Was ich noch zu sagen hätte ...

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Andreas Mertin

Heiliger Gender

Als Papst Franziskus vor einem Jahr die Gendertheorie nach Auskunft eines launigen Weihbischofs als dämonisch bezeichnete, wusste er wahrscheinlich nicht, dass die inklusiven Sprachformen aus dem Herzen des Katholizismus stammen und dort gepflegt wurden, als im bis dato nicht aufgeklärten Europa noch niemand an Gender dachte. Es ist überaus peinlich, wenn man etwas als feindlich bekämpft, was aus den eigenen Reihen stammt und so lange goutiert wurde, wie es dem eigenen Handeln nützlich war. So lange also die Rede von den Heiligen und den Heiliginnen der katholischen Kirche diente, fand man das passend, seitdem einige Frauen aber dazu übergegangen sind, von Priestern und Priesterinnen zu sprechen, ist es von Übel. So weit so gut.

Aktuell kann man mit der Feindschaft gegen „Gender“ (also mit der eigenen Dummheit) in der katholischen Kirche offenkundig Karriere machen. Bar jeder Kenntnis der dahinter stehenden Gedanken wird polemisiert und unterstellt, verzerrt und gelogen, nur um sich als treu katholisch darzustellen. Nun hat das in Teilen der katholischen Kirche ja schon länger Tradition.

Aktuell profiliert sich eine Journalistin namens Birgit Kelle mit Gender-Bashing. Ich kannte die Dame nicht und musste mich erst in der Wikipedia über sie sachkundig machen. Sie kann auf eine beeindruckende Vita (freilich ohne Bezüge zur Gendertheorie) verweisen: Arbeiten für die Blockwartseite kath.net, für ein online-Magazin des Kopp-Verlages, den Bayernkurier, für eigentümlich frei und die Junge Freiheit. Die taz schrieb einmal über sie, sie propagiere „das Mutterdasein als ein heiliges Frauenideal“. Nikolaus Schneider meinte, ihre Kritik der Gendertheorie sei eine „populistische Anbiederei an veränderungsunwillige konservative Kreise“.

Was mir als erstes, als ich auf ihre Schriften stieß, auffiel, war, dass sie es mit der Wahrheit nicht ganz so genau nimmt; Hauptsache der Feind stimmt. Da kann man schon mal Tatbestände in ihr Gegenteil verkehren, nur damit das passende Ressentiment bedient wird. So schreibt sie in ihrem Buch über „GenderGaga. Wie eine absurde Ideologie unseren Alltag erobern will“:

Ja, genau, die Bibel, dies historische Unterdrückungspamphlet. Wie kann es denn sein, dass diese Bibel bis heute noch im Umlauf ist? Weltweit! Insofern sollten wir vor allem der Evangelischen Kirche in Deutschland wirklich sehr dankbar sein, dass sie sich mithilfe der Gender-Theologie ans Werk gemacht hat, die christliche Welt ebenfalls endlich gerecht zu gestalten. Das Jahr 2006 kann also ohne Untertreibung als Meilenstein für die Gender-Gerechtigkeit bezeichnet werden, als endlich die „Bibel in gerechter Sprache“ erschien.

Nun, ich unterstelle einmal, dass Frau Kelle als Journalistin sorgfältig recherchiert, bevor sie bestimmte Thesen über etwas in die Welt setzt. Sie weiß also, dass „Die Evangelische Kirche in Deutschland“ nicht ein Analogon zur katholischen Kirche ist, sondern die institutionelle Bezeichnung der Verwaltungseinheit, in der sich die Evangelischen Landeskirchen in Deutschland zusammengeschlossen haben. Und sie wird im Rahmen der Recherchen zu ihrem Buch festgestellt haben, dass der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland sich (zu meinem größten Bedauern) gegen die Bibel in gerechter Sprache ausgesprochen hat. Wie kann man dann aber gegenüber den Leserinnen und Lesern behaupten, die Evangelische Kirche in Deutschland habe diese Bibel in Auftrag gegeben? Warum lügt frau hier? Was begründet ihr Interesse daran, die Evangelische Kirche im falschen Licht dastehen zu lassen? Ich weiß es nicht, da muss jemand schon sehr viel Hass im Herzen tragen. Die Bibel in gerechter Sprache, an der ja auch katholische Theologinnen mitgewirkt haben, musste mühsam ihre Existenzberechtigung im Protestantismus erkämpfen. Und keinesfalls ist es so, dass das in der Zahl der beteiligten Frauen und Männer bei der Übersetzung zum Ausdruck kommende Geschlechterverhältnis normativ vorgegeben war. An der Bibel in gerechter Sprache, die aus frühen Projekten des Evangelischen Kirchentages hervorgegangen ist, konnte mitarbeiten, wer wollte. Aber die Not, eine sozial- wie geschlechtergerechte Sprache bei künftigen Übersetzungen zu berücksichtigen, war bei Frauen offenkundig größer als bei Männern. Es würde freilich bei Rassismusprojekten in Amerika niemand den Vorwurf erheben, dass hier mehr Schwarze als Weiße mitgearbeitet hätten. Das würde man selbst wieder als impliziten Rassismus bezeichnen. Und in Fragen der Benachteiligung von Frauen in der theologischen Sprache dürfte vermutlich Ähnliches gelten.

