Verdichteter Glaube

Religion und Literatur bei Goethe, Hebel und Wagner

Wolfgang Vögele

Für Lothar Steiger zum 80.Geburtstag am 27.Januar 2015

1. Leonberg oder Der Weg von der Religion zur Literatur

In Württemberg, genauer in Leonberg, benötigt ein Fußgänger für einen typischen Weg von der Religion zur Literatur ungefähr neunzig Minuten. Als Autofahrer benötigt der Literaturliebhaber auf besseren Straßen eine knappe Viertelstunde. Der Fußweg von der Religion zur Literatur führt vom Pfarrhaus in Gebersheim im Norden von Leonberg an der Stadt vorbei zum eingemeindeten Warmbronn im Süden.

In Gebersheim amtierte der Dichter und Theologe Albrecht Goes von 1938 bis 1953 mit einer Kriegsunterbrechung als Pfarrer und Seelsorger. Über den Schriftsteller Goes, seinen Einsatz für jüdische Mitbürger in der Zeit des Nationalsozialismus, seinen Briefwechsel mit Martin Buber, das umfangreiche lyrische Werk und die Predigten, über seine Aktivitäten in der Friedensbewegung wäre vieles zu sagen. Aber in diesem Beitrag gewinnt der Pfarrer und Lyriker nur deshalb Bedeutung, weil bei ihm als einzigem die drei im Untertitel genannten Dichter Goethe, Hebel und Wagner in einem Atemzug auftauchen. In einem Rückblick auf die Zeit des Weltkriegs bemerkte Goes, der auch ein großer Leser war, er habe Goethe, Hebel und Wagner, diese drei neben Uhland und Mörike stets zu den „guten Gefährten“[1] der Kriegsjahre gezählt.  Es ist anzunehmen, dass Goes damals Sprache, Gedichte und Verse mehr interessiert haben als das Verhältnis der drei Autoren zur Religion.

Letzterem und der Frage, wie sie das in ihrer Dichtung verarbeitet haben, will ich mich in diesem Vortrag widmen. Und in die kurze Strecke von Gebersheim nach Warmbronn füge ich darum einen Umweg über Weimar und Karlsruhe ein, um das literarisch-theologische Panorama zu erweitern.

2. Literarische und theologische Reisevorbereitungen

Am Anfang dieses Weges findet sich ein Verkehrsschild, ein ausdrücklicher Warnhinweis. Denn die Frage nach der Bearbeitung religiöser und theologischer Motive erweist sich bei allen drei Autoren als ein sehr weites Feld, das für jeden einzelnen nicht nur einen Aufsatz oder Vortrag, sondern eine Monographie wert wäre. Deswegen bleibt die Darstellung für Goethe, Hebel und Wagner skizzenhaft und holzschnittartig. Zum zweiten haben, mindestens bei Goethe und Hebel, schon andere das weite Feld der Religion umfassend bearbeitet. Trotzdem reizt an solch einer  Skizze der Vergleich. Blickt man auf das umfangreiche Werk der drei Dichter, so sticht die Lyrik bei Goethe als wichtiges, bei Hebel als prominentes, bei Wagner als herausragendes literarisches Betätigungsfeld hervor. Für alle drei geht die Frage nach der Religion nicht in der Zugehörigkeit zu einer institutionell verfassten religiösen Körperschaft – Goethe sprach von der „positiven“ Religion – auf. Die berühmte Gretchenfrage bleibt sozusagen unbeantwortet. Stattdessen setzten sie sich mit Religion theologisch und philosophisch auseinander, auch wenn solche argumentierende Reflexion nicht in den Vordergrund des literarischen Schaffens tritt. Alle drei genannten Dichter waren getauft und Protestanten. Goethe konnte zwar über die evangelische Kirche schimpfen, aber es war ihm sehr wichtig, dass sein Sohn August getauft wurde. Hebel war examinierter Theologe; er wäre gern Gemeindepfarrer geworden, aber stattdessen wurde er Studienrat und dann Prälat. Als solcher war er nach dem Großherzog, der das Bischofsamt wahrnahm, der oberste geistliche Repräsentant der Landeskirche. Auch Christian Wagner war getauft, aber er gewann in seiner Lyrik eine religiöse Einstellung und Weite, die über die Grenzen landeskirchlichen Christentums hinausreichte. Im Katechismus des „Neuen Glaubens“ stellte er dem Katechismus, den zu seinen Lebenszeiten die Warmbronner Konfirmanden von ihrem Pfarrer lernten, einen prononcierten Gegenentwurf an die Seite.

Alle drei Dichter verengten also ihre Auseinandersetzung mit Religion nicht auf die - modern gesprochen - Kirchenmitgliedschaft, sondern sie stellten theologische Fragen, um die weite Landschaft von Glauben und Gott zu vermessen. Sie spürten dem Sinn von Welt und Schöpfung, der Ewigkeit, den Fragen nach Sterben, Tod und unsterblicher Seele nach. Ihre Antworten gaben sie nicht in Form gelehrter Abhandlungen oder in „theologische[r] Systemsprache“ (Navid Kermani), sondern in Form von Gedichten, Aphorismen, Anekdoten, Sentenzen, Erzählungen. Goethe, Hebel und Wagner setzten sich mit der Religionsfrage literarisch auseinander.

Drei Themen sollen in den Mittelpunkt dieser Versuchsanordnung gestellt werden: Natur und Schöpfung, Lebenskunst und Alltagsethik sowie die Philosophie der Kunst.

