Sperrgebiet

Zur Kunst von Mike Nelson

Karin Wendt

Betritt man derzeit die Kunsthalle Münster im obersten Stockwerk eines ehemaligen Hafenspeichers, ist man von ihrer Mitte weitflächig ausgesperrt: Ein riesiges Gerüst aus Stahlbetonmatten, so geflochten, dass eine optisch offene, aber nicht begehbare Struktur entstanden ist, aufgebaut von innen nach außen, in ihrem Umriss unregelmäßig wie eine Insel und damit nach allen Seiten grundsätzlich erweiterbar, füllt nahezu den ganzen Raum. Für die Besucher bleibt ein Umgang, an manchen Stellen so schmal, dass man zur Seite treten muss, um aneinander vorbeizukommen. Zahlreiche Abgüsse von schrumpfartig entstellten Köpfen hängen kopfüber im Stahlgerüst und liegen verstreut am Boden. Im Drahtkörper zurückgelassen findet sich das Werkzeug: eine Betonmischmaschine, ein paar Eimer und offene Tüten mit den Resten des Kalkgemischs. Auf einer Einschalbank sieht man nun auch die Modelle für die Betonabgüsse. Es sind Gummipuppenmasken von bekannten Figuren aus Pop-Kultur und Politik, wie man sie in Läden für Karnevalsartikel kaufen kann.[1]

Blick zurück

Was sehen wir hier? Eine verlassene Baustelle, ein unfertiges Baugerüst, eine ausrangierte Bühne? Der Künstler hat offensichtlich eine Art Werkstatt geschaffen – ein Arrangement, das sich einer eindeutigen Identifizierung der damit verbundenen Tätigkeit und einer zeitlichen Einordnung ihres Stadiums jedoch entzieht. Es ist eine Arbeitssituation, die nach den Maßstäben der Arbeit nicht funktioniert: ein Gerüst, das keinen (Innen-)Raum schafft, sondern Raum durchkreuzt; eine Struktur, die, indem sie nach außen wächst, hinter sich zusperrt; eine Skulptur, um die der Betrachter herumläuft wie um einen Käfig, die ihn aus dem Raum herausdrängt, indem sie so viel Platz beansprucht. Auch der Werkstoff wurde nicht wie im Stahlbetonbau verwendet, um die Matten zu verschalen, so dass geschlossene Platten entstanden wären, aus denen man Fundament, Wände und Decken für ein Gebäude formen könnte. Schließlich betonierte Puppenköpfe, die kaum ein Spiel erlauben, und auch die Gummimodelle selbst sind nicht mehr für eine Kostümierung zu gebrauchen. (Was) wurde hier gespielt?

Auftrag und Ausführungen

Der Studio apparatus for Kunsthalle Münster des Londoner Künstlers Mike Nelson (*1967) gehört zu einer Serie von Atelier-Installationen, die er seit 1998 in unterschiedlichen Ausstellungsformaten realisiert hat. Für das lateinische Substantiv apparatus findet man die Übersetzungen „Einrichtung“ und „Vorrichtung“, wenn es sich um Werkzeuge handelt, aber auch „Vorbereitung“ und „Beschaffung“ im Vorfeld eines Kriegs und schließlich „Pracht“ und „Prunk“, wenn es um die Ausschmückung einer Rede geht. Impuls für den ersten Studio apparatus im Camden Arts Centre in London war der Auftrag gewesen, (sich) im Rahmen eines Künstlerstipendiums (erstmal) ein  Studio zu bauen – ein Griff nach Intimität gepaart mit dem Zynismus von Geldgebern. Nelsons ironische und zugleich todernste Antwort war ein (disfunktionaler) Apparat für ein Atelier, das kein komfortabler Rückzugsort werden würde, kein persönlicher Ort der Kreativität, keine wertvolle Fundgrube künstlerischer Inspiration, sondern ein scheinbar eingestürzter Raum, voll von zivilisatorischen Bruchstücken. Der Weg hinein war durch einen Berg Schutt versperrt und mittig ragten weithin sichtbar zwei hohe Leitern heraus – das Szenario eines gescheiterten Projekts, eines verlorenen Feldzugs, einer nicht verständlichen Rede: „Ein enger Korridor führte zu einer imaginär aufgeladenen Bühne, ausgestattet mit bizarren Requisiten: zerstückelte Stofftiere, Motorradhelme, Schafsschädel, Comichefte und skurrile Formationen aus Kaninchendraht.“ (Ausstellungstext)

