreative Unionen nennt, herstellen, in denen Unterschiede nicht beseitigt, sondern intensiviert werden. Sein Verständnis kreativer Unionen basiert auf der Dynamik, die er im ganzen Universum sieht. Von der Geosphäre zur Biosphäre zum Reich des Bewusstseins, d.h. Noos-Sphäre, ist ein einziger Prozess am Werk, den er als das Gesetz des „Komplexität-Bewusstseins“ und der „Vereinigung unterscheidet“ formuliert. „In jeder Sphäre“, sagt er, „ob es Körperzellen sind, die Mitglieder einer Gesellschaft oder die Elemente einer spirituellen Synthese - Vereinigung unterscheidet“.[21]

In diesem Zeitpunkt in der Geschichte, sagt Teilhard, bringen die Kräfte der Planetisierung, aufgrund des Wechsels von der Divergenz zur Konvergenz, eine nie dagewesene Komplexifizierung des Bewusstseins durch die Konvergenz von Kulturen und Religionen hervor. In diesem Lichte dann können wir das Zusammentreffen der Religionen am Vorabend des 21. Jahrhunderts besser verstehen. Die Weltreligionen sind die Produkte der ersten Achsenzeit und der Kräfte der Divergenz. Obwohl im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung eine allgemeine Transformation des Bewusstseins sich ereignet hatte, geschah sie in verschiedenen geographischen Regionen innerhalb bereits differenzierter Kulturen. In jedem dieser Fälle wurde die Religion in ihrem Ursprung von den Kräften der Differenzierung geformt und entwickelte sich gemäss differenzierten Linien. Dies produzierte einen bemerkenswerten Reichtum von spiritueller Weisheit, von spirituellen Energien und von religiös-kulturellen Formen, um dieses Erbe auszudrücken, zu erhalten und weiterzugeben.

Jedoch nun, da die Kräfte der Divergenz zu Kräften der Konvergenz gewechselt haben, müssen die Religionen in ihren jeweiligen Zentren Kooperationen treffen, um darin zu entdecken, was an jeder einzelnen am Authentischsten ist und dadurch kreative Energie für eine komplexifiziertere Form des religiösen Bewusstseins freisetzen.

Dieses globale Bewusstsein, das durch das Zusammentreffen der Kulturen und Religionen komplexer wird, ist aber nur ein Charakteristikum der Zweiten Achsenzeit. Das Bewusstsein dieser Zeit ist auch in einem anderen Sinne global, und zwar in der Wiederentdeckung seiner Wurzeln in der Erde.

Cousins schlägt keinen romantischen Versuch vor, in der Vergangenheit zu leben, sondern dass die Evolution des Bewusstseins durch Rekapitulation voranschreitet. Während wir in der ersten Achsenzeit ein selbst-reflektierendes, analytisches, kritisches Bewusstsein entwickelt haben, müssen wir uns jetzt, während wir diese Werte beibehalten, die kollektiven und kosmischen Dimensionen des prä-achsenzeitlichen Bewusstseins wieder aneignen und integrieren. Wir müssen die Einheit des Stammesbewusstseins wieder erlangen, indem wir die Menschheit als einen einzigen Stamm betrachten. Und wir müssen diesen einzigen Stamm in organischer Beziehung zum ganzen Kosmos sehen.[22]

Das bedeutet, dass das Bewusstsein des 21. Jahrhunderts von zwei Perspektiven aus global sein wird:

  1. aus einer horizontalen Perspektive heraus; Kulturen und Religionen müssen sich auf dem Globus treffen und sich auf kreative Begegnungen einlassen;
  2. aus einer vertikalen Perspektive heraus; sie müssen ihre Wurzeln tief in die Erde senken, um für eine stabile und gesicherte Basis einer zukünftigen Entwicklung zu sorgen. Dieses neue globale Bewusstsein muss organisch ökologisch sein und Gerechtigkeit und Frieden garantieren. Die Stimmen der Unterdrückten müssen gehört werden: der Armen, der Frauen, der Rassen- und ethnischen Minderheiten.

Dieses heraufziehende zweifache globale Bewusstsein ist nicht nur eine kreative Möglichkeit, um das 21 Jahrhundert zu verbessern, es ist eine absolute Notwendigkeit, damit wir überleben.

VI. Das Zeitalter des globalen Dialoges

Ewert Cousins bestätigte im Grunde alles, was Hans Küng als den neu heraufziehenden zeitgenössischen Paradigmenwechsel beschrieben hat, aber betrachtet die jetzige Transformation als einen Wechsel in der Größenordnung der ersten Achsenzeit, so dass er als Zweite Achsenzeit bezeichnet werden soll. Auch möchte ich grundsätzlich bestätigen, was Küng und Cousins vorlegen.