  • Alle drei Autoren stellen die alte ontologische Frage: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wie und warum ist diese Welt geschaffen worden? Das zielt nicht auf die Frage, ob die Bibel mit ihrem Schöpfungsbericht in der Genesis recht hatte, sondern alle drei Autoren prägt neben dem ontologischen ein phänomenologisches Interesse an der wunderbaren Vielfalt der Schöpfung in Flora und Fauna, von den Lilien und Tulpen im Garten bis zu den Sternen am Nachthimmel. Das Staunen darüber teilten Goethe, Hebel und Wagner, aber ihre – nennen wir es – Schöpfungsfrömmigkeit prägte sich ganz verschieden aus.
  • Weder Goethe noch Hebel oder Wagner hatten ein Interesse an der systematischen Entfaltung ihrer theologischen oder religionsphilosophischen Gedanken. Sie errichteten kein Lehrgebäude und sie schrieben kein Lehrbuch. Das Religionsthema verorteten sie im Kontext dessen, was in der Philosophie gegenwärtig Lebenskunst oder Alltagsethik[2] genannt wird. Es geht um die Gestalt des Glaubens im Alltagsleben, um Vertrauen, Hoffnung und Gemeinschaft vor Ort, in den Gewohnheiten täglichen Lebens. Das schließt ein das Aushalten von Widersprüchen. Bei allen dreien war Alltag auf eine je verschiedene Weise religiös magnetisiert.
  • Goethe, Hebel und Wagner interessierten sich brennend dafür, wie ihre Dichtung ins Leben und seinen Alltag und wie das Leben in die Dichtung zurückwirkt. Das literarische Werk ist nicht vom Alltagsleben getrennt oder abgehoben, sondern es findet ihren Sinn darin, gerade in die alltägliche Erfahrung hineinzuführen, sie zu verwandeln, zu intensivieren und zu konzentrieren. Ein Gedicht, eine Anekdote, ein Aphorismus verarbeiten eine Lebens- oder Alltagserfahrung, deuten und verwandeln sie und wirken dann wieder auf diesen Alltag zurück. Dieser Zirkel wechselseitiger Befruchtung prägt alle drei Autoren.

Diesen gemeinsamen Themen entsprechen nun Unterschiede in der individuellen Perspektive, die ich mir in den drei Orten Weimar, Karlsruhe und Warmbronn anschauen will.

3. Weimar oder Die vielen Gestalten der Dichterreligion

Die Frage nach der Lebenskunst hat in den letzten beiden Jahrzehnten eine gewisse Aufmerksamkeit gefunden. Die antike Frage nach dem guten Leben des Menschen wurde neu gestellt, modernen Lebensbedingungen angepasst. In ihrer trivialen Form führte das zu den Bestsellern der Ratgeberliteratur, die aber hier nicht betrachtet werden sollen. In ihrer anspruchsvollen Form führt das zu Literatur. Jüngst erst hat Rüdiger Safranski der Lebenskunst Goethes, die für die enge Verknüpfung von Leben und Werk sorgt, besondere Aufmerksamkeit zugewandt[3].

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) reflektierte als Schriftsteller, als Reisender und Naturbeobachter, als hoher Verwaltungsbeamter und Impresario sein Leben, seine Erfahrungen, seine Wahrnehmungen, seine Erfolge und Niederlagen. Ihn beschäftigten Fragen der Lebensgestaltung, der Ethik und Ästhetik. Im Mittelpunkt dieser ästhetischen Lebenskunst Goethes steht der Vorgang des Atmens, das wechselseitige, sich wiederholende Aufnehmen und Abgeben, das Miteinander und Gegeneinander von Wahrnehmung und Kreativität. Jede Form der Alltagserfahrung, aber auch der Erfahrung des Ungewöhnlichen wurde für Goethe zur Quelle und Inspiration von literarischen Werken. Literatur und Leben befruchten sich gegenseitig in einem Prozess des Ein- und Ausatmens. Die Literatur, die dabei in reichem Maße entstand, setzt sich mit Religion auseinander und trägt selbst Züge des Religiösen. Goethes Lebenskunst ist wesentlich Religionsphilosophie.

Der Schriftsteller Navid Kermani hat in einem schönen Aufsatz[4] gezeigt, dass das Bild vom Ein- und Ausatmen, vom Aufnehmen und Abgeben auch Goethes Religionsverständnis bestimmt. Und Kermani sieht hier zu Recht - man denke an die Gedichtsammlung des West-Östlichen Divan - eine Reihe von Parallelen zu muslimischer Frömmigkeit. Doch der Gedichtzyklus des West-Östlichen Divan, zuerst erschienen 1819, steht am Ende von Goethes literarischem Schaffen.

Was die Religion angeht, so zieht sich die Beschäftigung damit durch Goethes gesamtes Leben, von Jugend an. Am christlichen Glauben störte ihn das Kreuz, über das er sich mehrfach ganz und gar negativ äußerte. Trotzdem las er als junger Mann in der Bibel, fand Vergnügen an den Geschichten des Alten Testaments von Abraham bis Elija. Diese Geschichten nahm er als Literatur an, in ihrem alten, märchenhaften Charakter. Was die eigene Überzeugung angeht, so stand er der natürlichen Religion sehr viel näher. Diese verstand er mit vielen Aufklärungsphilosophen als die Überzeugung, dass hinter der Natur ein unbestimmtes, schöpferisches Wesen existiert. Dieses göttliche Wesen können Vernunft und Erfahrungswissen wahrnehmen. Eine Offenbarung, wie sie Islam, Christentum und Judentum voraussetzen, benötigt diese natürliche Religion nicht.

Diese Affinität zur natürlichen Religion hinderte Goethe nicht, als junger Mann Freundschaften in Pietismus und Erweckungsbewegung hinein zu pflegen, vor allem zu Lavater und Jung-Stilling. Diese Freundschaften, Gespräche und Briefe mündeten beim jungen Goethe allerdings nicht in ein Bekehrungserlebnis. Bei aller Sympathie ließ er auch Distanz walten, vor allem, weil er sich nicht vereinnahmen lassen wollte. Mehrfach in seinem Werk mäkelte er am Protestantismus herum, den er einzig als moralische Autorität gelten lassen wollte. Goethe mochte das Klerikale nicht, weder seine Moralprediger noch die kirchlichen Besserwisser. Ihm fehlte das „zerknirschte Sündenbewusstsein“[5], durch das er den Protestantismus charakterisiert sah. An der Kirche interessierte ihn mehr das Feierliche und Liturgische als das Didaktische und Moralische, und genau diese Unterscheidung führte ihn in die Nähe der katholischen Kirche.

Wenn  das Göttliche sich in der Natur zeigt, dann war es für Goethe die Kunst, die nach genau diesen göttlichen Spuren in der Natur sucht. Goethe arbeitete literarisch daran, das Göttliche in der Natur wahrzunehmen und festzumachen. Er wollte das Leben feiern, und er schuf sich darin seine eigene, individuelle Religion inklusive ganz eigener, individueller Rituale.

