Religionssoziologie

Über Vernunftreligion, Nationalreligion, Kunstreligion, Wissenschaftsreligion und den Glauben an Verfahren

Andreas Mertin

Eßbach, Wolfgang (2014): Religionssoziologie 1. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen. Paderborn: Fink, Wilhelm.

Ein schwergewichtiges Werk, das da vor einem auf dem Schreibtisch liegt, schwergewichtig im doppelten Sinne: das gebundene, knapp 900 Seiten umfassende Buch ist keine leichte Reiselektüre, die man mal eben nebenbei liest, sondern ein Werk, das aufmerksam studiert werden will. Schwergewichtig ist es aber auch in seiner Bedeutung. Ich habe selten ein Buch gelesen, das so umfassend, so belesen in die Genese von Religionen in der europäischen Neuzeit einführt wie dieses. Es reduziert das Thema Religion nicht, wie es inzwischen modern geworden zu sein scheint, auf den (dann doch irgendwie kirchlich gebundenen) Gottesglauben, sondern spürt aufmerksam jenen Filiationen des Sinnsystems nach, die unter „Vernunftreligion, Nationalreligion, Kunstreligion, Wissenschaftsreligion und Elemente des Glaubens an Verfahren“ zusammengefasst werden. Nicht weniger als eine „Typologie europäischer Religionen in der Moderne“ hat sich Wolfgang Eßbach vorgenommen.

Wolfgang Eßbach (*1944) ist emeritierter Professor für Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau. Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen in den Bereichen Kultursoziologie, Anthropologie, Techniksoziologie, Kunst- und Religionssoziologie, Ideengeschichte und in der soziologischen Theorie. Die hier vorgestellte Religionssoziologie ist sein neuestes Werk. Konkret schreibt er zu dessen Intentionen:

„Ein Ziel dieser Religionssoziologie ist es, eine Typologie europäischer Religionen zu erarbeiten, die sowohl die morphologische, d.h. die strukturale und systemische Seite, als auch die hermeneutische, d.h. die erfahrungsgeschichtliche Seite berücksichtigt und somit einen historisch-systematischen Anspruch erhebt. Aus unserer Lektüre quellensatter historiographischer Arbeiten und den alten Diskursen konstruieren wir - an Max Weber angelehnt - ideale Typen, in deren Konstruktion charakteristische historische Phänomene, so wie sie sich uns heute zeigen, eingehen und gebündelt werden. Die Summe dieser Beobachtungen wird dann zu einem Gedankenbild verdichtet, das eine sinnvolle Struktur erkennen läßt.“ (16)

Das sollte man bei der Lektüre im Hinterkopf behalten, denn das Werk will nicht eine Geschichtsdarstellung sein oder eine lineare Entwicklung aufzeigen, sondern will ein (Gedanken-) Bild erstellen, das einem hilft, die Gegenwart zu verstehen. Der behandelte Gegenstand „Religion“ ist ein auch in den beteiligten Fachwissenschaften höchst kontrovers erörtertes Phänomen. Wohl dauerhaft umstritten bleiben wird Frage nach dem Begriff von Religion, den man einer derartigen Untersuchung zugrunde legen müsste. Eßbach ist sich dessen bewusst und notiert deshalb:

„In dieser Religionssoziologie behandeln wir das Verhältnis von dem, was jeweils als Religion gehandelt wird, zu anderen gesellschaftlichen Phänomenen als Frage. Methodisch gewendet heißt dies: Überall dort, wo vergesellschaftete Individuen, insbesondere Intellektuelle, etwas als religiös bezeichnen oder unsicher sind, ob eine Sache etwas mit Religion zu tun hat, wo darüber gestritten wird, ob es Religion ist oder nicht, setzen wir mit der Arbeit ein.“ (17)