Darüber hinaus jedoch bin ich überzeugt, dass das, in das die Menschheit jetzt eintritt, nicht nur der neueste in einer Reihe von großen Paradigmenwechseln ist oder dass es sogar eine Bewegung in eine Bewusstseins transformierende Zweite Achsenzeit ist. Über diese zwei radikalen Wechsel hinaus, und obwohl sie natürlich beide beinhaltet sind, taucht die Menschheit auf aus einem Jahrtausende alten „vom Anfang bis jetzt“ „Zeitalter des Monologes“ in ein neu aufgehendes „Zeitalter des Dialoges“.

Die Wende hin zum Dialog ist nach meinem Ermessen das fundamentalste, das radikalste und auf das Äußerste transformierende der Schlusselemente des neu heraufziehenden Paradigmas. Allerdings begründet dieser Wechsel vom Monolog zum Dialog solch eine radikale Umkehr im menschlichen Bewusstsein, ist so äußerst neu in der Geschichte der Menschheit von Anfang an, dass er wortwörtlich als „revolutionär“ bezeichnet werden muss, das heißt, dass er alles absolut herumdreht.

Fast bis zur Gegenwart waren praktisch alle überzeugt davon, dass sie allein die absolute Wahrheit hatten. Denn alle waren sich sicher, dass sie die Wahrheit innehatten; das bedeutete, dass alle die anders dachten notwendigerweise Falschheit innehatten. Aber mit dem wachsenden Verständnis, dass alle Wahrnehmung von und Aussagen über Wirklichkeit - selbst wenn sie wahr sind - notwendigerweise begrenzt waren, wurde die Erlaubnis zum Dialog und sogar die Notwendigkeit des Dialoges mit denen, die anders als wir denken, zusehends offensichtlich.

Folglich hat der Dialog - d.h. ein Gespräch mit denen, die anders denken, das primäre Ziel, dass ich vom anderen lerne. Es ist eine völlig neue Art des Denkens in der Menschheitsgeschichte.[23]

Gleichzeitig kommen wir mit einer deabsolutisierten Sicht der Wahrheit ins Blickfeld des Gespenstes des Relativismus, dem gegensätzlichen Pol zum Absolutismus. Anders als Relationalität, einem neutralen Begriff, der nur die Qualität eines in Beziehungseins notiert, ist Relativismus normalerweise  ein negativer Begriff. Wenn nicht mehr behauptet werden kann, dass eine Aussage über die Wahrheit  der Bedeutung von Dingen absolut ist, völlig objektiv, weil die Behauptung nicht mit unserer Erfahrung  der Wirklichkeit übereinstimmt, dann ist es genauso unmöglich zu behaupten, dass jede Aussage über die Wahrheit der Bedeutung von Dingen völlig relativ ist, völlig subjektiv; denn das stimmt ebenfalls nicht mit unserer Erfahrung der Realität überein; und es würde natürlich logischerweise zu einer atomisierenden Isolation führen, die jeglichen Diskurs, alle Aussagen zu anderen beenden würde.

Aber falls wir nicht mehr an einer absolutistischen Sicht der Wahrheit der Bedeutung von Dingen festhalten können, dann müssen wir bestimmte Schritte unternehmen, um nicht logischerweise in das Schweigen des totalen Relativismus gezwungen zu werden. Abgesehen davon, danach zu streben, so akkurat und fair wie möglich in der Ansammlung und Bewertung von Information und in ihrer Unterbreitung zur Kritik von unseren Kollegen und anderen Denkern und Gelehrten zu sein, müssen wir als erstes auch unsere eigenen Vermutungen ausbreiten, klar formulieren und analysieren – als eine konstante, kontinuierliche Aufgabe.

Trotzdem aber operieren wir in diesem Unterfangen von einem bestimmten „Standpunkt“ heraus. Daher ist es nötig, dass wir als Zweites unsere laufend kritisierten Aussagen mit Aussagen von anderen „Standpunkten“ ergänzen. Das heisst, es ist notwendig, dass wir uns mit denen in einem Dialog engagieren, die unterschiedliche kulturelle, philosophische, soziale, religiöse Ansichten haben, damit wir auf eine immer vollkommenere Wahrnehmung der Wahrheit der Bedeutung von Dingen hinstreben. Wenn wir uns nicht auf so einen Dialog einlassen, dann bleiben wir innerhalb der Perspektive unseres eigenen „Standpunktes“ gefangen. Noch mehr, unsere Suche nach der Wahrheit macht es für uns als menschliche Wesen notwendig, uns im Dialog zu engagieren. Heutzutage sich wissentlich dem Dialog zu verweigern, würde einen Akt fundamentaler menschlicher Verantwortungslosigkeit darstellen - in jüdisch-christlich-islami­schen Begriffen, eine Sünde.