Anders als diese sehr dichte und materialbeladene erste Studio-Situation ist die gegenwärtige Installation in Münster weniger erzählerisch: Sie zeigt nurmehr ein zugiges Gerüst, das Raum sperrt, indem es ihn weiträumig durchmisst. In diesem nach außen gewendeten Ideenraum hängen mit brutaler Geste in Beton gegossen unsere Masken von Berühmtheit und Popularität: deformierte Verpuppungen, Totenköpfe als Überbleibsel eines von Anfang an sinnlosen Spiels.

Insgesamt kann man in den verschiedenen Variationen des Werkstattthemas, die Nelson über einen Zeitraum von gut fünfzehn Jahren entworfen hat, eine zunehmende Reduktion der Anlage und so eine fortschreitende Abstraktion erkennen. War die erste Inszenierung in London eine eingestürzte, zugemüllte Bühne, auf die man über einen Korridor gelockt wurde, realisierte Nelson sieben Jahre später im MAMCO in Genf eine Art Hügelgrab, in das man hinabsteigen konnte, eine quasi natürliche Form in einem musealen Umfeld. Gegenwärtig zeigt er parallel zur Ausstellung in Münster einen weiteren Studio apparatus im Palais de Tokyo in Paris. Dort ist es ein Betonbau in der Form einer modernistischen Grabkapelle, den man von verschiedenen Seiten durchschreiten kann. Das Stahlgerüst wurde dabei über die Architektur hinaus weitergeführt, so dass deren Echo weit in die Höhe der überglasten Ausstellungshalle reicht. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die winklige Grundform des Baukörpers, der aussieht wie das freigestellte Scharnier einer weit größeren, aber unsichtbaren Phantomarchitektur.

Obwohl die Pariser Arbeit einige Wochen früher fertiggestellt wurde, ist sie den Kuratoren Kirkpatrick und Lütkemeyer zufolge die Weiterführung der vergleichsweise provisorischen Arbeit in Münster: „Beide liefern einen Raum im Raum. Während die streng symmetrische, begehbare Arbeit in Paris mit ihren betonverschalten kubischen Wänden eher monumental wirkt und einem modernistischen Kapellenbau mit zentralem Tabernakel ähnelt, erscheint die umschreitbare, aus genormten Betonstahlmatten errichtete Variante in Münster wie eine provisorische Skulptur oder ein absurd käfigartiges Environment, mit der Silhouette einer Insel (…).“ (Ausstellungstext)

Im Vergleich zu dem sorgfältig gebauten Atelier in Paris kann der Entwurf für die Kunsthalle Münster in der Tat als Vorstufe betrachtet werden. Meines Erachtens er aber doch genauso eine folgerichtige Weiterentwicklung des Themas. Denn auch wenn Nelson, indem er hier mit den Puppenköpfen die erzählerische Geste aus der Londoner Variante wiederaufgreift, den Brutalismus der Architektur ironisch bricht, ist es die radikalere und klaustrophischere Arbeit, da sie uns als Betrachter erstmals kategorisch aussperrt und gar keine mehr Begehung erlaubt, und dies, ohne unseren Blick durch Mauern oder Wände zu blockieren. Wenn Nelson die Verschalungen weglässt und allein das Gerüst zeigt, legt er den eigentlichen Mechanismus von Ein- und Ausschluss offen. Während es in allen vorausgegangenen Varianten also immer ein bestimmter Raum im Raum war, der die Idee der Verschachtelung illustriert, zeigt er in Münster erstmals die Konkretion des räumlichen Prinzips selbst.

