Kreuzzüge oder: Vom Kampf ums Paradies

Eine Buchvorstellung

Andreas Mertin

Cobb, Paul M. (2014): Der Kampf ums Paradies. Eine islamische Geschichte der Kreuzzüge. Unter Mitarbeit von Michael Sailer. Darmstadt: Zabern, Philipp von.

Gibt man im korpuslinguistischen Lexikon des Wortschatzes Deutsch der Universität Leipzig das Wort „Kreuzzug“ ein, so erhält man für die Ergebnisse folgenden einfachen Graphen:

Das Ergebnis überrascht nicht. Aus der westlichen Sicht – und so wird es in unseren Schulen ja auch vermittelt – dominiert der päpstliche bzw. religiöse Einfluss auf die Geschichte der Kreuzzüge. Ihr Aufruf führt letztlich dazu, dass sich Ritter und Teile der europäische Bevölkerung zum Marsch auf Jerusalem bereitmachen. Dass sich diese Sicht der Dinge in der muslimischen Literatur so nicht spiegelt, ist eine der ersten Erkenntnisse des hier vorzustellenden Buches, das die konventionelle Sicht auf die Kreuzzüge für manchen Europäer auf den Kopf stellt.

Die Welt erscheint als auf den Kopf gestellt – so wie es auch auf dem hier abgebildeten Blatt des Kartographen und Geographen Abu Abd Allah Muhammad ibn Muhammad ibn Abd Allah ibn Idris al-Idrisi (1100-1166) erscheint. Und dieses Weltbild muss erst einmal in seiner Tragweite realisiert werden. Rom hat dort erst einmal keine Bedeutung und das mittelalterliche nordwestliche Europa ist in seine Schranken verwiesen. Natürlich ist diese Welt auf Mekka – und nicht auf Jerusalem – fokussiert und spiegelt vor allem die geopolitische Situation, wie sie sich in islamischer Sicht darstellt.

Wenn man sich dagegen ein Bild von einem heutigen Atlas mit einer Darstellung des Jahres 1000 anschaut, dann sieht man eine etwas andere Gewichtung der Verhältnisse, aber auch, dass um 1000 die Welt aus islamischer Perspektive noch gut geordnet ist: Das Kalifat von Cordoba ist auf dem Höhepunkt seiner Macht, die Fatimiden beherrschen den südlichen Mittelmeerraum einschließlich Siziliens.

Hier setzt das Buch von Paul M. Cobb an und verweist darauf, dass aus islamischer Sicht die Verhältnisse schon vor den Kreuzzügen sich zu ändern beginnen: Es fängt an mit der Eroberung Siziliens (das bereits 1095 nicht mehr islamisch beherrscht ist) und der Zersplitterung und späteren almoravidischen Beherrschung von Al-Andalus.

Wie überhaupt die innerislamischen Verwerfungen eine viel größere Rolle spielen, als es die Rede von „den Kreuzzügen“ zulassen würde. Hier bekommt das Buch streckenweise eine überaus erschreckende Aktualität. Städte wie Aleppo, Bagdad, Kairo, Damaskus usw., von denen es berichtet, sind allzu oft eben auch heute Orte der gewaltsamen Auseinandersetzung weniger des Westens mit dem Islam, als vielmehr der islamischen Gruppierungen untereinander.

Das Buch teilt sich in einen Prolog und einen Epilog mit 9 dazwischen liegenden Kapiteln. Die ersten zwei Kapitel des Buches beschäftigen sich mit den Rahmenbedingungen der Auseinandersetzungen, also der Gegenüberstellung des Hauses des Krieges und des Hauses des Islam sowie der Zug der Franken in den Süden Europas. Das dritte Kapitel widmet sich zunächst den ebenfalls vor dem ersten Kreuzzug liegenden und dessen Erfolg begünstigenden Eroberungen des Vorderen Orients durch Seldschuken und Türken. Erst dann beginnt die Geschichte dessen, was wir den Ersten Kreuzzug nennen, der mit der Eroberung Jerusalems seinen Höhepunkt findet. Das vierte Kapitel schildert dann die verwickelten Auseinandersetzungen nach dieser Zeit, die manche überraschende Einsicht bieten: „Und so kam es im September 1108, in der ersten der vielen ironieträchtigen Paarungen in der Politik jener Epoche, zu dem denkwürdigen Spektakel, dass auf den Ebenen nahe Tall Bashir der fränkische Herrscher von Antiochia Seite an Seite mit muslimischen Truppen des Herrschers von Aleppo gegen den muslimischen Herrscher von Mossul als Repräsentanten des Sultans und dessen fränkische Verbündete aus Edessa in die Schlacht zog“ (S. 147). Die weiteren Kapitel folgen den Auseinandersetzungen in Andalusien, Afrika, Ägypten und Syrien weiter. Schnell wird so deutlich, dass der gewohnte Fokus auf die Kreuzzüge zu eng ist.

