Was ich noch zu sagen hätte ...

Ist es falsch zu vermuten, hinter der Formulierung „Patriotische Europäer“ verberge sich die alte und neurechte Formulierung vom „Europa der Vaterländer“? Zunächst einmal bedürfte das Bekenntnis zu Europa und seinen Werten ja keinesfalls der Ergänzung „patriotisch“, es sei denn, man unterstelle, die Wendung zu Europa sei unpatriotisch. Wer sich als „patriotischer Europäer“ etikettiert, der will einen Akzent setzen, der im reinen Bekenntnis zu Europa nicht enthalten ist, er will einen partikularen Aspekt gegenüber einem umfassenderen System hervorheben. Zugleich will er aber auch nicht nur unter der Bezeichnung „Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes“ auftreten, vermutlich weil das zu eindeutig und zu leicht als purer anti-islamischer Affekt zu lesen wäre. Und „Patrioten gegen die Islamisierung Deutschlands“ wäre noch konkreter und noch klarer als rechtes Programm zu erkennen. [Ob die Sachsen im ersten Jahrtausend wohl auch Demonstrationen gegen die Christianisierung Nordeuropas veranstaltet haben, als sie noch nicht zum so genannten, aber nie gewesenen jüdisch-christlichen Abendland gehörten?]

Jedenfalls stammt die Formulierung vom Europa der Vaterländer aus dem apologetischen Vokabular von Charles de Gaulles, mit dem dieser den Franzosen ein Europa unter der Leitung Frankreichs schmackhaft zu machen suchte. Schon damals war es, wie aus den Debatten nachgelesen werden kann, letztlich kein wirklich europäisches Konzept: „Das Europa der Vaterländer kennen wir schon lange“, sagte Piere Pflimlin, der letzte Präsident der 4. Republik, „es wirft uns ins 19. Jahrhundert zurück, zum Wiener Kongress, zum europäischen Konzert. Das Konzert dauert so lange, bis die Musiker anfangen, sich gegenseitig mit den Instrumenten über den Schädel zu schlagen.“ Wie wahr. Schon damals war der anti-atlantische Aspekt deutlich.

Wer sich heute auf das „Europa der Vaterländer“ bezieht, stammt in aller Regel aus dem rechtsextrem-nationalistischen Kontext und will gerade kein geeintes Europa. Weil auch die rechten Parteien gesamteuropäisch aus taktischen Gründen zusammenarbeiten mussten, suchten sie eine Formel, mit der sie das unter Beibehaltung des nationalen Pathos‘ tun konnten und sahen im „Europa der Vaterländer“ das sprachliche Instrument dafür. Patriotische Europäer ist nun eine nur schwache Umformulierung dieser Idee, die den rechten Hintergrund vernebeln soll. Wie nah aber die patriotischen Europäer dem rechten Denken verbunden sind, macht ihr weiterer Sprachgebrauch deutlich.

Lügenpresse / 05.01.2015

Christian Buggisch ist in seinem Blog der Geschichte des Wortes „Lügenpresse“ nachgegangen, das von den Teilnehmern der Dresdner Pegida-Demonstrationen so gerne verwendet wird. Buggisch konzentriert sich dabei zunächst einmal zu Recht auf den Zeitraum nach 1900. Das von Buggisch genutzte Hilfsmittel ist dabei ein Graph, der das Vorkommen eines Wortes in den von Google erfassten Büchern darstellt. Man muss sich über die Reichweite und die Aussagekraft dieses Mittels vorab im Klaren sein. Zum einen werden so (zumindest bis 1983) nur die Aussagen erfasst, die von jenen getätigt werden, die Zugang zu den Printmedien hatten. Es kann also sein, dass ein Begriff schon Jahre vorher (etwa im Volksmund und am Stammtisch) genutzt wurde, ohne Eingang in die Druckmedien gefunden zu haben. Und es kann sein, dass ein Begriff nur von den Medienbeiträgern, nicht aber vom Volk genutzt wurde. Erst nach der Verbreitung des Internets ändern sich diese Rahmenbedingungen grundsätzlich, insofern nun fast jeder Zugang zu Publikationsmöglichkeiten hat. Für das Wort „Lügenpresse“ zeigt sich nun, dass es in der Geschichte zwei „Höhepunkte“ hatte, einen direkt am Ende des ersten Weltkriegs und einen in der Zeit des Nationalsozialismus. Beide Ausschläge sind so extrem, dass sie nicht zufällig sein können. Beide fallen zudem in Zeiten nationalistischer und völkischer Exzesse.