Goethes Lebensbegriff ließ ihn im Übrigen nicht nur den moralisierenden Protestantismus, sondern auch den spröden Rationalismus kantischer Prägung ablehnen. Letzterer kann dem Leben immer nur nach-denkend folgen. Darum kam er in Goethes  Sicht stets zu spät. Gott ist – darin folge ich Safranski - für Goethe so etwas wie eine persönliche, göttliche Kraft, ähnlich dem Daimonion des Sokrates: Sie führt ihn durchs Leben. Diese Überzeugung wird zu seiner „persönliche[n] Heilsgeschichte“[6]. Dort verbleibt seine Religion, sie geht nicht den Schritt weiter ins Öffentliche.  Dieser persönliche Glaube ist sich selbst nicht durchsichtig. Es bleibt im eigenen Denken eine dunkle Zone, ein nicht einsehbarer Bereich und blinder Fleck, den sich das Bewusstsein nicht erschließen kann, genauso wie das Ich selbst sich im letzten undurchsichtig bleibt.

In religiöser Hinsicht verteilte Goethe seine Sympathien hierhin und dorthin, ohne sich konfessionell zu verändern. Er suchte die Wahrheit der natürlichen Religion in Konfessionen und Religionen.[7] Er hielt sich alle Optionen offen und konnte Widersprüchliches nebeneinander stehen lassen. Dafür prägte er das berühmte Wort: „Wir sind / Naturforschend Pantheisten, / Dichtend Polytheisten, / Sittlich Monotheisten.“[8]  Zur natürlichen Religion kommt also die Vielfalt religiöser Erfahrung und Deutung.

Die natürliche Religion bedurfte für Goethe keines Glaubens, sie drängt sich jedem vernünftigen und einsichtigen Menschen auf. Goethe ließ die Religionsfrage offensichtlich zeitlebens nicht los, aber er wurde weder zum Anhänger noch zum Bekenner, schon gar nicht zum Fundamentalisten, sondern er bewegte sich frei und ungezwungen zwischen Religionen und Glaubensrichtungen, aber auch Philosophien und Weltanschauungen. Er nahm sich die Religionen als ästhetisches Material vor, an Moral und Ethik war sein Interesse nicht so groß. Wenn er sich für religiöse Phänomene interessierte, dann für solche, die nicht esoterische Offenbarungen voraussetzen. Goethes vernünftige Religion sollte sich auf den praktischen Alltag, seine Gewohnheiten und Rituale  auswirken. Insofern ist seine Religionsphilosophie mit seiner Lebenskunst und Alltagsethik verknüpft.[9]

Goethe weigerte sich, Beerdigungen zu besuchen. Nicht einmal an der Beisetzung seines Freundes Schiller nahm er teil. Das war keine Unhöflichkeit. Er verweigerte sich dem Tod, weil ihm das Leben wichtiger war. Es ist interessant, dass er ähnlich vorsichtig mit allem Erfahrungen negativer Gefühle umging: Hass, Verbitterung, Zorn, Neid und Ärger waren ihm suspekt, und sie nötigten ihm Zurückhaltung auf. Goethe wusste sich aus negativen Empfindungen herauszuwinden. Er wusste, was er im Herzen benötigte, und er hielt sich an die Maximen seiner eigenen Lebenskunst. Das war ihm wichtig: sich nicht hineingrübeln in das Schlechte und Böse, sondern so schnell wie möglich herauskommen in die Freiheit, die allein Schreiben, Denken und Leben möglich macht.

4. Karlsruhe oder Der Erzähler übertrifft den Prediger

Anders als Goethe hat Johann Peter Hebel[10] Theologie studiert, er war Pfarrer, Religionspädagoge und Lehrer, hoher kirchlicher Verwaltungsbeamter. Dennoch fehlt den Gedichten, Anekdoten und Erzählungen jedes dogmatische oder auch rechthaberische Element. Hebel wusste Pointen zu setzen und Lehren zu vermitteln, ohne platt und eindeutig und affirmativ zu werden; ihm gelang es, die Verschlingungen und Verwindungen des Lebens auf eine humorvolle Pointe zu bringen, ohne sich in Zynismus oder Menschenverachtung zu verlieren. Seinen Erzählungen ist abzuspüren, dass er ein Liebhaber der Menschen war. Und deswegen nahm er auch Kauzigkeit und schräge Charaktere ernst. Hebel war volksnah, ohne sich anzubiedern, und ihm gelang es, die Vieldeutigkeit seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit in eine ebenso lakonische wie komische Sprache zu fassen.

Johann Peter Hebel wurde 1760 in Basel geboren[11], elf Jahre nach Goethe. Seine südbadische Herkunft sollte ihn prägen. Als einer der ersten Schriftsteller veröffentlichte er später Gedichte in alemannischer Mundart. Er studierte Theologie, wurde Vikar, ab 1791 arbeitete er als Lehrer am Gymnasium Illustre in Karlsruhe. Hebel wäre gerne als Pfarrer zurück ins Alemannische gegangen, aber alle Pläne in dieser Richtung zerschlugen sich. 1802 erhielt er den Auftrag, den Badischen Landkalender herauszugeben, der später in den Rheinischen Hausfreund umbenannt wurde. Für diesen Kalender schrieb Hebel die meisten Geschichten, die wir heute in der Sammlung des „Schatzkästleins“[12] kennen. Hebel wurde Direktor des Gymnasiums Illustre, er trat in die Kirchenverwaltung ein und wurde 1819 zum Prälaten der Landeskirche ernannt. Als solcher hatte er maßgeblichen Anteil an der badischen Union, der Vereinigung der reformierten und lutherischen Gemeinden zu einer Kirche mit uniertem Bekenntnis. Am 23.September 1826, sechs Jahre vor Goethe, starb Hebel in Schwetzingen auf der Rückreise von einer theologischen Prüfung.

Als Theologe war Hebel der sog. Neologie verpflichtet, die er als Student in Erlangen kennenlernte, einer aufgeklärten Theologie, die Vernunft und Weltwissen als Orientierungsmaßstäbe ernst nahm, eine Theologie, die sich jenseits der eng begrenzten Bereiche frommer Orthodoxie und des Konfessionalismus bewegte. Von Goethe kennt man schon das wichtige Stichwort von der natürlichen Religion, das bereits die Neologen intensiv diskutierten. Hebel lernte an der Erlanger Universität, Glauben nicht mit Rechthaberei zu verwechseln.