Aber Frau Kelle weiß das noch zu steigern. Ich musste es mehrmals lesen, um wirklich zu realisieren, dass jemand in der binnenkonfessionellen Auseinandersetzung zu derartigen Ungeheuerlichkeiten greift, ein Beispiel für den Verfall aller guten Sitten in der kontroversen Auseinandersetzung:

Das muss die ausgleichende Gerechtigkeit dafür sein, dass über zwei Jahrtausende nur Männer die Bibel übersetzt haben. Jetzt wird mit gerechten Bibel-Versen zurückgeschossen.

Das setzt die Übersetzungsarbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bibel in gerechter Sprache in Parallele mit Hitlers rhetorischer Rechtfertigung des deutschen Überfalls auf Polen. Die Sprachfigur ist identisch und die gewollte Analogie unbestreitbar. Allein das Wort „zurückgeschossen“ ist schon signifikant, „jetzt wird zurückgeschossen“ ist es noch viel mehr. Das ist ungeheuerlich! Es kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass man sich auf einen kontroversen Standpunkt bezieht. Es ist nicht nur eine Banalisierung des Überfalls auf Polen in all seinen schrecklichen Konsequenzen, es ist zugleich auch eine ungeheuerliche Beleidigung aller Wissenschaftler, die an der Bibel in gerechter Sprache mitgewirkt haben und die dabei insbesondere dem christlich-jüdischen Dialog der letzten Jahrzehnte Rechnung getragen haben. In meinen Augen desavouiert so ein Satz jeden Menschen dauerhaft, der ihn ausspricht.

Dagegen ist der restliche Text nur intellektuell peinlich und durch performative Selbstwidersprüche gekennzeichnet.

Hat doch die ganze Gender-Bewegung etwas Sakrales an sich. Hier wie dort werden ja keine Forschungsergebnisse präsentiert, sondern Wahrheiten verkündigt. Hier wie dort muss man schon dran glauben, denn beweisen lässt es sich ja nicht. Möglicherweise sollten die Gender Studies endlich den Rechtsstatus einer Kirche beantragen. Damit wären die Professorinnen Hohepriesterinnen und sicher lässt sich im Kleingedruckten auch noch ein Dogma der Unfehlbarkeit verankern, damit sollten die letzten Kritiker endlich ruhig gestellt sein. Natürlich muss es dann auch Strafen geben für die Gender-Ketzer, die immer noch die Biologie verteidigen. Strafe muss sein, ihr Ungläubigen!

Das ist in seiner Polemik nur noch dumm. Denn natürlich beansprucht die katholische Theologie durchaus, Forschungsergebnisse zu präsentieren, die nach Wissenschaftskriterien verdienen, wahr genannt zu werden, und sie hat selbstverständlich Vertreter und Vertreterinnen an den Staatlichen Universitäten, ohne dass diese Hohepriester oder Hohepriesterinnen genannt werden. Das Dogma der Unfehlbarkeit ist dagegen kein kirchliches, sondern spezifisch ein katholisches Problem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Alles, was Frau Kelle hier schreibt, wirft ein außerordentlich schlechtes Bild auf ihr Verständnis von (katholischer) Kirche. Wenn ich es recht sehe meint sie, Kirchen – und hier meint sie ganz sicher die katholische – würden sich durch ostentative Sakralität, durch glauben statt beweisen, durch strafende Hohepriester im Gestus der Unfehlbarkeit auszeichnen. Gott sei Dank trifft sie damit nicht die Evangelische Kirche.