Man kann nun lange darüber spekulieren, ob es nur zufällig ist, wenn eine Bewegung diesen Begriff zur Kritik am heutigen System aufgreift. Aber „Lügenpresse“ wird als bereits geprägter Begriff keinesfalls mal eben so verwendet, naheliegender wären 2014 sicher eher andere Begriffe. (Ähnliches gilt für das Wort „Volksverräter“, das neuerdings vermehrt zu hören ist). „Lügenpresse“, so viel kann man sagen, indiziert offenkundig mehr, als nur die Kritik an einer unzuverlässigen Presseberichterstattung. Unterstellt wird ja, dass Presseorgane die Wahrheit wüssten, sie aber im Interesse anderer Aspekte und bestimmter Ideologien zurückhalten und den Sachverhalt bewusst falsch darstellen würden. Und dass dies nicht bei einzelnen Presseorganen zu beobachten wäre, sondern bei „der“ Presse schlechthin. Da ist man, wenn man nicht gute Gründe und Belege liefert, sehr schnell bei Verschwörungstheorien.

Ich finde es nun produktiv, nicht nur den Hoch-Zeiten des Begriffs im 20. Jahrhundert nachzuspüren, sondern darüber hinaus auch die ersten Belege für dieses Wort genauer zu untersuchen und grenze deshalb den Graphen einmal auf die Zeit zwischen 1840 und 1900 ein. Vor 1840 kommt der Begriff in den von Google erfassten Dokumenten überhaupt nicht vor. Das hat insofern seine nachvollziehbare Logik, als dass die Freigabe der Pressezensur in das Jahr 1848/49 datiert. Vorher hätte also der Vorwurf der „Lügenpresse“ auch die staatliche Autorität getroffen. „Lügenpresse“, das ist schon einmal ganz interessant, meint daher in der Regel Darstellungen durch die freie Presse. Wem wird aber der Vorwurf der „Lügenpresse“ gemacht?

Das Ergebnis hat mich überrascht. Wenn ich es recht sehe, war das Wort „Lügenpresse“ ursprünglich im konservativ-religiösen Kontext beheimatet. Erstmalig verzeichnet es Google 1846 in Karl Gregor Müglichs „Blick auf die Heiligen unsrer katholischen Kirche. In acht Predigten“. Auf Seite 57 heißt es dort im Blick auf das 16. Jahrhundert:

Schon damals bedienten sich die Papstfresser auch der Lügenpresse. Pasquille, Schmähschriften, Verleumdungsmährchen, Geschichtsentstellungen, Schandwische, Spottlieder, Zerrbilder gegen die katholische Kirche wurden haufenweise abgedruckt und emsig herum getragen und unter das Volk ausgestreut. Luther selbst war Meister in allen Gattungen dieser schmutzigen Bilder und Schriften, wie Jedermann in den älteren Ausgaben seiner Geisteswerke sehen kann.

Offenkundig ist hier noch nicht direkt an Presseorgane gedacht, sondern an die Druckerpresse als Medium der Herstellung von Propagandamedien. Insofern die Reformation sich nicht zuletzt dem Einsatz der Druckerpresse verdankt, ist die katholische Reaktion schon nachvollziehbar – auch wenn sich die Katholiken selbst in ähnlicher Weise der Drucktechnik bedient haben.

Das erste Vorkommen im Blick auf Presseorgane als solche ist ein beiläufiger Satz in einem Buch über Blutanalysen von 1847, in dem der Verfasser über die französische Presse urteilt:

Es verhält sich mit solchen Gesetzen, welche die Franzosen so sehr voreilig aufzustellen pflegen, wie mit den Tages-Neuigkeiten der Lügenpresse in Frankreich überhaupt: sie werden heute gelesen und sind morgen vergessen.

Dass die ausländische Presse als „Lügenpresse“ etikettiert wird, wird auch ein Charakteristikum späterer Jahre sein, vor allem in der Zeit nach 1900.