In seinen Schriften wird eine Weltläufigkeit sichtbar, die bei aller Offenheit dennoch heimatverbunden blieb. Dem Alltagsglauben, der seine Erzählungen prägt, eignet ein starkes Moment des Ethischen, der Handlungsorientierung. Dieses verbindet sich mit Elementen der Schöpfungsfrömmigkeit und einer unkonventionellen Sichtweise des ökumenischen, evangelisch-katholischen Dialogs. Als einer der Architekten der reformiert-lutherischen Union der Badischen Landeskirche setzte er um, was er den Lesern seiner Erzählungen längst vorgeführt hatte.

Im „Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes“ sticht gleich am Anfang ein solches Moment der Schöpfungsfrömmigkeit hervor. Hebels Kalenderprojekt enthielt nicht nur Anekdoten und moralische Geschichten, sondern auch ein in mehrere Kapitel aufgeteiltes Kompendium aktueller Informationen zur Kosmologie. Darin bediente sich Hebel nicht mehr der biblischen Schöpfungsgeschichte, sondern des aktuellen damaligen naturwissenschaftlichen Wissens. Trotzdem bezeichnete Hebel dieses kosmologische Kompendium, seine „Allgemeine Betrachtung über das Weltgebäude“[13], die von der Erde, der Sonne, dem Mond, den Sternen, den Planeten, den Fixsternen und den Kometen handelt, ausdrücklich als eine Predigt[14]. Zur Predigt wird die kosmologische Betrachtung, weil sie das Staunen über die Wunder des Kosmos auf die göttliche Allmacht zurückführt, etwa in der folgenden Passage über den Planeten Erde: „Aber niemand kann die göttliche Allmacht begreifen, die diese ungeheure große Kugel schwebend in der unsichtbaren Hand trägt, und jedem Pflänzlein darauf seinen Tau und sein Gedeihen gibt, und dem Kindlein, das geboren wird, einen lebendigen Odem in die Nase. Man rechnet, dass tausend Millionen Menschen zu gleicher Zeit auf der Erde leben, und bei dem lieben Gott in die Kost gehen, ohne das Getier. Aber es kommt noch besser.“[15] Gott hat die Welt in ihrer wunderbaren Ordnung nicht geschaffen, sondern er erhält sie auch und führt sie an ein gutes Ende.

Über die immense Größe und die wunderbare Ordnung der Schöpfung ließ sich trefflich staunen, aber Hebel machte sich auch zum Anwalt einer Reihe von Tieren, die von den Menschen verachtet, als Parasiten und Schädlinge geschmäht oder gar verflucht werden. Er warb für Prozessionsraupen, Schlangen, Maulwürfe, die vermeintlich lästigen Spinnen und die Eidechsen. Hebel mahnte, man dürfe Schlangen nicht mit Drachen[16] verwechseln, und so setzte er an die Stelle von Vorurteilen und altem Aberglauben die moderne wertfreie Erkenntnis, die Gattungen und Ordnungen in der Fauna unterscheidet.

Der Schöpfungsfrömmigkeit tritt nun keine dogmatische Christologie, sondern eine gewitzte, durch Klugheit und Feinsinnigkeit geprägte Alltagsethik zur Seite. Es ist wahr: Hebel erzählte seine Anekdoten, um Lehren zu vermitteln, aber man missversteht Hebel, wenn man in den abschließenden „Lehren“ seiner Geschichten eine plumpe Spießermoral erkennt.

Es fällt auf, wie viele von Hebels Geschichten jüdischen[17] oder muslimischen[18] Mitbürgern gewidmet sind.  Über die Türkei, das „Morgenland“ sagte Hebel: „Es ist doch nicht alles so uneben, was die Morgenländer sagen und tun.“ Hebel öffnete sich anderen Religionen mit unbefangener Neugierde, er nahm Weltanschauungen und Kulturen auf und bekräftigte, was ihm daran bewahrenswert erschien. Hebel stellte aber nicht die Frage nach der inneren Wahrheit einer Religion oder Weltanschauung. Er fragte nach dem Bewahrenswerten unter ethischem und alltagspraktischem Aspekt. Wer nach Wahrheiten fragt, wird zum Rechthaben verleitet. Wer danach fragt, was man alltagspraktisch in den Alltag übernehmen kann, der wird unterschiedliche Religionen und Wahrheiten nebeneinander stehen lassen.

Was die Wahrheit von Religionen betraf, so nimmt man bei Hebel eine gewisse Skepsis wahr, die er für das Verhältnis von Katholiken und Protestanten in die Erzählung „Die Bekehrung“[19] fasste: Irgendwo in Westfalen leben zwei Brüder. Der eine ist Protestant, der andere tritt zum katholischen Glauben über. Über den Glauben geraten beide in jahrelangen heftigen Streit. Schließlich macht der eine ein Versöhnungsangebot. Sie treffen sich an neutralem Ort, aber der Streit geht weiter, sie versuchen sich gegenseitig vom anderen Glauben zu überzeugen. Man trennt sich wieder. Nach sechs Wochen schreibt der eine Bruder dem anderen: Deine Gründe haben mich überzeugt. Ich bin jetzt auch katholisch geworden. Der andere schreibt zurück: Was hast du da schon wieder gemacht? Gestern bin ich zur lutherischen Kirche zurückgekehrt, um mich mit dir zu versöhnen.

Hebel zieht daraus für seine Leser das folgende Fazit: „Merke: du sollst nicht über die Religion grübeln und düfteln, damit du nicht deines Glaubens Kraft verlierst. Auch sollst du nicht mit Andersdenkenden disputieren, am wenigsten mit solchen, die es ebensowenig verstehen als du, noch weniger mit Gelehrten, denn die besiegen dich durch ihre Gelehrsamkeit und Kunst, nicht durch deine Überzeugung. Sondern du sollst deines Glaubens leben, und was gerade ist, nicht krumm machen. Es sei denn, dass dich dein Gewissen selber treibt zu schanschieren.“[20] Religion ist keine Sache der Grübelei und des Argumentierens, das erinnert an die Gefühlsreligion des höheren Herrnhuters Schleiermacher. Sie ist Sache individueller Entscheidung und Empfindung, darum kann über die Wahrheit des Glaubens nicht argumentiert werden. Deswegen ließ Hebel, wie die Geschichte deutlich macht, religionsfremde Interessen als Grund für den Religionswechsel nicht gelten. Wer allein aus Gründen des Familienfriedens konvertieren will, der betrügt sich letzten Endes selbst. Nur einen Grund für den Religionswechsel akzeptierte Hebel: das persönliche Gewissen.