Das ist ein außerordentlich weiter Begriff von Religion und könnte dazu führen, dass die betrachteten Phänomene ausfransen und ins Unendliche führen, aber das ist nicht der Fall. Dadurch, dass Eßbach vor allem Argumentationsstränge wiedergibt, verliert er sich nicht in Details. Es geht ihm darum, wie Religion sich über die Jahrhunderte immer wieder neue Artikulationsformen suchte:

„Auf diese Weise kann gezeigt werden, daß der religiöse ‚Pluralismus‘ der Gegenwart ein in bestimmter Weise geschichtetes, kumulatives Phänomen darstellt, dessen Elemente in einem spannungsreichen Gefüge zueinander stehen und kaum zu beruhigen sind ... Die Götter aller Religionen sind unsterblich oder können wieder auferstehen, wenn gesellschaftliche Zeiterfahrung sie anruft.“ (27) 


Der hier vorliegende erste Band der Religionssoziologie gliedert sich in zwei große Teile und ein Intermezzo. Der erste Teil (33-318) steht unter dem Stichwort „Glaubenskrieg“, das Intermezzo (319-378) unter dem Titel „Der Kampf der Aufklärung gegen den Teufelsglauben“ und der zweite Teil (379-742) unter dem Stichwort „Revolution“.

Im ersten Kapitel des ersten Teiles unter der Überschrift „Heil, Gewalt, Raum“ (33-104) geht es darum, den grundsätzlichen Entwicklungen nachzugehen, die zu einer religiös differenzierten Moderne geführt haben. Wie kommt es zu den Glaubenskriegen in der frühen Neuzeit, welche Bedeutung hat die Kirche für das Seelenheil des Einzelnen und warum macht es keinen Sinn, von einer geschlossenen Form des „christlichen Mittelalters" auszugehen? Den gewaltsamen Auseinandersetzungen widmen sich die Abschnitte zum Konflikt zwischen Christentum und Islam (Stichwort Kreuzzüge) und der Unterdrückung von Ketzerbewegungen (Stichwort Katharer). Wie mit der Reformation dann die „Konfessionalisierung des Raumes“ beginnt und mit dieser die für die Moderne charakteristische Bekenntnisreligion wird anschließend dargestellt.  

„Mit dem Trienter Konzil 1545-1563, dem Heidelberger Katechismus (1563), der Konkordienformel (1577) und dem Konkordienbuch (1580) sind in Europa die Konfessionen entstanden, die die religiösen Innovationen von Spätmittelalter und Reformation in Konkurrenz gegeneinander profilierten. Dazu gehört nicht nur die Präzisierung von Kirchennamen der evangelischen Bewegung wie „lutherisch" und „reformiert", sondern darüber hinaus die Beseitigung dogmatisch offener Glaubensfragen, die Ausbildung von Riten, mit deren Hilfe Konfessionen unterscheidbar wurden, die Entwicklung konfessioneller Propaganda, die Entfernung von Dissidenten sowie die Ausrichtung von Bildungsinstitutionen auf die jeweilige Konfession. Diese Konfessionalisierung und der Auftakt unserer Moderne gehören zusammen, weil in diesem Prozeß die christliche Religion eine Formgestalt erhält, die bleiben wird, wie immer die Modifikationen und Transfers aussehen werden, die die Konfessionen mit den später neu auftretenden Religionstypen, der aufgeklärten Rationalreligion, der National- und Kunstreligion oder der Wissenschaftsreligion mehr oder weniger freiwillig vollziehen.“ (84f.)

Im sich anschließenden Kapitel „Trauma, erste Hilfe, eine andere Religion" (105-166) geht es um die Angst als treibende Kraft, die langfristigen Erinnerungen bzw. Narben, die der Dreißigjährige Krieg hinterlassen hat und wie diese literarisch verarbeitet wurden und welche Schlussfolgerungen die Menschen daraus zogen. Wie kann aus den kriegerischen Auseinandersetzungen die Transformation des Christentums in eine „Rationalreligion“ gelingen, die Religionsfrieden und Religionsfreiheit ermöglichen kann?