Das sechste Kapitel widmet sich nicht nur den Handelsbeziehungen von Franken und Muslimen (also dem Leben mit dem Feind), sondern auch der Figur des Saladin und seiner Rückeroberung von Jerusalem. Das siebte Kapitel dreht sich um den dritten Kreuzzug, während das achte Kapitel dem Einbruch der Mongolen in die Welt des Vorderen Orients gilt. Das neunte und letzte Hauptkapitel schließlich skizziert das Aufkommen der Osmanen und der Verlagerung der Auseinandersetzungen auf den Balkan. Mit dem Fall Granadas in Andalusien endet das Buch.

Zusammenfassend kann Cobb sagen: „der wichtigste Faktor in der religiösen Geschichte des Islams in dieser Epoche waren nicht die Kreuzzüge, sondern eher ein ganzes Spektrum neuer Positionen, die Neubewertungen und Reformen in den Bereichen von Recht, Theologie und Glauben forderten und die man als eine Art ‚sunnitische Erweckungsbewegung‘ bezeichnen könnte. Fast immer waren Christen, Juden und häretische Abweichler innerhalb des Islams die Zielscheibe dieser Lehren. Wie wir gesehen haben, hatten diese neuen Ansätze jedoch eigene Ursachen und Quellen, die wenig mit der religiösen Bedrohung durch die Kreuzzüge zu tun hatten. Was die Kreuzzüge hingegen zweifellos beförderten, war die muslimische Staatenbildung. Aber selbst hier war die Wirkung indirekt.“ Und Cobb sagt zugleich: „Was die islamische Geschichte nicht erklären kann, ist die weit verbreitete moderne Darstellung der Kreuzzüge als Geburtsstunde eines angeblich epochalen Zusammenpralls zwischen ‚Islam und Christentum‘. So sehr fränkische und muslimische Ideologen auch bemüht waren, ihre Konflikte als totalen Krieg gegen die Feinde Gottes darzustellen, und so sehr viele, vielleicht die meisten Franken und Muslime gehofft haben mögen, es sei so, war die Wirklichkeit doch eine ganz andere. Dies war kein Kampf Islam gegen Christentum, sondern bestenfalls ein Konflikt zwischen ‚fränkischen‘ Völkern einerseits und bestimmten muslimischen Gemeinschaften andererseits, in dem allgemeine Ansprüche auf religiöse Wahrheit oder einen Heiligen Krieg fast immer hinter spezifische regionale und politische Interessen zurücktraten.“ (S. 347f.)


Was bringt das Buch den Leserinnen und Lesern? Zunächst einmal ein neues Koordinatensystem der Ereignisse. Die gängige Überbetonung der „Kreuzzüge“ wird relativiert, die Rahmenbedingungen werden hervorgehoben. Überraschend die Erkenntnis, wie oft muslimische und fränkische Vertreter gegen konkurrierende muslimische und fränkische Herrscher paktierten. Die große Auseinandersetzung von Islam contra Christentum sieht anders aus. Atemberaubend macht das Buch seine Aktualität im Blick auf die Rhetorik des Kalifats der IS. Ich glaube, wenn man begreifen will, warum die IS so handelt, wie sie handelt, warum sie diese Sprache pflegt und was ihre Ziele sind, dann muss man Cobbs Buch – das ja eigentlich von einer ganz anderen Zeit handelt – lesen. Denn es ist, als ob die IS einfach 800 Jahre Geschichte ausblenden würde, nur um in einem Tigersprung in die Geschichte unmittelbar in die Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Franken und Muslimen nach 1100 zurückzukehren. Weniger Lehren aus der Geschichte wollen sie ziehen, sondern die Geschichte dort korrigieren, wo sie nach ihrer Ansicht in der Zeit der Kreuzzüge falsch gelaufen ist. Insofern ist Cobbs Buch nicht zuletzt ein unverzichtbarer Beitrag zum Verstehen der Gegenwart.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/94/am499.htm
© Andreas Mertin, 2015