Hebel machte in dieser Geschichte, ohne dass er es weiter entfaltet, Religion zur Sache individueller Gewissheit, Überzeugung und Entscheidung. Er ging nicht so weit, diesen Gedanken kirchenkritisch zu wenden, und darum hat er auch keine liberale Theologie entwickelt. Aber der Schritt vom rechthaberischen protestantisch-orthodoxen Konfessionalismus mit all seiner Streitsucht und Abendmahlsgrübelei zur liberalen Badischen Union war theologisch und kirchlich ein riesiger und folgenreicher Schritt.

Die Betonung religiöser Individualität bei Hebel bedeutet keinen Verlust an religiöser Tiefe. Das würde am besten die schönste und vorletzte Geschichte aus dem Rheinischen Hausfreund, „Unverhofftes Wiedersehen“[21], deutlich machen. Darin denkt eine altgewordene Bergmannswitwe über ihren toten Mann nach, dessen Leichnam aus dem Bergwerk geborgen wird. Mit der Geschichte lenkte Hebel die Gedanken seiner Leser in Richtung auf Zeit und Dauer, Sterben, Tod und Ewigkeit. Wie Hebel das erzählt, das gehört zum Schönsten und Großartigsten, was er geschaffen hat. Leider kann das in diesem Vortrag nicht weiter entfaltet werden.

Goethe gehörte zu den literarischen Förderern Hebels, beide schrieben sich Briefe und begegneten sich auch einmal in Karlsruhe. Dennoch war Hebels Verhältnis zu Goethe nicht völlig frei von Spannungen.[22] Diese Spannung betraf, bei den Gedichten mehr als bei den Erzählungen, das Verhältnis von natürlicher und – wie es im 19.Jahrhundert hieß – positiver Religion. Man kann das „Schatzkästlein“ als Hebels Versuch lesen, einige der dogmatischen und orthodoxen Klammern lutherischer Rechtgläubigkeit zu lockern oder gar zu lösen. Damit wird man aber den Geschichten insofern nicht gerecht, als Theologen wie Johann Anselm Steiger[23] gezeigt haben, dass Gedichte und Erzählungen Hebels stets den Geist biblischer Sprache atmen. Es gäbe dafür eine Fülle von Belegen im Werk Hebels. Auch die Bibel selbst ist ja eher ein Buch der Erzählungen, Gedichte (Psalmen) und alltagspraktischen Weisungen als ein Buch der systematischen Entfaltung jüdischen und christlichen Glaubens.

Während Goethe in der natürlichen Religion so etwas wie ein Fundament seiner Kunstphilosophie sah und die Religionen (Luthertum, Katholizismus, Islam) nur noch als Steinbrüche verwendete, erscheint bei Hebel das Verhältnis von natürlicher und positiver, in diesem Fall evangelischer Religion als wechselseitig durchdrungen, aber schon in einer Spannung begriffen. Robert Minder hat das zu dem Urteil geführt, Hebel sei „gewissermaßen ein Goethe in Duodecformat, hoher Staatsbeamter und Dichter, treuer Diener seines Herrn und heimlicher Frondeur, eminent kritischer Kopf und wortverliebter Artist, toleranter Christ und urbaner Schüler der Antike (…)“.[24] Für Goethe lag die religiöse Wahrheit außerhalb des konfessionellen Christentums, für Hebel war das noch nicht ausgemacht.

5. Warmbronn oder Natürlicher Wein in alten christlichen Schläuchen

Als der Dichter Christian Wagner 1835 in Warmbronn geboren wurde, war Goethe drei Jahre und Hebel schon neun Jahre tot. Ich will hier nicht viel über seine Biographie sagen, weil ich sie in diesem Kreis als bekannt voraussetze. Den größten Teil seines Lebens verbrachte er in Warmbronn und publizierte unter zeitlebens schwierigen finanziellen Bedingungen ein umfangreiches, vor allem lyrisches Werk. Wagner starb in Warmbronn im letzten Kriegsjahr 1918.

Kurt Tucholsky, nicht als großer Theologe bekannt, sagte über Wagner, er sei „dogmenlos fromm“ gewesen. Damit ist Wagners Verhältnis zur Religion getroffen, aber auch auf eine gewisse Weise verfehlt, denn es bleibt ja offen, welche Dogmen, die es im Übrigen im Protestantismus gar nicht gibt, er nicht mehr anerkannt hat. Es bleibt auch offen, welche Gestalt von Frömmigkeit er praktizierte.

Wagner war offensichtlich evangelisch getauft, trat wohl nie aus der Kirche aus und pflegte mit mehreren Pfarrern einen Briefwechsel. Was das Verhältnis zur Religion angeht, rückt bei Wagner sein Buch „Neuer Glaube“[25] aus drei Gründen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Zum einen ist das Buch Kompendium und Zusammenfassung seiner bis dahin veröffentlichten Lyrik, zum zweiten ist das Buch als eine Summe seiner religiösen, theologischen, philosophischen Überzeugungen zu lesen. Der „Neue Glaube“ ist ein Bekenntnis, aber keine christliche Bekenntnisschrift. Zum dritten gab Wagner dieser Summe bewusst die Form eines Katechismus, wie er ihn der Form nach in den Katechismen von Johannes Brenz und Martin Luther, die in der württembergischen Kirche Geltung besaßen, vermutlich spätestens als Konfirmand kennen- und auswendig gelernt hatte.

Wagners Katechismus hat nun mit den Katechismen der Landeskirche, aber auch mit dem genauso berühmten Heidelberger Katechismus inhaltlich nur wenig gemein[26]. Wagner verkündete ein anderes, nicht das christliche Evangelium. Das unterscheidet ihn von Johann Peter Hebel als Theologen und als Schriftsteller. 

