Februar 2015

Liebe Leserinnen und Leser,

viel ist geschehen seit dem Erscheinen des letzten Heftes: das Erstarken und die Selbstauflösung der PEGIDA-Bewegung, die die Frage verschärft stellen lässt, was denn eigentlich die kulturelle Identität des Abendlandes sein soll (wenn es denn überhaupt so etwas gibt). Der mörderische Anschlag auf die Redakteure der Satire-Zeitschrift CHARLIE HEBDO, der uns nach den Notwendigkeiten und Grenzen von Meinungsfreiheit, Solidarität und Religionsfreiheit fragen lässt. Beide Ereignisse stellen die Frage: In welcher Kultur wollen wir leben? Einer Kultur, die ausgrenzt und sich über diese Grenzziehungen definiert; oder in einer offenen Kultur, in der jeder sagen kann, was er denkt und sich dann in kontroverse Debatten über die Gültigkeit seiner Ansichten begibt.

Wer in der abendländischen Kultur auf den islamischen Anteil verzichten wollte, würde sich selbst unverantwortlich beschneiden. Ich empfehle all jenen, die die ‚Reinheit‘ einer angeblich jüdisch-christlichen Kultur gegenüber dem Islam wahren wollen, einfach einmal ein Überblicksbuch zur Kunst und Architektur des Islam in die Hand zu nehmen und es sorgfältig zu studieren [z.B. Hattstein, Markus (Hg.) (2011): Islam. Kunst und Architektur. Potsdam: Ullmann.] Ob man dann noch sagen kann: so etwas möchten wir nicht mit in unsere Kultur aufnehmen? Wer könnte so dumm sein?

An den Diskussionen über das Attentat von Paris ist vieles bemerkenswert: Die weltweite Solidarität mit den Opfern, der bekundete Abscheu darüber, kontroverse kulturelle Tatbestände mit der Waffe statt mit dem Wort oder dem Bild zu erörtern. Was aber auch bemerkenswert ist, wie schnell an den Rändern des Protestantismus und Katholizismus der Slogan aufkam: Ich bin nicht Charlie Hebdo. In einer bewussten Hermeneutik des Missverständnisses wurde so getan, als müsse, wer sich mit den Opfern solidarisiere, sich auch mit deren Ansichten identifizieren. Das muss man nicht. Es ging darum den Opfern ein ganz elementares Recht zuzubilligen, dass noch höher steht als das Recht auf Religion oder das Recht auf Meinungsfreiheit: das Recht auf ihr Leben. Das war es doch, was die Attentäter in Paris den Opfern bestritten haben. Sie sagten: weil ihr kritische Bilder zu Mohammed veröffentlicht habt, habt ihr eurer Recht auf Leben verloren. Weil dies in die Grundfeste jeglicher Zivilisation eingreift und diese zerstört, haben weltweit Menschen gesagt: Ich bin Charlie Hebdo und damit ausgedrückt: Wenn Ihr diese Redaktion mörderisch angreift, dann greift Ihr auch mich an. Die Katholiken und Protestanten, die diesen Schritt nicht mitgehen wollten, weil Charlie Hebdo eben auch kritische Satiren zum Christentum und zur verfassten Kirche publiziert haben und weiter publizieren werden, kündigen diese elementare menschliche Solidarität auf. Diese Reaktionen mancher Christen zeigen, wie dünn die Decke unserer Zivilisation ist. Man stelle sich vor, man geriete einmal in Abhängigkeit von solchen Menschen, die ihre Solidarität davon abhängig machen, ob man ihre Ansichten teilt. Ein grauenhafter Gedanke. Aber schon die Forderung, man solle bevorzugt Christen aus Syrien oder dem Irak retten, geht in diese Richtung.

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Das aktuelle Heft des Magazins sollte unter der Überschrift stehen: Protestantismus und Kultur / Themenjahr Bild und Bibel. Im Verlauf der Arbeit an dem Heft fiel uns auf, dass dies nur ein weiterer Beitrag zur fortschreitenden Selbstghettoisierung der Kirche sein würde. Das Themenjahr „Bild und Bibel“ ist so rückwärtsgewandt, dass selbst die Kritik daran noch den Eindruck erweckt, das Ganze sei irgendwie diskutabel. Das ist es nicht. Dass beinahe 200 Jahre nach dem Ende der Gottesgeschichte im Bild (Wolfgang Schöne) immer noch so getan wird, als könne man biblische Geschichte einfach so mit Kunstwerken illustrieren, zeigt, dass die Evangelische Kirche nicht gewillt ist, aus ihrer eigenen Geschichte zu lernen. Was immer man zur Zeitgeist-Orien­tie­rung des Protestantismus sagen mag, aber geistesgegenwärtig ist er im Augenblick nicht.

Wir haben uns deshalb entschlossen, das Heft schlicht unter den Titel Kultur zu stellen. Darum geht es in den aktuellen Debatten und hier ist jede einzelne Analyse und Auseinandersetzung mit kulturellen Artefakten wertvoll.  

Unter VIEW finden Sie daher nur zwei kurze Notizen zu den unter „Bild und Bibel“ laufenden Aktivitäten der EKD aus der Feder von Andreas Mertin. Ansonsten gibt es eine Fülle von Kulturanalysen. Hans J. Wulff beschäftigt sich in einem großen Überblick mit dem Thema Alter, Sterben und Tod im Film. Wolfgang Vögele erörtert Religion und Literatur bei Goethe, Hebel und Wagner und schreibt über „Über Väter und das Vater-Buch von Botho Strauß“. Christian Göbel beschäftigt sich mit der Bildung in F.C. Delius' Erzählung "Bildnis der Mutter als junger Frau". Hans-Jürgen Benedict kommentiert Hamburgs Katastrophen und ihre theologische Deutung.

Unsere Rubrik RE-VIEW enthält einen Kommentar von Karin Wendt zur Kunst von Mike Nelson und eine Rezension von Hans-Jürgen Benedict über ein Buch zur theologischen Rezeption Dostojewskijs.

Unter POST finden Sie wie gewohnt die Notizen zu Themen der letzten zwei Monate und eine Glosse von Andreas Mertin.


Wir wünschen eine angenehme und erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Jörg Herrmann und Horst Schwebel