1848 wird das Wort in der Allgemeinen Zeitung München von Cotta im Kontext einer tendenziösen Berichterstattung durch andere Presseorgane erwähnt. Der nächste Beleg im selben Jahr stammt aus der Zeitschrift „Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland“, die von 1838 bis 1923 erschienen und der konservativen Richtung im deutschen Katholizismus zugerechnet wird. Im 2. Halbjahresband des Jahres 1848 ist nun folgendes zu lesen:

Das gelang dem Strassenaufruhr vom 6. Oktober mit überraschender Schnelligkeit, mit noch nie erhörtem Glück. Die jüdische Lügenpresse strengte alle Kraft an, die Augen der Welt über den wahren Sachverhalt zu blenden, die rohen Leidenschaften für die schlechte Sache aufzureizen und alle Gemüther, selbst die redlichsten, zu verwirren. Will man auch nicht wie Eisenmann behaupten, daß die deutschen Zeitungen sämmtlich bestochen waren, so kann sich doch der denkende Mensch bei Durchlesung der Korrespondenzen aus jener Zeit kaum ein anders Urtheil bilden, als daß die geheime Macht des Geldes, wenigstens die Korrespondenten zu dieser wundersamen Uebereinstimmung für das Schlechte gebracht haben müsse. Daß in Frankfurt solche Motive nicht unthätig gewesen sind, unterliegt keinem Zweifel.

Hier haben wir erstmalig alle Klischees beisammen, die noch 166 Jahre später wesentliche Elemente der Argumentation bilden werden. „Jüdische Lügenpresse“ – das meint hier eine Zeitungslandschaft, hinter der angeblich großes Kapital steckt, welches seine Interessen mit Manipulation und Lügen durchsetzt. Solche Stereotype werden sich in den folgenden Zeiten immer wieder artikulieren. Bemerkenswert scheint mir, dass auch damals schon vor allem diffus argumentiert wurde, ohne irgendeinen Beleg oder Hinweis, wer denn mit welchem Ziel wen zur Manipulation der Wahrheit in der Presse bestochen oder genötigt haben solle. Und auch der jedes kritische Argument beiseite wischende Satz „Das unterliegt keinem Zweifel“ scheint damals schon Konjunktur gehabt zu haben – und wird in Dresden auf den Kundgebungen immer wiederholt. Problematisch für die konservativen Katholiken war seinerzeit nun, dass ihre eigene Klientel die „Lügenpresse“ gegenüber der katholischen Presse bevorzugte. Binders „Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexicon für das katholische Deutschland“ bringt es 1849 auf den Punkt:

Diese katholische Presse durch eifrige Theilnahme zu unterstützen und zu fordern ist heilige Pflicht der deutschen Katholiken! Aber leider muß uns die Schamröthe ins Gesicht treten, erwögen mir, wie seither diese Pflicht von uns erfüllt worden ist. Die Lügenpresse haben wir aus unserem Säckel unterstützt, nicht die Presse, welche für unsere Interessen kämpft. Was hilft es, wenn die tüchtigsten publizistischen Kräfte des katholischen Deutschlands für ein Journal gewonnen werden und Redaktion wie Verleger aus vollen Kräften ihr Unternehmen zu heben sich bemühen? Das katholische Publikum unterstützt sie nicht, es kauft und liest lieber die Blätter, von denen seine Sache mit Koth beworfen wird! Wir könnten hier furchtbare Anklagen erheben, doch wir wollen lieber schweigen und nichts sagen als: Jener heillose Zustand muß ein Ende nehmen, wir müssen eine mächtige katholische Presse schaffen, damit wir unsere Gegner mit ihren eigenen Waffen schlagen können!

Es geht im Kern also um Homogenität, um Konformität – und es geht um Macht und Einfluss, den man erringen möchte. „Lügenpresse“ das ist in den Anfangszeiten schlichtweg eine Chiffre für die Presse der anders Denkenden, der Nicht-Katholiken, der Nicht-Deutschen etc. Nicht, dass sie wirklich lügt, kann man ihr vorwerfen, sondern nur, dass sie eine andere Sicht der Dinge vertritt. Später, das kann man im Blog von Christian Buggisch nachlesen, bekommt das Wort „Lügenpresse“ eine immer stärker denunziatorische und politische Dimension.