Goethe verwandelte seine theologischen und religiösen Überlegungen in literarische Texte, vom Aphorismus über das Gedicht bis zum Theaterstück oder Roman. Bei Hebel finden wir ein Nebeneinander von literarischen Texten, die indirekt christlichen Geist atmen, neben pädagogischen und theologischen Texten wie Predigten und einem Schullehrbuch mit Nacherzählungen biblischer Geschichten.

Wagner veröffentlichte mit dem "Neuen Glauben" einen Katechismus, der nicht selbst Literatur ist, wohl aber von (eigenen) Werken, nämlich den bereits publizierten Gedichten, regen Gebrauch machte.[27] Ein Katechismus ist eine Zusammenfassung des christlichen (oder eines anderen) Glaubens in pädagogischer Absicht, ein Lehrbuch zur Vermittlung von Glaubensinhalten. Die moderne Theologie hat das Genre des Katechismus immer wieder einmal für problematisch gehalten.[28] Die Frage-und-Antwort-Form, die sich bei Brenz, Luther, aber auch im Heidelberger Katechismus findet, hat Wagner übernommen. Aber er goss in den alten Schlauch des christlichen Katechismus-Modells den neuen Glauben eigener Überzeugungen.

Methodisch folgte Wagner dabei dem Brenzschen Vorbild. Wagners Katechismus besteht aus 72 Fragen und Antworten, die sich in drei Teile zu je 24 Fragen aufgliedern. Der erste Teil handelt vom „neuen Glauben“ (Frage 1-24), der zweite Teil (Frage 25-48) von der „Rechtsanerkennung“ und von der „Achtung und Schonung des Lebendigen“  (Fr. 25), der letzte Teil (Frage 49-72) von der Frage nach der Zukunft und vor allem nach dem Sinn menschlichen Lebens. In Wagners Katechismus kommen also (religiöse) Glaubensüberzeugung, Ethik und Handlungsanweisung sowie am Ende Zukunftshoffnung zusammen.

Parallel zu den christlichen Katechismen versah auch Wagner seine Antworten mit Begründungen und Zitaten. Allerdings zitierte er nicht aus der Bibel, sondern aus eigenen Gedichten. Jeder Antwort sind Strophen oder einzelne Verse aus Wagners Lyrikbänden angehängt, manche kurz, manche sehr ausführlich. Nicht mehr die heilige Schrift, sondern die eigene Schrift begründet die naturphilosophischen Sätze des „neuen“ Glaubens. Sein Katechismus ist auch kein Lehrbuch gemeinsamer Überzeugungen, sondern eine Rechtfertigung der eigenen (religiös grundierten) Weltanschauung oder Ethik. Goethe hätte an der systematischen Entwicklung einer solchen eigenen Philosophie gar kein Interesse gehabt. Er wandelte Erfahrung in Kunst, also in literarische Texte, nicht in Theorie um. Hebel unterschied sehr sorgfältig zwischen literarischen und religionspädagogischen oder theologischen Texten. Wagner nun vermischte beides: Er rückte Argumente der Weltanschauung in den Vordergrund und spielte die Gedichtverse auf der Ebene der Begründung ein.

Dabei setzte Wagner die eigene Weltanschauung/Religionsphilosophie als "neuen" Glauben bewusst vom "alten" Glauben des Christentums ab. Trotzdem bleibt schon in der Anlage von Wagners Katechismus die Orientierung an und Auseinandersetzung mit dem alten christlichen Glaubensbekenntnis sichtbar. Auch Wagner fragte am Anfang (Fr. 12), wer oder was als „Gottheit“ zu verstehen sei. Aber er definierte Gottheit als das „bewusste überlegene Etwas außer der Leiblichkeit“. Andere Fragen formulierte er erkennbar im Anschluss an das Vaterunser: „Bittet der Bekenner des Neuen Glaubens auch ums tägliche Brot?“ (Fr. 13) Wagner entwickelte auch ein eigenes Verständnis von Auferstehung (Fr. 23). Es fällt auf, dass insbesondere das erste Drittel des Katechismus von Fragen bestimmt ist, die unmittelbar Themen des Brenz’schen Katechismus aufnehmen, während diese Bezugnahmen sich im zweiten und dritten Teil verlieren. Es geht am Anfang um Gott, die Sünde, den Glauben, die Dankbarkeit, Auferstehung. Es geht aber auch, für den Brenz’schen Katechismus undenkbar, um den Freitod (Fr.21).

Im Laufe seines Gedankengangs formulierte Wagner dann ein Zentralprinzip, die Formel von der „möglichste[n] Schonung alles Lebendigen“ (Fr. 24). Das schließt ein eine besondere Aufmerksamkeit für Pflanzen und Tiere, für deren Rechte, die ausdrücklich bekräftigt werden. Diese Formel erinnert nicht zufällig an Albert Schweitzers berühmte spätere Maxime von der Ehrfurcht vor dem Leben. In Wagners Formel verbinden sich die kritische Auseinandersetzung mit dem Christentum und eine frühe ökologische Naturphilosophie mit Elementen der Lebensreform, wobei der Autor aber keiner der um die Wende zum 20.Jahrhundert erst langsam entstehenden zivilisationskritischen Bewegungen als Parteigänger zuzurechnen ist. Nicht umsonst zitierte der Autor stets aus den eigenen Gedichten. Er ist der einsame Bußprediger in der Wüste, den die sozialkritischen Intellektuellen und die zivilisationsmüden Lebensreformer in Warmbronn besuchen.

