Tempel, Synagoge, Kirche, Moschee

Ein sakralraumpädagogischer Vergleich

Kim de Wildt

Interviewer: Und warum ist es wichtig das Schüler dieses Wissen vom Islam bekommen? Warum sollen sie das wissen?

Moscheepädagogin: Weil es immer viel Rudimentärwissen gibt. Rudimentär so: Das Wissen über Islam wird reduziert auf die fünf wichtigen Glaubenspraxen. […] Und natürlich, ich hatte letztens zum Beispiel eine Frage, oder haben Sie ja auch gehört, solche Fragen: wieso beten Frauen hinten? Wieso tragen Frauen Kopftücher? Also, auf diese, ich sag mal, Randerscheinungen wird der Islam reduziert und das ganze Drumherum wissen die Leute gar nicht, was heißt es überhaupt an Gott zu glauben?  Was heißt das überhaupt: im Islam? […]

Interviewer: Und sie lassen den Kindern auch selber diesen Gebetshaltungen annehmen.

Moscheepädagogin: Damit sie spüren, wie das ist. Weil man sieht das, und das ist ja interessant. Das sieht man ja auch bei ganz anderen Religionen, die ja auch gewisse Körperhaltungen haben. Und ich denk ja auch, das muss man mal nachgeahmt haben, damit die wissen, was machen die und wie ist das, wenn ich da auch stehe. Also dieses Fremde wird dadurch aufgehoben.

Diese Interviewausschnitte machen Teil aus von einem Interview, das ich im Anschluss an eine von mir beobachtete Moscheeführung mit einer Schulklasse in Bonn mit der dort tätigen Moscheepädagogin geführt habe. Diese Textteile deuten an dass die Pädagogin bestimmte Ziele verfolgt, weswegen Sie Moscheeerkundungen veranstaltet und dass diese Ziele ihre Themen –und Methodenwahl beeinflussen. Das gilt im Grunde für alle SakralraumführerInnen, bzw. SakralraumpädagogInnen, aber die Zielsetzungen unterscheiden sich sehr zwischen den verschiedenen Konfessionen und Religionen, und das hängt unter anderem zusammen mit dem Faktum, ob es eine Religion der Mehrheit oder der Minderheiten ist.

In diesem Aufsatz möchte ich einen kleinen Einblick anhand einiger Beispiele verschaffen in die Welt der Sakralraumpädagogik, um ihre Verschiedenheit an Form und Inhalt und die dahinterliegenden Ziele zu verdeutlichen. In unserer religiös und auch kulturell heterogenen Gesellschaft kommen, neben den schon länger bestehenden Kirchenraumerkundungen, jetzt auch immer mehr Initiativen anderer Religionsgemeinschaften in Deutschland auf, die ihre Sakralräume der Öffentlichkeit zugänglich machen wollen. Um unsere heutige Kultur verstehen zu können, sind nicht nur Kenntnisse über unser jüdisch-christliches Erbe gefordert, sondern auch Kenntnisse über die religiösen Änderungen in der Gesellschaft. Dass unsere Gesellschaft sich schon längst im Wandel befindet, wird auf vorbildliche Weise anhand des Beispiels der Sakralräume klar. Wo diese in der Vergangenheit die Mitte der Gesellschaft bildeten und christlich waren, hat sich heute die Sakraltopographie drastisch geändert. Die Bedeutung, die der Sakralraum einst besaß, hat sich für viele Menschen heute drastisch gewandelt: Er bildet nicht mehr immer die konkrete und auch die geistige Mitte des Lebens, sondern ist manchmal nur noch eine Randerscheinung.  Trotz dieser Tatsache ist Religion noch immer eine Größe von Bedeutung: nicht-christliche Sakralbauten, vornehmlich Moscheen, erscheinen im Stadtbild. Das alles geschieht nicht problemlos: Sowohl der Abriss von christlichen Sakralbauten als auch das Errichten von nicht-christlichen Sakralbauten sind verbunden mit heftigen gesellschaftlichen Emotionen. Hier könnte die Sakralraumpädagogik einen wichtigen Beitrag leisten an Toleranz und Respekt zwischen den Religionen. Das leibliche Erfahren von sowohl christlichen als auch nicht-christlichen Sakralbauten steigert aber nicht nur unser Verständnis von Religion, von ihrem Stellenwert und der Bedeutung für uns selbst und in unserer Gesellschaft; wichtiger noch ist, dass das Erfahren von Sakralbauten auch das Verständnis unserer gesellschaftlichen Kultur insgesamt vertiefen kann. Die Sakralraumpädagogik kann einen Beitrag leisten für dieses Verständnis unserer Kultur als einer religiös pluralistischen Kultur, wobei die religiösen Traditionen in ihrer baulichen Formenvielfalt als Schlüssel zur Kultur betrachtet werden können. Heutige wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen nicht mehr von Entkirchlichung der Gesellschaft, sondern eher von religiöser Transformation. Die Sakralraumpädagogik macht diese Transformation leiblich und konkret wahrnehmbar und erfahrbar, indem sie von der religiösen Pluralität Rechenschaft ablegt.

Bisher gibt es wenig wissenschaftliche Literatur darüber, wie diese nicht-christlichen Sakralraumführungen genau ablaufen und welche Ziele damit verfolgt werden. Deswegen mache ich schon einige Zeit am liturgiewissenschaftlichen Seminar der Universität Bonn eine vergleichende Studie in der Praxis der Sakralraumpädagogik. Dieses Projekt bezieht sich auf Sakralraumführungen mit Schülern in Gebetshäusern der verschiedenen Religionsgemeinschaften in Nordrhein-Westfalen. Die Grundannahme dieser Studie ist es, dass die Sakralraumpädagogik religiöse Bildung in unserer multikulturellen Gesellschaft auf erfahrungsorientierte Art und Weise ermöglichen kann, statt nur Kenntnisse über nicht-christliche Religionen zu vermitteln und so einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag an gesellschaftlichen Zusammenhalt liefern kann.