Volksverräter / 06.01.2015

Die zweite Vokabel, die laut ZEIT auf der Pegida-Demonstration häufiger ertönt, ist „Volksverräter“, quasi die Komplementärvokabel zu „Wir sind das Volk“. Und auch hier ist die historische Kontextualisierung klar (wobei das Wort „Lügenpresse“ einen klareren Indexcharakter hat):

Man wird kaum bestreiten können, dass die Pegida-Demonstranten sich belasteter Vokabeln aus zwei extrem problematischen Szenarien deutscher Geschichte bedienen.

Schande / 07.01.2015

Im zitierten Blog von Christian Buggisch entgegnet einer der Kommentatoren, wenn der Blogger schon so sprachkritisch sei, dann solle er gefälligst auch dem von der Gegenseite verwendeten Wort „Schande“ nachgehen, denn der Justizminister habe Pegida ja als „Schande für Deutschland“ bezeichnet. Für ihn klänge Schande aber auch nach 3. Reich. Da hat er wohl etwas verwechselt. Buggisch kann dem Kommentator aber nur danken für die Entgegnung, denn ein kurzes Recherchieren zeigt, wie trennscharf seine Recherche zu „Lügenpresse“ war. Der Graph für „Schande“ soll deshalb hier nachgereicht werden:

Das Wort stammt aus der Hoch-Zeit des Bürgertums in der Mitte des 18. Jahrhunderts und ist das Schattenwort zur bürgerlichen „Ehre“. Es flammte tatsächlich noch einmal – wie die Ehre – in der Zeit des Nationalsozialismus auf, was aber in keinem Verhältnis zum sonstigen Vorkommen in seiner Verwendungsgeschichte steht. Schande und Ehre sind keine trennscharfen Begriffe für völkische oder nationalsozialistische Sprache. Gerade weil zudem das Wort „Lügenpresse“ sehr viel seltener auftaucht als etwa das Wort „Schande“ ist es viel kontextspezifischer und damit charakteristischer. Noch trennschärfer wären nur Begriffskonstellationen wie „Blut und Boden“:

Licht / 08.01.2015

Die Abschaltung der Beleuchtung des Kölner Doms anlässlich der Kögida-Demonstration ist bei manchen religiös-national-Konservativen auf Protest gestoßen. Der Beleuchtungsstop beim Kölner Dom sei ein ‚alberner Symbolaktionismus‘. Da wird dann in wohlfeilen Worten beklagt, dass ausgerechnet die Kirche, die doch verpflichtet sei, das Licht der Welt zu verkünden, die Beleuchtung des Doms ausschalte, wenn die Menschen ihre Ängste und Sorgen bekundeten.

Nun ist es ein leicht erkennbarer Irrtum, wenn jemand meint, mit dem Licht am Kölner Dom würde auf Christus als Licht der Welt hingewiesen. Der Kölner Dom, das macht seine Geschichte deutlich, wird nicht als religiöses, sondern als nationales Symbol angestrahlt. Er verdankt seine Fertigstellung weniger kirchlichen Anstrengungen als der deutschen Sehnsucht nach Selbstvergewisserung. Deshalb ist es nur richtig, ihn aus diesen politischen Gründen den Kögida-Demonstranten zu entziehen.

Aber wenn man einmal über die Beziehung von Christus als dem Licht der Welt und der künstlichen Beleuchtung des Kölner Doms genauer nachdenkt, dann hilft es vielleicht, auf die klassischen Bilder von der Geburt Christi seit dem 15. Jahrhundert zu blicken. Die kunstgeschichtliche Tradition hat hier nämlich im Anschluss an die Heilige Birgitta von Schweden eine Ikonographie geschaffen, die auch aktuell überaus aufschlussreich ist. Sie zeigt uns das Geburtsgeschehen mit einem älteren Joseph, der mit einer Kerze in der Hand herbeigeeilt ist, um ausreichend Licht im Dunkel des Stalls zu schaffen. Vergeblich, wie die Maler ironisch festhalten, denn natürlich überstrahlt Christus als Licht der Welt alles, was künstliches Licht jemals auch nur erleuchten könnte. Wer also meint, mit künstlichem Licht dafür Sorge tragen zu müssen, dass Christus als Licht der Welt ausreichend erleuchtet und wahrgenommen wird, hat von der jesuanischen Botschaft überhaupt nichts verstanden. Das Licht, das in die Dunkelheit gekommen ist, ist nicht die Kerze des Joseph, ist nicht die Beleuchtung des Kölner Doms und es wird von diesen auch nicht symbolisiert, sondern es ist das reine Wort Gottes selbst.