Wagners Katechismus steht singulär da, und er verbindet drei Momente. Zum einen setzt er sich mit dem Christentum auseinander, dessen dogmatische Aussagen er nicht mehr gelten lässt. Es wird jedoch keine polemische Ablehnung des Christentums sichtbar, eher die Suche nach neuen Formen, um der eigenen Erfahrung und Überzeugung Raum zu geben. Die Wahl des Katechismus als literarische Form spiegelt aber etwas von dieser Auseinandersetzung mit dem "alten" Glauben. Die Details wären noch genauer zu untersuchen. Zum zweiten ist der "Neue Glaube" Wagners Versuch, den eigenen religiösen Überzeugungen eine - mit gewissen Abstrichen - systematische und argumentierende Gestalt zu geben. Darin ging er bewusst weiter als Goethe und Hebel. Er ordnete die eigenen Gedichte zu einem konsistenten System der eigenen Überzeugungen - in pädagogischer Absicht. Denn die Wahl der Form des Katechismus zeigt, dass sich Wagner nicht nur über den eigenen Glauben Rechenschaft ablegen wollte, sondern dass er diesen "neuen Glauben" auch öffentlich machen, weiter verbreiten wollte. Zum dritten ist der Katechismus des neuen Glaubens ein "Dokument der Moderne"[29], wie es Burkhardt Dücker formuliert hat, weil in den Fragen und Antworten ökologische und naturphilosophische Antworten auftauchen, die Philosophie, Theologie und Politik erst Jahrzehnte später intensiv beschäftigen sollten. Nimmt man diese Linie auf, so zeigen sich überraschende Parallelen zwischen Wagners Werk[30] und der Umweltethik, die sich seit den siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts aus der damals politisch entdeckten ökologischen Krise entwickelte. Das schließt ein das theologische Nachdenken über die "Bewahrung der Schöpfung" und die Renaissance moderner Theorien der Naturphilosophie von Klaus-Michael Meyer-Abich über Hans Jonas bis zum Club of Rome.

So sehr sich nun Wagners Überlegungen von den christlichen Katechismen unterscheiden, so wenig scheint das Wagner bewogen zu haben, sich aus der evangelischen Kirche zurückzuziehen. Er blieb, ich habe das am Anfang gesagt, mit vielen im Gespräch, darunter auch Pfarrern. Wie man nun Wagners Katechismus bewertet, kommt auf die Perspektive an. Aus der Perspektive der Bekenntnisschriften des „alten“ Glaubens handelt es sich beim „neuen Glauben“ um Häresie. Versteht man den „neuen Glauben“ aus der Perspektive späterer Natur- und Umweltethik, so handelt es sich um einen frühen hellsichtigen und prophetischen Vorläufer solcher Unternehmungen. Das gilt auch, wenn man den „Neuen Glauben“ – und dazu neige ich - als ein Lehrbuch der Schöpfungsfrömmigkeit sieht. Unter der Prämisse, dass Schöpfungsfrömmigkeit nicht das Ganze des christlichen Glaubens ausmacht, sehe ich für Wagners „schwäbischen Buddhismus“ [31] sogar Gesprächsmöglichkeiten mit Theologie und Ethik.

6. Frohe und dankbare Gefühle am Ziel

Gedichte, Geschichten, Aphorismen von Goethe, Hebel oder Wagner spiegeln eine vergangene Auseinandersetzung um Religion und religiöse Phänomene. In ihnen lassen sich alte Auseinandersetzungen – literarische, philosophische und theologische – wieder entdecken. Wenn diese uns heute noch beschäftigen, so mit anderen Voraussetzungen und unter Verwendung anderer Begriffe. Auch gegenwärtig stellen sich Autoren in ihren literarischen Werken religiösen Fragen, man denke an die gerade veröffentlichten Romane von Michel Houellebecq[32] oder Ian McEwan[33]. Beide spiegeln eine religiöse Landschaft, in der Zersplitterung und Konflikte vorherrschen, sehr viel stärker als das in der religiös-literarischen Landschaft des 19.Jahrhunderts der Fall war.

Bei allen Unterschieden scheint mir gleichwohl ein einziger Punkt für die Gegenwart sehr bemerkenswert. Weder Goethe noch Hebel noch Wagner münzen religiöse Erfahrungen in große Theorien und Systeme um. Das setzt bei Wagner allerdings voraus, die Gedichte ernster zu nehmen als die große Form des Katechismus. Alle drei sind sie der kleinen Form, dem Aphorismus, der Anekdote, dem Gedicht und der kurzen Erzählung verpflichtet. Allen drei Schriftstellern ermöglicht es gerade die kleine literarische Form, unterschiedliche und sich möglicherweise widersprechende Facetten von Glaube und Welterfahrung ins Blickfeld zu rücken. System, Theorie und Gedankengebäude sind Hebel und Goethe ganz fremd. Und für Wagner gilt das im Grunde genauso.

Die Konzentration auf die kleine Form von Erzählung oder Gedicht generiert ein vielgestaltiges Bild religiöser Erfahrung. Im Bereich der evangelischen Theologie hat diese Erkenntnis schon vor Jahrzehnten Lothar Steiger[34] in seinem Buch „Erzählter Glaube“ ernst genommen. Es lebt von der Voraussetzung, dass sich auch in der Bibel selbst kein begrifflich-systematisches Konstrukt des Glaubens findet. Stattdessen wird sie bestimmt von kurzen Erzählungen (wie Gleichnissen), von Gedichten (wie den Psalmen) und von Aphorismen (wie den Sprich- und Merkwörtern des Buches Sprüche). Es ist diese Form des Kleinen, des Splitters und Bruchstücks, welche der erzählte Glaube der Bibel und der verdichtete Glaube der genannten Schriftsteller aus Weimar, Karlsruhe und Warmbronn gemeinsam haben. Diese Form, religiöse Erfahrung zu deuten und auf den Punkt zu bringen, bleibt in allen Widersprüchen und Gegensätzen, bis in die Gegenwart aktuell.

Anmerkungen

[1]    Albrecht Goes, zit.n. Helmut Hornbogen, Erinnerung an Anfänge. Tübingen. Vom Gedenken. Gespräche mit Albrecht Goes und Hermann Lenz, Tübingen 1996, 38.

[2]    Vgl. dazu Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/M. 1998 sowie aus theologischer Sicht: Wolfgang Vögele, Alltagsethik – Lebenskunst – Spiritualität, Deutsches Pfarrerblatt 106, 2006, 418-425; ders., Weltgestaltung und Gewißheit. Alltagsethik und theologische Anthropologie, Protestantische Impulse für Gesellschaft und Kirche 4, Münster 2007.

[3]    Rüdiger Safranski, Goethe. Eine Biographie, München 2013. Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Lebenskunst, Gretchenfrage und ewiger Tee. Bemerkungen zu Rüdiger Safranskis Goethe-Biographie, Ta Katoptrizómena. Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik, H.88, 2014, http://theomag.de/88/wv09.htm.

[4]    Navid Kermani, Gott-Atmen. Goethe und die Religion, in: ders. (Hg.), Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen, München 2014, 121-147.