Atelierreflexionen

Künstlerateliers gelten als Orte der Einbildungskraft und Kreativität, Magneten von Sammelleidenschaft und Kombinationslust, Keimzellen von Studium und Forschung, aber auch als Freiräume der andauernden (Selbst)-Reflexion in einer zunehmend erforschten und gleichwohl rätselhaft bleibenden Welt. Im englischen Begriff des „studio“ für „Atelier“ klingen zwei Raumtypen nach: auf der einen Seite der Raum des Studiums, der sich von der mönchischen Klause, dem klösterlichen Skriptorium über das Fürstenkabinett der Renaissance bis hin zum modernen Sammlungs- und Ausstellungsraum entwickelt hat[2], und auf der anderen Seite die (künstlerische) Werkstatt, das eigentliche Atelier. Nelson greift die vielfältigen Erwartungen der mit diesen Raumtypen verbundenen Haltungen auf, um sie ins Leere laufen zu lassen: die persönliche Sammlung ist ein Horrorkabinett, der halböffentliche Schauraum eine unwegsame Gefahrenzone. Die künstlerische Tätigkeit ist Aufbau und Zerstörung des Bekannten gleichermaßen, der Ausstellungsraum ein Künstler-Grab oder eine sich selbst durchkreuzende Struktur.

Mit dem Blick in ein Atelier erhält man auch einen Einblick in die Persönlichkeit des Künstlers. Die künstlerische Darstellung des eigenen Ateliers ist daher auch ein Selbstporträt. Ein Beispiel für das Ineinander von Dokumentation und Zeichenhaftigkeit ist das berühmte Gemälde von Gustave Courbet, mit dem er zu Beginn der Moderne sein Atelier als Beziehungsraum und so als Gleichnis seiner (öffentlichen) Innerlichkeit porträtierte und erläuternd betitelte: „Das Atelier des Künstlers. Eine wirkliche Allegorie einer siebenjährigen Phase in meinem künstlerischen (und moralischen) Leben“ (1855). Anders als Courbet zeigt uns Nelson keinen Raum mehr, über den er sich seiner Welt vergewissert, sondern nurmehr wechselnde Vorrrichtungen zu seiner Realisierung. Der Künstler erscheint dabei gänzlich unbehaust, zurückgeworfen auf den eigenen schonungslosen Blick, mit dem er die Dinge immer wieder vom Terror der Erinnerung freilegen muss.

Nelsons Installationen haben den Charakter von Stillleben. So denke ich bei der Betrachtung der Masken im Studio apparatus for Kunsthalle Münster irgendwann auch an James Ensors Stilleben im Atelier (1889) und finde in der folgenden Beschreibung des Gemäldes wesentliche Momente der Kunst Nelsons wieder: „Das Arrangement aus Malgerät, Gliederpuppe, Totenkopf und Masken ist […] aufzufassen als dämonische Allegorie der von Gesichten heimgesuchten Kunst [...], wobei die toten Dinge eine eigentümlich beunruhigende Lebendigkeit angenommen haben. Die Grenze zwischen Realität und Halluzination wird bewusst verwischt. Die lichten, kalten Farben haben etwas faulig Schimmerndes. Es herrscht eine Stimmung von angespannter Nervosität, die sich nicht zuletzt in den dichten, kurzen, vibrierenden Pinselstrichen, welche die Leinwand wie ein Gewebe überspinnen, niederschlägt. Der Bildrand überschneidet die herandringenden Formen, so dass man jenseits der Bildgrenzen neue unheimliche Erscheinungen erwartet.“ [Wikipedia: J. Ensor]

... und Inselreferenzen

Jede der fünf Installationen hat den gemeinsamen Titel „Studio apparatus“ und endet identisch mit den Worten „mysterious island“. Dazwischengeschoben ist jeweils eine variierende stichwortartige Erläuterung im Stil einer barocken Titelei mit einem ausführlichen Referenztext und einem (alternativen) Referenzbegriff. In Münster sieht das dann so aus:

Studio apparatus for Kunsthalle Münster – a thematic instalment observing the calendrical celebration of its inception: Introduction; towards al linear understanding of notoriety, power, and their interconnectdness; futurobjecs (misspelt); mysterious island*

*see introduction
or
Barothic shift

Studio apparatus for Kunsthalle Münster – eine thematische Fortsetzung, die kalendarische Feier ihres Beginns beobachtend: Einführung zu einem linearen Verstehen von Allbekanntem / schlechtem Ruf und Macht und ihrer Vernetzung; futurische Objekte (falsch buchstabiert); geheimnisvolle Insel*

* siehe Einführung
oder
Barockige Verschiebung
[dt. v. Verf.]