VII. Abschluss

Um zusammenzufassen und zu wiederholen: am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erfährt die Menschheit einen Makro-Paradigmenwechsel. Darüber hinaus bewegt sich die Menschheit zu diesem Zeitpunkt hinein in eine transformative Bewusstseinsveränderung in der Größenordnung der Achsenzeit, so dass wir von einer heraufziehenden Zweiten Achsenzeit reden müssen. Aber noch tiefgreifender ist, dass jetzt am Rande des dritten Jahrtausends die Menschheit aus dem dunklen Zeitalter des Monologes herausgleitet, in dem sie seit ihrem Anfang war, hinein in den Anbruch des Zeitalters des Dialoges. In dieses neue Zeitalter des Dialoges hinein sind Küngs Macro-Paradigmenwechsel und Cousins Zweite Achsenzeit „sublimiert“ (aufgehoben, in Hegels Begrifflichkeit), das heißt, aufgenommen und transformiert.

Darüber hinaus wird das menschliche Bewusstsein zunehmend global. Folglich müssen unsere Dialogpartner auch zunehmend global sein. In diesem neuen Zeitalter des Dialoges ist Dialog auf globaler Basis nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit. Wie ich im Titel eines meiner Bücher bemerke - die Menschheit ist letztlich mit zwei Möglichkeiten konfrontiert: Dialog oder Tod![24]

Vortrag, den der Autor während der Tagung „Abschied von der Wahrheit? Die Herausforderung der pluralistischen Theologie der Religionen für den Absolutheitsanspruch des Christentums“ in der Ev. Akademie vom 7.-9. März 1997 hielt. Ausführliche Überlegungen in derselben Richtung finden sich in seinem Buch  (zusammen mit Paul Mojzes): The Study of Religion in the Age of Global Dialogue. Philadelphia: Temple University Press 2001, besonders S. 145-178.

English Summary

At the end of the 20a change of paradigms of greatest dimensions begun. Mankind moves to a transformation of consciousness so that we have to speak of a second axial age as Karl Jaspers has pointed out for the first axial time between 800 and 200 B.C. This means also that after the first periods of man and as periods of divergences, these have come to an end because of the experience of global interdependence. So mankind reaches out from monologue to an age of dialogue. The Catholic Church has shown this change of paradigm by Vaticanum II which has meant a Copernican turn for the church, because truth is not absolute but relational.

This macro-change of paradigms as Hans Küng has formulated and Ewert Cousins has interpreted as second axial age is included in this new movement of dialogue. As human consciousness grows more and more global, so our partners in dialogue must be more global: dialogue as a necessity, because mankind has only the alternative: death or dialogue.


Anmerkungen

[1]    SPENGLER, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. München: Beck 1922-23, 2 Bände

[2]    SOROKIN, Pitirim A.: The Crisis of Our Age. New York: Dutton 1941

[3]    Vgl. u.a. KÜNG, Hans: Theologie im Aufbruch. München: Piper 1987, besonders S. 153ff

[4]    Vgl. u.a. COUSINS, Ewert: "Judaism-Christianity-Islam: Facing Modernity Together", in: Journal of Ecumenical Studies, 30:3-4, Summer-Fall 1993, S. 417-425

[5]    KUHN, Thomas: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chicago Press 1970²

[6]    QUESNELL, Quentin: "On Not Negotiating the Self in the Structure of Theological Revolutions," Referat bei einer Konferenz in Honolulu vom 3. –11. Januar 1984 über "Paradigm Shifts in Buddhism and Christianity: Cultural Systems and the Self," S. 2

[7]    ebd. S. 3.

[8]    Ich bedanke mich für diesen beispielhaften Vergleich bei Henry Rosemont, den ich kennenlernte, als er 1982-84 Fulbright Professor an der Fudan University in Shanghai war.