[5]    Goethe, zit.n. Safranski, a.a.O., Anm. 3, 72.

[6]    Safranski, a.a.O., 276.

[7]    Kermani, a.a.O., Anm. 4, 138: „Gerade weil er die grundlegenden Lehren des Islams für universal hielt, fand er sie in anderen und also auch in der eigenen, der christlichen Religion ebenso gut wieder: (…).“

[8]    Johann Wolfgang von Goethe, Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, Sämtliche Werke, Abt. I, Bd.13, Frankfurt/M. 1993, 64.

[9]    Vgl. auch Kermani, a.a.O., Anm. 4, 127 über Goethes Religiosität: „Es ist eine Religiosität der unmittelbaren Anschauung und der allmenschlichen Erfahrung, der präzisen Beobachtung und der naheliegenden, schon dem Kind notwendig erscheinenden Schlüsse. Sie kommt ohne Spekulation und fast ohne Glauben aus, insofern Goethe sie auf den natürlichen, von Erziehung und Denken allenfalls verschütteten Instinkt des Menschen zurückführt, sich selbst als Geschöpf und die Natur als Schöpfung zu betrachten: (…).“

[10]   Vgl. zum folgenden auch Wolfgang Vögele, Glauben und Schreiben. Ethik, Alltag und Frömmigkeit bei Johann Peter Hebel, in: Göttinger Predigten im Internet, hg. von U.Nembach et al., Göttingen 2010, http://www.predigten.uni-goettingen.de/bgpredigt.php?id=233&kennung=de.

[11]   Zur Biographie Franz Littmann, Johann Peter Hebel. Humanität und Lebensklugheit für jedermann, Erfurt 2008.

[12]   Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, Frankfurt 2008 (nach der Ausgabe Tübingen 1811).

[13]   A.a.O., 9. Sonne (10), Mond (68), Planeten (81), Fixsterne (205.217), Kometen (167).

[14]   A.a.O., 9.

[15]   A.a.O., 12.

[16]   Zu den  Schlangen a.a.O., 36f., auch 32. Prozessionsraupen (12), Maulwürfe (62), Spinnen (78) und Eidechsen (89).

[17]   Z.B. a.a.O., 194 (Der falsche Edelstein) und 103 (Der Große Sanhedrin zu Paris).

[18]   Z.B. a.a.O., 14 (Denkwürdigkeiten aus dem Morgenlande).

[19]   A.a.O., 220f.

[20]   A.a.O., 221.

[21]   A.a.O., 234-236. Zu dieser Geschichte vgl. Johann Anselm Steiger, Unverhofftes Wiedersehen mit Johann Peter Hebel, Heidelberg 1989, 127ff sowie Vögele, a.a.O., Anm. 10.

[22]   Johann Anselm Steiger, Bibel-Sprache, Welt und Jüngster Tag bei Johann Peter Hebel. Erziehung zum Glauben zwischen Überlieferung und Aufklärung, Arbeiten zur Pastoraltheologie 25, Göttingen 1994, bes. 19f.

[23]   Steiger, a.a.O., 342: „Die Bibel-Sprache bildet das sprachstiftende Fundament in allen Werken Hebels. Sie hält auch Einzug in das säkulare Medium ‚Kalender‘ und findet so in der Publizistik eine neue Nische.“

[24]   Robert Minder, Heidegger und Hebel, Frankfurt/M. 1967, 287f.

[25]   Christian Wagner, Neuer Glaube, hg. von Harald Hepfer, Warmbronn 2013. Vgl. Wolfgang Vögele, Rezension von Christian Wagner, Neuer Glaube, hg. v. H.Hepfer, Warmbronn 2013, ThLZ 139, Leipzig 2014, 607-609. Alle Zitate aus diesem Buch werden im Text mit der jeweiligen Ordnungszahl der Frage angegeben.

[26]   Zur theologischen Deutung von Katechismen und Bekenntnisschriften vgl. Wolfgang Vögele, Über Bekenntnisse: Eine theologische Interpretationshilfe, in: ders. (Hg.), Bekenntnisschriften der Evangelischen Landeskirche in Baden, Bd.2 Kommentar, 11-132.

[27]   Das ist im Übrigen schon früh kritisiert worden, etwa bei Richard Weltrich, Christian Wagner, der Bauer und Dichter zu Warmbronn. Eine ästhetisch-kritische und sozialethische Studie, Stuttgart 1898.

[28]   Christoph Weismann, Die Katechismen des Johannes Brenz 1. Die Entstehungs-, Text- und Wirkungsgeschichte, Spätmittelalter und Reformation 21, Berlin New York 1990, 29: "Für die Theologie sind die Katechismen immer eine Art 'Trivialliteratur' geblieben, die akzeptiert, vielleicht auch für wichtig gehalten, aber kaum einer näheren Beachtung gewürdigt wurde. Die Katechismen waren an der Ausbildung gelehrter Systeme nicht beteiligt, sie haben keine theologischen Hörer unter akademischen Katethern in Atem gehalten, keine Lehrstühle bewegt und keine niveaureichen literarischen Fehden ausgelöst."

[29]   Burkhard Dücker in seinem Nachwort zu Christian Wagners „Neuer Glaube“, a.a.O., Anm. 25, 101.

[30]   Weltrich, a.a.O., Anm. 27, 162 urteilt über den "Neuen Glauben":  „… im Recht bleiben doch immer die einen hohen Wahrheitsgehalt in sich schließenden Gedanken: dass die Natur ein einheitliches Ganzes ist, dass sie diese Einheit uns in einer symbolischen Formensprache bezeugt und dass alles seelische Leben unter sich verwandt und verschwistert ist.“

[31]   Kurt Oesterle, Wo Sprachwunder aus den Wiesen steigen. Ein Besuch im württembergischen Warmbronn, dem Heimatort des Dichters Christian Wagner, Tübingen o.J., http://www.kurt-oesterle.de/pdf/wagner.pdf, 3

[32]   Michel Houellebecq, Unterwerfung, Köln 2015.

[33]   Ian McEwan, Kindeswohl, Zürich 2015.

[34]   Lothar Steiger, Erzählter Glaube: Die Evangelien, Gütersloh 1978.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/93/wv15.htm
© Wolfgang Vögele, 2015