Der Apparat für ein Studio ist also eine thematische Teilinstallation unter Beobachtung ihrer eigenen Ausstellungsgeschichte, indem sie sich auf vergangene Installationen zum Thema bezieht. Bei deren Lektüre haben sich Fehler, Hinweise auf Fehlstellen, die man vielleicht erst erkennt, wenn es die nachfolgende Arbeit gibt? Bei den Wörtern „interconnectedness“ und „futureobjects“ fehlen auf jeden Fall zweimal die Buchstaben „e“ und einmal das „t“, sie sind also falsch buchstabiert. Aber „barothic shift“ - ?

Das Ganze erschließt sich mir zunächst fast gar nicht, weckt aber soweit meine (intellektuelle) Neugier, dass ich dem Hinweis auf die Einführung folge. Dort lese ich, dass sich Nelson mit Jorge Luis Borges beschäftigt hat, hier vor allem mit dessen Historia Universal De La Infamia (1935), einer fiktiven Geschichte realer Kriminalfälle, die Borges in einer Neuedition (1954) als barocke Kunst der Selbstparodie charakterisiert, indem er von seiner schriftstellerischen Arbeit als „unverantwortlichem Sport eines schüchternen Mannes“ spricht, der aus der Unfähigkeit heraus, eigene Kurzgeschichten zu schreiben, die Geschichten anderer so lange umschreibt, bis – außer viel Lärm um nichts – nichts bleibt. Die eigentlich Ironie liegt natürlich darin, dass Literatur genau so entsteht: indem Reales ästhetisch inkorporiert wird.[3]

Nelsons interessiert also die Art der 'barocken' Verschiebung, der „barothic shift“, der sich aus dem Gestus der Selbstparodie ergibt. Zentral auslegend ist demnach das Substantiv „shift“. Dessen Bedeutungsradius reicht von „Schicht, Veränderung, Verschiebung, Wechsel, Verlagerung, Verlegung, Umschaltung“ bis hin zu „Ausweg [aus einer Situation]“, „Kniff“ und schließlich dem adjektivischen „make-shift“, was so viel heißt wie „provisorisch“. Das Wort „barothic“ gibt es im Englischen jedoch nicht, sondern nur das Adjektiv „baroque“. Mit der Endung „-thic“ finde ich lediglich Adjektive wie „gothic, ethic, thick, pathic, mythic, lithic“.  Liegt hier vielleicht ein Link für Nelsons Interesse an den Forschungen futurolinguistischer Theorie, auf die er ebenfalls in seiner Einführung verweist? Denn die Wortschöpfung „barothic“ scheint gleichsam alle diese Eigenschaften mit aufzurufen und so eine neue semantische Insel zu bilden.

Und die „mysterious island“? Auch dieser Begriff bildet zunächst vor allem sprachliche Bezüge aus: Inspiriert habe den Künstler Jules Vernes Roman „School for Crusoes“ (1882), ein ebenfalls parodistischer Roman, in dem Verne sein Genre der geheimnisvollen Insel als Modell des Scheiterns, besser als Schule des Scheiterns erläutert, indem er die Metapher vom Schiffbruch, unsere Vorstellung von Zivilisation und Zukunft und unsere Rede vom Spiel, das Ernst wird, reflektiert. Lässt sich dieser Hinweis so deuten, dass das Bild der Insel beide Aspekte auf „geheimnisvolle“ Weise zusammenbringt: als Ort des (zivilisatorischen) Scheiterns und zugleich als ein Ort des Beginns der eigenen Zivilisierung bzw. einer neuen Zivilisation? Nelsons Installationen kreisen um diese beiden Aspekte, indem sie Orte schaffen, die offen lassen, ob sie verlassen und aufgegeben wurden oder doch noch Orte im Aufbau sind, Orte, an denen etwas im Entstehen begriffen ist. Folgerichtig spricht Nelson daher auch von phantomaren Räumen. Nelsons ästhetisches Denken lockt einen auf den Weg der Nachforschung hinein in das unendliche Labyrinth der Bedeutungen, einen Ausweg daraus – mithin ein lineares Verstehen – gibt es gleichwohl nicht. Was die Einführung zu versprechen suggeriert, nämlich ein Verstehen des Kunstwerks, wenn man nur alle Quellen benannt hat, ist trügerisch. Tatsächlich ergibt sich so nur „Allbekanntes“ und vielleicht ein „schlechter Ruf“; das Ästhetische selbst bleibt eine „geheimnisvolle Insel“. Das Shifting zwischen bildender Kunst und Literatur-Theorie bildet eine parallele Ebene der Wahrnehmung seiner Kunstwerke aus. Diese Art der hybriden Fiktionalierung ist charakteristisch für die post-moderne Art der Installationen des ausgehenden 20. und 21. Jahrhunderts und unterscheidet sie von denen der Zweiten Moderne. Ihr expliziter Rückgriff auf andere Medien und deren Erzählstränge lässt die Arbeiten einerseits verspielter, andererseits komplexer und abstrakter erscheinen und spiegelt darin nicht zuletzt die neue virtuelle Qualität unserer Erfahrungswelten.