Die „Rhythmen der Aufklärung“ (167-234) untersucht das nächste Kapitel. Am Beispiel von Holland, England, Frankreich, Deutschland und Nordamerika zeigt Eßbach die Vielstimmigkeit des Unternehmens Aufklärung in Sachen Religion.

Im Kapitel „Geheimnis des Herzens“ (235-308) geht es nicht zuletzt um die durch die Aufklärung bewirkte Differenzierung von Religion und Religiosität, die „bis heute die interne Grundlage des Religionsfriedens in Europa bildet“ (240). Als politische Religion ist das Christentum Quelle religiösen Unfriedens, während die Privatreligion nach eigenem Gewissen ausgeübt werde und daher weniger konfliktträchtig ist. Es geht um das Modell der religio duplex. Das hat Folgen bis in die aktuellen Religionskonflikte und –diskurse in der Gegenwart.


An dieser Stelle schiebt Eßbach ein Intermezzo ein, das dem „Kampf der Aufklärung gegen den Teufelsglauben“ (319-378) gewidmet ist. Was sich zunächst etwas merkwürdig anhört, ist aber die Entfaltung der Rationalisierung der Welt. Eßbach stellt dazu die „Medizinisierung des Dämonischen“ (327-348), die „Ästhetisierung des Hässlichen“ (349-362) und die „Moralisierung des Bösen“ dar. Das Kapitel zur Ästhetisierung widmet sich dabei auch den Integrationsleistungen der Kunst.

„Eine qualitative Wendung nimmt die Teufelsdarstellung im europäischen Kulturkreis mit Lorenzo Lottos Gemälde „Der Heilige Michael verjagt Luzifer" (ca. 1554) und Tintorettos „Versuchung Christi" (1578-81). Bei Lotto ist der Teufel kein Drache oder mißgestaltetes Wesen mehr, sondern ein schöner Engel mit einem prägnant individualisierten menschlichen Antlitz. Er ist nicht Fürst dieser Welt, umgeben von seinen Heerscharen, sondern einsam und in -einer Angst und Hilflosigkeit geradezu Mitleid erregend. Tintoretto zeigt in der Ambivalenz von Sinnlichkeit und Traurigkeit eine Schönheit des Teufels, bei der die lockende Versuchung in eine melancholische Stimmung getaucht ist.“ (349)

Auf diese Weise holt die Aufklärung quasi die bisher nicht integrierten Bereiche nach und nach in ihren Diskurs hinein.


Der zweite Teil des Buches trägt den schlichten Titel „Revolution“ (379-752) und bringt zunächst unter der Kapitelüberschrift „Ursprung und Ziel der Begeisterung“ (381-452) die Revolution als „die beherrschende Zeiterfahrung im Europa der Jahre 1789-1848“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Für die Rolle der Religionen in Europa ist die Französische Revolution ein elementares Ereignis, auch wenn die Religionspolitik der Revolutionäre selbst bis heute kontrovers beurteilt wird. Der Kult um die Revolutionäre hatte ja durchaus religiöse Züge und ihre Etablierung des „Kultes des höchsten Wesens und der Natur“ kann durchaus als neureligiöse Bewegung begriffen werden.

An dieser Stelle (421ff.) schiebt Eßbach eine Auseinandersetzung mit der Säkularisierungsthese ein. Zur Problematik schreibt er:

Generell muß freilich anerkannt werden, daß Aussagen über die quantitative Verteilung von Glaubensintensität und religiösem Desinteresse für vergangene Epochen kaum seriös zu machen sind. Klagen über die wachsende Ungläubigkeit gehören ebenso zum diskursiven Repertoire aller Formationen von Religion wie die europäische Konstante einer Verspottung der Religion in der Tradition der Satiren des Lukian. Religiöses Desinteresse, Spott und Verachtung der Religion gegen­über sind als ein Zeichen für eine Entchristianisierung kaum zu gebrauchen. (423)

Er plädiert dafür, sich von der Säkularisierungsthese zu verabschieden.