[9]    Bereits vor zweitausend Jahren und darüber hinaus vertraten einige hinduistische und buddhistische Denker eine nichtabsolute Epistemologie, aber diese Tatsache hatte keine signifikante Auswirkung auf den Westen; aufgrund des kulturellen Schwindens dieser Zivilisationen in der Neuzeit und der Dominanz der westlichen naturwissenschaftlichen Weltvorstellung, spielten diese uralten nicht absoluten Epistemologien bis jetzt keine bedeutende Rolle in der sich herausbildenden globalen Gesellschaft. Das änderte sich inzwischen wieder und fängt sogar an, in die härteste unserer sogenannten "harten" Naturwissenschaften, die Atomphysik, einzuziehen, wie man am populären Buch „The Tao of Physics“ Boulder, CO: Shambhala 1983² des theoretischen Physikers Fritjof CAPRA sehen kann.

[10]   Bonifatius VIII.: "Unam sanctam," in J. Neuener und J. Depuis (Hg): The Teaching of the Catholic Church Dublin: Mercier Press 1972, Nr. 875, S. 211

[11]   Thomas Aquinas, Summa Theologiae, II-II, Q.1, A. 2.

[12]   Vgl. z. B. SWIDLER, Leonard/KÜNG, Hans (Hg): The Church in Anguish: Has the Vatican Betrayed Vatican II? San Francisco: Harper & Row 1987; HÄRING, Bernard: My Witness For the Church. Übersetzung und Einleitung von Leonard Swidler. Mahwah, NJ: Paulist Press 1992

[13]   Vgl. z. B. SWIDLER, Leonard: Freedom in the Church. Dayton: Pflaum Press 1969; SWIDLER, Leonard: Aufklärung Catholicism 1780-1850. Missoula, MT: Scholars Press 1978; SWIDLER, Leonard und Arlene: Bishops and People. Philadelphia: Westminster Press 1970

[14]   RAHNER Karl/VORGRIMLER, Herbert: Kleines Konzilskompendium: Sämtliche Texte des II. Vaticanums mit Einführungen und ausführlichem Sachregister. Freiburg: Herder 1985

[15]   Für eine Diskussion von "Salvation" und anderer Schlüsselbegriffe im Hinblick auf das letztendliche Ziel des Lebens, vgl. SWIDLER, Leonard: The Meaning of Life? Some Answers at the Edge of the Third Millenium. Mahwah, NJ: Paulist 1992

[16]   In diesem Teil schulde ich Ewert Cousins Aufsatz besonderen Dank: "Judaism-Christianity-Islam: Facing Modernity Together." Journal of Ecumenical Studies, vgl. No.30,3-4 (Summer-Fall 1993), S. 417-425

[17]   JASPERS, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Zürich: Artemis 1949, S. 19-43

[18]   ebd., S. 19; Übersetzung BULLOCK, Michael: The Origin and Goal of History. New Haven: Yale University Press 1953, S. 1. Zur fortlaufenden akademischen Diskussion von Jaspers‘ Position bezüglich der Achsenzeit vgl.: Wisdom, Revelation, and Doubt: Perspectives on the First Millennium B.C. Daedalus: Spring 1975 und: The Origins and Diversity of Axial Age Civilizations. Hg. S.N. Eisenstadt. Albany, NY: State University of New York Press 1989

[19]   Für eine umfassendere Behandlung von Cousins Konzept von der Zweiten Achsenzeit, vgl. sein Buch: Christ of the 21st Century. Rockport, MA: Element 1992

[20]   TEILHARD DE CHARDIN, Pierre: Le Phénomène humain. Paris: Editions du Seuil 1955; vgl. auch: L'Activation de l'énergie. Paris: Editions du Seuil 1962 und: L'énergie humaine. Paris: Editions du Seuil 1962. Für eine detailliertere Studie von Teilhards Denken in Bezug auf die Zweite Achsenzeit, vgl. Ewert Cousins Referat "Teilhard de Chardin and the Religious Phenomenon," das auf dem von der UNESCO organisierten internationalen Symposium aus Anlass des hundertsten Geburtstages von Teilhard de Chardin in Paris gehalten wurde (16.-18. September 1981).

[21]   TEILHARD DE CHARDIN, Pierre: Der Mensch im Kosmos (Le phénomène humain). München: Beck 1959, S. 236, 243-246, auch S. 168-181; vgl. auch: Die Entstehung des Menschen (Le groupe zoologique humain, 1956). München: dtv TB 1755, S. 105.121.128f.

[22]   COUSINS, Ewert: s.o. Anm. 4

[23]   PANIKKAR, Raimon: Myth, Faith and Hermeneutics. New York: Paulist Press 1979, S. 241-245; vgl. auch sein Buch: The Intrareligious Dialogue. New York: Paulist Press 1978

[24]   SWIDLER, Leonard u.a. (Hg.): Death or Dialogue. Philadelphia: Trinity Press International 1990

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/92/ls01.htm
©
Leonard Swidler, 2014