Zufall / 09.01.2015

Die Terroristen, die im Januar 2015 in einer konzertierten Aktion in Paris ihre Verbrechen begingen, hatten nach eigenem Bekunden drei Gegner: die freie Presse in Gestalt der Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“, den Staat bzw. das System in Gestalt der den Staat repräsentierenden Polizei und eine andere Religion in Gestalt der jüdischen Besucher eines koscheren Einkaufszentrums.

Die Pegida-Demonstranten, die seit Monaten lautstark in Dresden ihren Unmut bekunden, haben nach eigenem Bekunden drei Gegner: die „Lügenpresse“ in Gestalt der großen Presseorgane der Bundesrepublik Deutschland, die Politik und das ‚System‘ in Gestalt der so genannten Alt-Parteien und eine andere Religion in Gestalt der Flüchtlinge und Einwanderer mit moslemischem Glauben.

Nein, eine inhaltliche Verwandtschaft zwischen den Terroristen und den Pegida-Anhängern besteht nicht. Würden sie aufeinander treffen, wären sie erbitterte Feinde. Aber sie haben dennoch Gemeinsamkeiten: der Kampf gegen die Presse, der Kampf gegen das System, der Kampf gegen eine Religion. Aber das ist sicher nur Zufall. Was sie aber noch stärker verbindet ist der Umstand, dass sie mehr gegen etwas sind, als für etwas. Die Terroristen in Paris kämpfen nicht für Allah, für Mohammed oder den Islam. Die Demonstranten in Dresden protestieren nicht für Gott bzw. Jahwe, Moses oder Jesus, das Christentum oder das Judentum. Beide Bewegungen träumen mit dem Kalifat oder dem christlichen Abendland von einem religiös konfigurierten Staat, dem alles untergeordnet wird und der das Andersartige und Fremde wortwörtlich ausgrenzt.

Dennoch scheint es auf den ersten Blick ein weiter Weg vom gewaltlosen Protest gegen das System in Dresden zur physischen Vernichtung der Gegner in Paris zu sein. Aber der Weg ist kürzer, als man denkt. Auf der Bogida-Kundgebung in Bonn Mitte Dezember 2014 sprachen Leute, die sich schon einmal Listen gemacht haben für das von ihnen so genannte Nürnberger Tribunal 2.0, auf dem sie Politiker, Journalisten, Schriftsteller und Kirchenvertreter anklagen und danach wegen Volksverrat liquidieren wollen. Und auf das Kulturchristentum des Abendlandes bezog sich auch der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik, als er beschloss, die Jugendlichen der sozialdemokratischen Nachwuchsorganisation als angebliche Förderer der Islamisierung des Abendlandes zu töten.

Europas 11. September? / 11.01.2015

Wiederholt taucht in verschiedenen Pressestatements die These auf, die Anschläge auf die Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ seien Europas 11. September, vergleichbar mit der Erschütterung Amerikas durch die Anschläge auf das World Trade Center 2001. Diese Einschätzung scheint mir stimmig zu sein, wenn man sie unzulässiger Weise auf den islamistischen Terror reduziert. Das wäre aber eine ‚abendländische‘ Sicht auf das Geschehen, die die islamistische Bedrohung in den Vordergrund stellt. Viel plausibler scheint es mir zu sein, Europas 11. September auf den 22. Juli 2011 zu datieren, als ein angeblicher Kreuzritter gegen die Islamisierung des Abendlandes 77 unschuldige Menschen tötete, weil sie eine andere Haltung zu(m) Fremden hatten als er. Und er tat dies mit Worten, die aus der Mitte der europäischen Gedankenwelt stammten, mit Gedanken, die inhaltlich heute noch jeden Montag auf den Demonstrationen in Dresden wiederholt werden. Mit der Pathologisierung des Täters hat sich Europa davor gedrückt, zu erkunden, inwieweit es dieses Gedankengut selbst mit kultiviert hat, inwieweit es sich nicht ausreichend immunisiert hat gegen ein Denken, das die Fremden ausgrenzt.