Insgesamt muß festgestellt werden: die Säkularisierungsthese krankt an ihrem Finalismus, mit dem eine Modernisierungszwangsläufigkeit unterstellt wird. Sie verdankt sich eher einerseits der Wissenschaftsreligion und andererseits der pessimistischen Weltanschauung, die unter den Intellektuellen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Anhän­ger gewinnen. (426)

Es folgen Auseinandersetzungen mit Friedrich Schleiermachers Kritik der Rationalreligion und den als kritisch beurteilten Konzepten von ‚Ersatzreligion‘. 

Das Kapitel „Neue Religionen“ (453-560) behandelt zwei Religionen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert entwickeln, ausbreiten und zu den wichtigsten religiösen Bewegungen der Neuzeit werden: die Kunstreligion und die Nationalreligion. Mit der Romantik werden Hoffnungen auf einen neuen kunstvermittelten Glauben als heilige Poesie geweckt, der jenseits der Institution Kirche funktionieren sollte. Mit Friedrich Schlegel gesprochen: „Laßt die Religion frei, und es wird eine neue Menschheit beginnen.“ Und die Nationalreligion kann als Versuch begriffen werden, „Nation als symbolische Form, soziale Konstruktion, kollektive Identität und fiktive Gemeinschaft begreifbar zu machen oder den Glauben an die Heiligkeit der Nation als „Diesseitsreligion" zu beschreiben“ (453).

Im Kapitel „Ewige Rechte, ewige Linke“ (561-660) geht es quasi um vertiefende Untersuchungen, dieses Mal am Beispiel der Rechts-Links-Unterscheidung bzw. der Differenzierung von „Radikal oder Fundamental“.

„Die Rechts-Links-Unterscheidung entsteht in der Revolutionsperiode nicht als rein politisches Phänomen, vielmehr kommuniziert sie mit zentralen Gehalten der religiösen Überlieferung. Sie aktualisiert zwei Verweise auf Offenbarungsinhalte: Den Verweis auf das kommende Reich des Friedens und der Gerechtigkeit und den Verweis auf den Sündenfall. In die Rechts-Links-Unterscheidung sind zwei Offenbarungsinhalte eingelassen, denen dogmatische Qualitäten zukommen.“ (659)

Im letzten Kapitel des zweiten Teils geht es unter der schönen Überschrift „Hegel & Söhne“ (661-742) um die Varianten radikaler Kritik der Religion. Hegel wird verstanden als „konsequentester Entwurf einer Darstellung des Göttlichen im Irdischen, der Identität von Religion und Philosophie.“ „Hegels Söhne“ probieren danach verschiedene Varianten des Verstehens und Kritisierens von Religion durch: David Friedrich Strauß und Ludwig Feuerbach versuchen,  das Christentum auf seine anthropologische Basis hin zu befragen. Marx und Stirner gehen über zur radikalen Kritik der Religion. Diese radikale Kritik der Religion ist, wie Eßbach schreibt, prägend für die Religionsdeutung bis in unsere Gegenwart geworden.


(Zwischen-)Fazit:

Eßbachs Studie ist, ich schrieb es einleitend, eine außerordentlich gewinnbringende Einführung und Erörterung der verschiedenen Ausprägungen von Religion in der europäischen Neuzeit. Ich kann es nur jedem am Verstehen von Religion zur Lektüre empfehlen und bin gespannt auf das zweite Buch.

Der noch ausstehende zweite Band soll zeigen, wie auch die Religionen inzwischen auf einem Markt agieren, einem Weltmarkt der Religionen und Weltanschauungen, und in einem weiteren Teil, was die beobachtbare Artifizierung der Lebenswelten für Konsequenzen für die Religion hat.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/94/am495.htm
© Andreas Mertin, 2015