Massenmord als Missionsanlass

Dass auf evangelischer Seite der Umgang mit Sprache nicht viel besser ist, zeigte die evangelikale Nachrichtenseite Idea mit einem Redaktionskommentar zum Absturz des Germanwings-Fluges von Barcelona nach Düsseldorf. Ein Klaus Rösler schreibt dort über die Reaktionen der Repräsentanten der Evangelischen Kirche in Deutschland und meint, diese seien angesichts des Geschehens sprachlos geworden. Zwar hätten die verschiedenen Vertreter ihre Solidarität mit den Opfern, ihre Fassungslosigkeit und ihren Willen, zu helfen bekundet, aber:

Haben Protestanten in so einer Notsituation wirklich nicht mehr zu sagen?

Und er folgert: Die EKD hat eine Chance vertan. Eine Chance? Welches Subjekt sagt so etwas? Massenmord als Chance? Und als Chance wozu?

Der Absturz wenige Tage vor Ostern könnte doch eine Steilvorlage sein, um die Hoffnung der Christen auf ein Leben in Ewigkeit bei Gott anzusprechen.

Man liest es und man glaubt es nicht. Massenmord als Missionsanlass! Welches perverse Gottesbild steckt dahinter?

Heißt das nicht wirklich, Lug und Trug für Gott vorbringen? Ist es also tröstlich, dass Gott den Massenmord gewählt hat, um seinen Schäfchen den Gedanken an die Ewigkeit nahezubringen? Wie pervertiert kann Denken sein? Die Freunde Hiobs hatten wenigstens drei Tage geschwiegen, bevor sie begannen, sein Leiden zu rationalisieren, indem sie es in das Handeln Gottes einzuordnen und damit zu nivellieren begannen. Aber Klaus Rösler dreht das Ganze um: Das Leiden der Menschen ist kein Anlass, an Gott zu zweifeln, sondern eine „Steilvorlage“, um missionarisch einen Treffer zu erzielen. So eine Sprache und so ein religiöses Denken widern mich an. Sie sind menschenverachtend durch und durch. Da kann ich jeden Atheisten und jeden Humanisten dieser Welt verstehen, wenn er sich ekelnd von diesem Christentum abwendet.

Aber Rösler kann sich ja in seiner Denke und seiner Sprache auf ‚bewährte' theologische Traditionen berufen. Kein Geringerer als Helmut Thielicke war es, der in seinem Buch „Das Leben kann noch einmal beginnen“ schrieb:

Das Leiden ist auf keinen Fall programmwidrig. Was auch an Grauen uns umgeben mag; dies alles kann unserem Herrn die Pläne nicht durchkreuzen, sondern das alles liegt gerade im Zuge seiner Pläne.

Und in „Wie die Welt begann“ dies auch historisch präzisierte:

[Gott] ließ das Experiment des Dritten Reiches konsequent bis zu Ende durchspielen, und keines der sieben oder elf Attentate auf Hitler durfte dieses Experiment unterbrechen, niemand durfte seinen kommenden Gerichten in den Arm fallen oder sie vorwegnehmen.

Auschwitz als Experiment Gottes um den Menschen seine Souveränität zu zeigen. Auch das ist: widerwärtig.

Ob Auschwitz oder Massenmord durch Flugzeugabsturz: Jedes Mal wird ein schreckliches Ereignis der Zeitgeschichte herangezogen, um es für die eigene krude Theologie zu instrumentalisieren: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn sei gelobt. Man selber befindet sich natürlich immer auf der richtigen Seite, nicht auf der der Opfer, sondern auf jener, die scheinbar mit Zustimmung Gottes den Menschen erklärt, warum und wozu sie leiden mussten, warum die Osterbotschaft angeblich darüber hinwegtröstet, dass die Leiber von Zehntklässlern nun zerfetzt in einen Gebirgstal der französischen Alpen liegen. Und wer diese frohe Botschaft angesichts des sinnlosen Leidens nicht verkündet, der ist eben ein religiöser Stürmer, der eine Steilvorlage (Gottes?) nicht nutzt:

Dabei hätte die EKD vor den Medienvertretern und damit vor Millionen im Fernsehen, im Hörfunk und den Printmedien die wichtigste Botschaft in dieser Situation verbreiten können: dass nämlich dank Kreuz und Auferstehung der Tod nicht das letzte Wort hat! Was kann es in dieser Situation Trostreicheres geben?

Wenn das der Trost ist, den die christliche Kirche angesichts eines Massenmordes zu verkünden hat, soll er ihr im Halse stecken bleiben.

In der Sache geht es aber vermutlich um sehr viel weniger. Der Idea-Redakteur Klaus Rösler wollte selbst diesen schrecklichen Anlass dazu nutzen, der EKD eins auszuwischen. Darin ist er ein guter Kumpan von Birgit Kelle & Co.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/94/am501.htm
© Andreas Mertin, 2015