Je suis Charlie / 11.01.2015

Auf der Blockwartseite kath.net legt ein sich katholisch nennender Blogger ebenso wie auf der Meinungsseite idea.de ein Vertreter eines evangelikalen Bibelbundes Wert auf den Satz „Ich bin NICHT Charlie Hebdo!“ Ersterer sieht in der Solidaritätswelle für die ermordeten Karikaturisten eine Heroisierung, von der er sich distanziere – ebenso wie von deren „Machwerken“. Nun geht es bei dem Satz „Je suis Charlie“ überhaupt nicht darum, sich mit den Zeichnungen der Redakteure solidarisch oder einverstanden zu erklären. Es geht darum, zu bekunden, dass die Mörder, als sie in die Redaktion eindrangen und auf die dort Versammelten schossen, sie Individuum für Individuum liquidierten, mehr als nur diese trafen. Sie griffen zugleich das Recht der freien Meinungsäußerung an, das mühsam in der europäischen Geschichte gerade auch gegen die Kirche errungen wurde, sie meinten, selbst über Tod und Leben entscheiden zu können, sie wollten Ankläger, Richter und Henker zugleich sein. Sie kündigten mit anderen Worten alles auf, was die Grundlagen der Zivilisation betrifft. Und der Satz, der nun weltweit wiederholt wird – Je suis Charlie – besagt: indem ihr diese Menschen angegriffen habt, habt ihr auch uns und jene universellen Werte angegriffen, ohne die keine Gesellschaft als gerechte und freie bestehen kann. Deshalb können die Menschen weltweit analog schreiben: Je suis AhmedJe suis juif – ... Wer sich von dieser Solidarität ostentativ lossagt (statt einfach nur zu schweigen), der löst sich von den Grundwerten der menschlichen Gemeinschaft. Für die Mörder von Paris war es gleichgültig, ob sie jüdische Konsumenten, muslimische bzw. christliche Polizisten oder atheistische Karikaturisten töteten. Ihrer mörderischen Wahnidee wurde alles untergeordnet.

In einer perversen Verkehrung von Tätern und Opfern sollen nun die Opfer – die Zeichner – für die Verbrechen der Täter – die Terroristen – verantwortlich gemacht werden. Sie hätten bedenken müssen, dass ihre Karikaturen nicht nur sie selbst, sondern auch andere gefährde, sie seien deshalb verantwortlich für deren Tod. Solidarisch könne man deshalb nicht mit ihnen sein. Dieses Denken ist krank. Wenn dann noch hinzugefügt wird, man fühle sich auch nicht zur Solidarität verpflichtet, weil man ja auch keine Solidarität erfahren habe, als Terroristen christliche Missionare in Afrika umgebracht hätten, dann wird Solidarität zu einem schnöden Handelsobjekt. Tausche deine Solidarität gegen meine Solidarität. Wenn Solidarität nur den Angehörigen der eigenen Klientel zukommt, kann man sie sich auch gleich schenken, sie ist dann bloß die zur Formel erstarrte Vergewisserung der Gleichgesinnten.

Dagegen gilt es zumindest anzuknüpfen an jene Haltung der aktiven Toleranz, die Evelyn Beatrice Hall 1906 in ihrem Buch „The Friends of Voltaire“ diesem zuschrieb und was seitdem als dessen Geflügeltes Wort die Runde macht: „I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it“ - "Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen."