Die Insel und ihr Gegenstück die Höhle sind zentrale Topoi der Kulturgeschichte, die in der zeitgenössischen Kunst der vergangenen zehn Jahre vermehrt aufgegriffen werden.[4] Sie werden medial reflektiert, explizit etwa in den Arbeiten der deutschen Videokünstlerin Julia Oschatz, aber auch thematisch indirekt wie im Werk der israelischen Künstlerin Sigalit Landau, in dem Wasser und Strände den Hintergrund komplexer Selbsterforschungen bilden, oder in einer einzelnen Arbeit, „Carbon“, des britischen Künstlers Simon Starling, die von der Menschheit als einer gestrandeten Spezies erzählt. Es sind Künstlern, die Pathologen vergleichbar die innere Logik unserer Kultur sezieren. Ihnen gemeinsam ist die große räumliche und zeitliche Perspektive, die sie eröffnen, ihr virtuoses Spiel mit Rückblenden und Vorausschauen aus Selbstinszenierung und -maskierung und der permanente Sprung der Ebenen, seit Ende der 90er Jahre oft in Verbindung mit einem parodisierenden Gestus wie sehr prominent bei Oschatz. Als Regisseure und Bühnenarchitekten spielen sie mit unserer ausgreifenden Fähigkeit und unserem Verlangen, Fragmentarisches formal, thematisch oder erzählerisch zu ergänzen bzw. zu vollenden und dabei immer wieder in den Gedächtnisraum der Kunstgeschichte einzutauchen. Nelsons Installationen rufen Kunstwerke aus so unterschiedlichen Sparten wie der Videokunst oder dem Environment auf, um sie unter veränderten Vorzeichen miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Perspektive der engen Flucht, die in vielen seiner Arbeiten wiederkehrt, erinnert mich etwa an den Live Taped Video Corridor (1970) von Bruce Nauman, die Idee selbst aber auch an die Pionierarbeit Permanent Creation Tool Shed (1969) von Robert Filliou.[5] Der zweite Studio apparatus stellt sich dagegen in die Tradition der Land Art und verweist auf frühe Arbeiten wie Double Negative (1969) von Michael Heizer. Den Heroismus der Zweiten Moderne bricht Nelson: durch die Verwendung von bizarren Gegenständen und Masken wie Oschatz, durch den Verzicht auf klassische Formen und eine ostentative Schönheit der Anlage wie Starling und Landau oder durch ruinöse Inszenierungen wie Oschatz und Starling. So wird die künstlerische Arbeit zu einer fortwährenden Anleitung zur künstlerischen Selbstkritik.

Raumanzeiger

Nelsons Arbeiten legen Spuren, als sei jemand dagewesen und wieder gegangen, geflohen oder desertiert: So in der eindrucksvollen Arbeit To the Memory of HP Lovecraft (1999), einem leeren Ausstellungsraum mit regelmäßigen Einschusslöchern, oder in Amnesiac Shrine, einem hochgradig verstörenden räumlichen Psychogramm (2006), oder in Impostor I, einer Bauruine, die sich als komplexes Labyrinth entpuppt, gezeigt im britischen Pavillon auf der Venedig Biennale 2011. Es sind immer atmosphärisch aufgeladene Installationen, zugleich „andeutend und auslassend“, die einen unmerklich in unendlich viele Geschichten und Fragestellungen verwickeln, wie Charlotte Higgins schreibt: „His immersive installations – which might remind one of the work of such theatremakers as Punchdrunk – are always intriguing, always inclined to make you not only feel an atmosphere (often a rather sinister one) but also work away at the intellect. They are both allusive and elusive; and absolutely meticulous in their detailing. At their best they can work like little narrative tales, with the story all hinted at. At their worst, they are atmospheric set dressing – but always enjoyable."[6]

Dass der Studio apparatus for Kunsthalle Münster in der formalen Ausführung so radikal ist wie in keiner der vorangegangenen Variationen des Themas, ist wohl zunächst unmittelbarer Reflex auf die industrielle Anmutung der Speicherarchitektur mit ihrem freigelegten Ständerwerk, in zweiter Linie vielleicht auch ein kritischer Link auf den seit Jahren andauernden und nur bedingt gelungenen Umbau des Hafenareals hin zu einem kulturellen  Zentrum. Als Nelsons erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland könnte uns sein Entwurf aber noch einmal mehr Grundsätzliches zu denken geben, darüber, was es heißt, wenn persönlicher oder gesellschaftlicher Spielraum zum Sperrgebiet erklärt wird. Vieles nehmen wir erst wahr, wenn es gesperrt ist, wenn es nicht mehr zugänglich ist – verschlossen, vermauert, vermint, verseucht. Und indem wir es dann wahrnehmen, verweigern wir zugleich seine Existenz. Angesichts des weltweit zunehmend enger werdenden Raums freier (künstlerischer) Äußerung ist die Kunst von Mike Nelson hier ein Frühwarnsystem.

Anmerkungen

1    Mike Nelson, Kunsthalle Münster, http://www.muenster.de/stadt/kunsthalle/ausstellungen-aktuell.html, 1. November 2014 – 22. Februar 2015.

2    Isabella d'Este und Margarete von Österreich „widmeten als Erste dem Ausstellen einer zu dieser Absicht konzipierten Sammlung einen eigenen Raumkomplex. Ihre studioli sind mit ihrer kongenialen Umsetzung unterschiedlicher Elemente des klösterlichen scriptorium und der mittelalterlichen Schatzkammer sowie als Antizipation der Galerien und der gelehrten Sammlungen des 17. Jahrhunderts wegweisende Momente der Entwicklungslinie des modernen Sammlungsraumes gewesen. […] Die Räume […] waren aus der zeremoniellen Raumfolge ausgegliedert, aber für ein Publikum inszeniert […].“ (Tiziana Romelli, Bewegendes Sammeln. Das studiolo von Isabella d'Este und das petit cabinet von Margarete von Österreich im bildungstheoretischen Vergleich, Diss. Berlin 2008, S. 4.)

3    So formulierte es Andreas Mertin in Bezug auf die Kunst der Atlas Group in einer Besprechung ihres Beitrags zur documenta11: „Die von Walid Ra'ad gegründete Stiftung 'Atlas Group' zur Erforschung libanesischer Gegenwartsgeschichte jongliert mit Fiktionalität und Realität, deren jeweilige Schrecken ununterscheidbar werden. Der Kurzführer durch die documenta11 verweist in diesem Kontext zu Recht auf die imaginären Enzyklopädien eines Jorge Luis Borges. Populärkulturell könnte man an diverse Fernsehserien denken, die sich der scheinbaren Aufklärung mysteriöser Ereignisse gewidmet haben. Das Faszinierende der Arbeiten der Atlas Group ist es, dass Fiktionalität eine Gedächtnisspur zu legen vermag, die auch noch das reale Geschehen im Libanon inkorporiert.“ (https://www.theomag.de/18/werke/d11_12.htm)

4    Von Höhlen und Inseln, Tà Katoptrizómena. Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik, Heft 73, 2011 (https://www.theomag.de/73/)

5    Kunst des 20. Jahrhunderts, hg. v. I. F. Walther, Köln 2010, Bd. 2, S. 598 und S. 589.

6    Charlotte Higgins: Mike Nelson to represent Britain at Venice Biennale 2011, The Guardian 30.03.2010.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/93/kw69.htm
© Karin Wendt, 2015