Religiöser Terrorismus / 22.01.2015

Ein Peter Winnemöller regt sich in einem Gastkommentar auf der Blockwartseite kath.net über eine Karikatur des BDKJ auf. Nun ist der Umgang mit Karikaturen, wie wir jüngst erlebt haben, für manche Gemüter äußerst heikel. Aber in diesem Falle ist es nun wirklich grotesk. Die Karikatur zeigt, wie drei Terroristen, die sich jeweils auf ihre spezifische Buchreligion beziehen, am Himmelstor anklopfen und von dem von ihnen angebeteten Gott des Paradieses verwiesen werden. Die Karikatur arbeitet sinnfällig mit dem absurden Kontrast von religiös motivierter Gewalt und angeblichen göttlichen Gratifikationen für derlei inhumane Aktionen. Es gibt an dieser Karikatur aber auch gar nichts falsch zu verstehen. Es sei denn, man will es unbedingt. Und Winnemöller möchte unbedingt. Er setzt ein mit der Anmerkung: „Bei aller Anerkennung für die Haltung jegliche terroristische Gewalt aus religiösen Gründen abzulehnen, stellt sich doch die Frage, wo es denn christlichen oder jüdischen Terrorismus gegeben haben soll.“

Ich habe mich gefragt, ob er das wirklich ernst meinen kann. Wie kann ein mit Vernunft und Sinnen begabter Mensch des 21. Jahrhunderts ernsthaft fragen, ob es christlichen oder jüdischen Terrorismus gegeben hat? Natürlich kann man rhetorisch so vorgehen, dass man sagt, Terror sei mit dem Christentum und dem Judentum unvereinbar und daher könne es per Definition keinen christlichen oder jüdischen Terrorismus geben, selbst wenn irgendwelche Juden oder Christen sich zur Legitimation ihrer Taten auf ihre jeweilige Religion beriefen. Das ist erkennbar Unsinn, weil es das zu Negierende bereits in der Definition voraussetzt. Nun gibt es de facto eine erschreckend lange Geschichte des christlichen und des jüdischen Terrorismus im 20. bzw. 21. Jahrhundert.

Bundesrichter Thomas Fischer hat gerade in seiner neuen Kolumne in der ZEIT auf die Organisation „Lord’s Resistance Army“ des Joseph Kony hingewiesen. Die von Kony angeführte Gruppe soll geschätzt 66.000 Kinder entführt und zu Soldaten gemacht haben und wird für die interne Vertreibung von mehr als zwei Millionen Menschen verantwortlich gemacht. Sein – vom Heiligen Geist inspiriertes! - Ziel ist es, ein theokratisches Herrschaftssystem in Uganda einzuführen, das auf den 10 Geboten basiert. Zu diesem christlichen Terrorismus gibt es Untersuchungen des Internationalen Strafgerichtshofes und eine Erklärung des UN-Sicherheitsrates.

Was nun den jüdischen Terrorismus betrifft, so ist es keinesfalls – wie Winnemöller insinuiert – gleich schon Antisemitismus, wenn man jüdischen Terrorismus als solchen benennt. „Irgun Tzwa’i Le’umi“ sollte jedem bekannt sein, der sich mit der Geschichte Israels beschäftigt hat und niemand wird abstreiten, dass es sich um eine terroristische Gruppe gehandelt hat. „Unter der Führung von Menachem Begin verübte die Irgun im Juli 1946 den Anschlag auf das King David Hotel in Jerusalem, das bis dahin vorwiegend Offiziere der britischen Mandatsmacht mit ihren Familien bewohnt hatten. Dem Anschlag fielen 91 Menschen zum Opfer“ (Wikipedia). Die Irgun war auch am Massaker von Deir Yasin beteiligt.

Es ist also lächerlich, wenn man so tut, als habe es im Judentum und Christentum nicht Gruppen gegeben, die unter legitimatorischer Bezugnahme auf die Heiligen Schriften Terrorakte ausgeübt haben.

Der Schnellkurs in Sachen Rechtfertigungslehre, den Winnemöller dann dem BDKJ verpassen möchte, geht vollständig an der Sache vorbei. Ziel der Karikatur war es ja, darzustellen, dass man sich das Heil nicht mit terroristischen Akten erkämpfen kann. Punktum. Das ist sicher wahr. Die individuelle Rechtfertigung des Sünders hat damit gar nichts zu tun und ist auch nicht Gegenstand der Karikatur.

Winnemöller schließt seinen Exkurs ins Reich der Phantasien mit dem Satz: „Nebenbei bemerkt sollte man sich ohnehin besser kein Bild von Gott machen. Das sagt auch der Dekalog, den wir mit den Juden gemeinsam haben. Hier zeigt sich nur zu deutlich, dass es besser wäre, sich daran zu halten.“ Ja, das sage ich mir als Reformierter auch immer, wenn ich die Sixtinische Kapelle besuche. Besser wäre es, sich kein Bild von Gott zu machen und schon gar nicht seinen entblößten Hintern zu zeigen. Nur zu peinlich, dass ausgerechnet in jener Kapelle, in der die Päpste gewählt werden, es von Gottesdarstellungen nur so wimmelt und Michelangelo nicht einmal vor dem Allerwertesten des Schöpfers haltgemacht hat. Dagegen ist die Karikatur des BDKJ wirklich harmlos. Aber vermutlich gilt hier das alte Sprichwort: Quod licet Iovi, non licet bovi – was den Päpsten erlaubt ist, ist dem BDKJ nicht erlaubt. Oder gut katholisch: „Die Kleinen henkt man, die Großen lässt man laufen.“

Vorsicht Gendersprache! / 27.01.2015

Eine gute Freundin wies mich darauf hin, dass in einem meiner jüngst erschienenen Texte ein zumindest auf den ersten Blick ungebührlicher Kotau vor der Gendersprache zu finden sei. Ich hätte von “Heiligen und Heiliginnen“ geschrieben – eine Kombination, die ihr so nicht bekannt sei. Wenn man eine weibliche Heilige meine, dann spreche man eben von der Heiligen. Ich erinnert mich zunächst nicht, Derartiges geschrieben zu haben und schlug nach. Und tatsächlich, da stand Schwarz auf Weiß: „...so werden wir nicht mehr meinen, die Malerei hätte ... nur die alten Götter, Mythen und Fabeln oder Madonnenbilder, Kreuzigungen, Martern, Päpste, Heilige und Heiliginnen darstellen sollen“. Glücklicherweise, so fuhr meine Gesprächspartnerin fort, habe sie dann festgestellt, dass diese Gendersprache gar nicht von mir sei, sondern von mir nur zitiert wurde. Tatsächlich ist das Zitat von Georg Wilhelm Friedrich Hegel aus seinen Vorlesungen zur Ästhetik 1835-38. Wie aber kommt Hegel dazu, ein Vertreter der Gendersprache avant la lettre zu sein? Ein sprachlicher Ausrutscher? Eine kleine Bosheit gegenüber der Katholischen Kirche? Mitnichten, wie ein Blick auf den Graphen der hier schon mehrfach genutzten Google-Buch-Suche zeigt.

Das Wort kommt bei den von Google erfassten Büchern zum ersten Mal in einem Buch von 1708(!) vor, das Martin von Cochem unter folgenden fantastischen Titel publizierte: „Neue Legend der Heiligen, Dergleichen niemal in Teutscher Sprach aussgangen: darinn neben denen Uralten und Alten vile Neue und Unbekante, in keinen Teutschen Legenden begriffene Leben der Heiligen und Heiliginnen, nach Ordnung des Calenders, außführlich und so anmuthig beschriben seynd.“ Martin von Cochem, so informiert mich die Wikipedia, „war ein katholischer Priester, Kapuziner, Volksmissionar, sowie Autor zahlreicher religiöser Bücher, die eine weltweite Verbreitung fanden und zum Teil noch bis in die 1950er Jahre nachgedruckt wurden.“ Also ist er ein unverdächtiger Zeuge dafür, dass die Gendersprache aus dem Herzen des Katholizismus stammt.

Selbiger Priester schreibt ähnliches auch in seinem Buch „Goldener Himmel-Schlüssel oder sehr kräftiges, nützliches und trostreiches Gebeth-Buch, zu Erlösung der lieben Seelen des Fegfeuers“: Oh ihr Heiligen und Heiliginnen Gottes! heißt es dort und wenig später: Alle Heilige und Heiliginnen Gottes! Bittet für uns. Sechs Mal wendet er diese Gendersprachform an, wohl um den Eindruck zu vermeiden, es habe nur männliche Heilige gegeben.

Und schließlich verweist eine Kirchenausmalung darauf, dass bereits im 18. Jahrhundert auch visuell gendergerechte Sprache im Katholizismus in Blüte stand. Sie wurde bei Renovierungsarbeiten in einer Kapelle in Feld bei Matrei entdeckt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/93/am490.htm
© Andreas Mertin, 2015