Wie gesagt werden verschiedene Fragen in diesem Projekt untersucht, um Einsicht in das Feld der Sakralraumpädagogik zu gewinnen. Erstens wird mittels teilnehmender Beobachtung versucht herauszufinden, was überhaupt bei den unterschiedlichen Sakralraumführungen geschieht. Welcher Formen und Methoden bedienen die SakralraumführerInnen sich? Und welche Glaubensinhalte werden während einer Sakralraumerkundung thematisiert? Ziel dabei ist es herauszufinden, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten es zum Beispiel bei einer Sakralraumführung in einem hinduistischen Tempel oder einer Moschee gibt. Danach ist zu fragen, was im Zentrum dieser pädagogischen Herangehensweise steht: der, bzw. die Schüler, oder der Sakralraum? Legt der Sakralraumführer den Schwerpunkt auf architektonisches Wissen, wie zum Beispiel den Gebäudestil oder die Geschichte des Gebäudes? Oder liegt der Fokus eher beim Lernprozess der Schüler mit Fragen wie: Wie fühlst du dich in diesem Raum? Oder mit Methoden wie dem Einüben bestimmter Gebetshaltungen? Zweitens wird anhand von Interviews mit den Sakralraumführern untersucht, welche Motivationen, Zielsetzungen und Erwartungen sie haben: Warum machen sie diese Arbeit? Was hoffen sie damit zu erreichen? Und nicht zuletzt: Inwieweit gelingt dies?

Bisher fanden 2013 und 2014 vier Beobachtungen statt: eine in einer katholischen Kirche, in einem Hindutempel, einer Synagoge sowie einer Moschee. Die Kirchenraumerkundung im Bonner Münster wurde von zwei Kirchenpädagoginnen durchgeführt, außerdem waren zwei Lehrer anwesend und 30 Schüler einer katholischen Realschule für Jungen. Die Gruppe wurde in 2-en aufgeteilt und von jeweils einer Kirchenpädagogin begleitet. Im Dortmunder Hindutempel gab es einen Tempelführer und eine Tempelführerin, drei Lehrer und drei Klassen einer Realschule. Auch hier wurden die Schuler in 2 Gruppen aufgeteilt und von jeweils einer Tempelführer/In begleitet. In der Kölner Synagoge gab es einen Synagogenführer, einen Klassenlehrer und 35 Schüler einer Hauptschule. Bei der Moscheeführung in Bonn gab es eine Moscheeführerin, eine Klassenlehrerin und 25 Schüler einer Gesamtschule. Im Anschluss an die Beobachtungen habe ich mit den SakralraumpädagogInnen ein etwa anderthalb Stunden dauerndes Interview durchgeführt.

Nach einem ausführlichen Vergleich zwischen den einzelnen Beobachtungen ist aufgefallen, dass die Sakralraumführer sich sehr unterschiedlicher Methoden bedienten. Es wird zu weit führen um alle Elemente der einzelnen Beobachtungen zu besprechen, aber einige Bespiele werde ich nachfolgend beschreiben.

Die ersten Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Methoden zu beobachten gewesen ist. Im hinduistischen Tempel war die Herangehensweise zum Beispiel sehr wissensorientiert: fast jeder Altar und die darin ansässige Gottheit wie auch die zugehörige Symbolik wurden sehr ausführlich erklärt. Damit war die Führung sehr anschaulich, aber eine echte Erkundung fand kaum statt, da die Klasse nur zuhörte. Auch wurde viel erzählt über die Architektur des Tempels.  Bei der Kirchenerkundung kann hingegen wirklich von einer Erkundung gesprochen werden: Es fand zum Beispiel ein Schwellenritual statt, wobei jeder einzeln erst eine Glocke läutete und danach in die Kirche eintrat. Dabei sollten sie sich merken, was ihnen beim Betreten des Kirchenraumes zuerst auffiel. Auch die Moscheeführung war als eine Erkundung zu bezeichnen: Hier hatten die Schüler den Gebetsraum näher kennengelernt, indem sie sich selbst aufmachten den Raum zu erkunden, samt einer Arbeitsaufgabe: das Ausfüllen eines Lückentextes zu den Themen Moscheearchitektur und Gebet. Auch der Körper wurde sehr mit einbezogen, indem die Schüler zum Nachahmen der islamischen Gebetshaltungen eingeladen wurden. Der Synagogenführer vermittelte auch viele Informationen, aber er orientierte sich stark an den Fragen der Schüler selbst.

Die Interviews haben die Beobachtungen teilweise bestätigt, aber auch zum Teil widerlegt. Zuerst fielen die unterschiedlichen Begründungen auf, weshalb die Sakralraumführer ihrer Arbeit nachgingen. Die Kirchenpädagogen verstehen ihre Arbeit als eine Möglichkeit, Schülern den Glauben (wieder) nahe zu bringen. Das kirchenpädagogische Angebot ist also in diesem Fall wahrzunehmen als eine Herangehensweise, die von einer innerchristlichen Perspektive ausgeht. Dies wurde auch deutlich in der Beobachtung: die Schüler nahmen teil an rituell-liturgischen Handlungen wie dem Beten des Vaterunser, was als eine monoreligiöse Handlung klassifiziert werden kann. Die nicht-christlichen Sakralraumführer machten ihre Arbeit, um die Minderheit in der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft hervorzuheben und Vorurteile abzubauen.  Bei der Moscheeerkundung war auch eine interreligiöse Perspektive wahrnehmbar, indem die Schüler selber die islamische Gebetshaltung annahmen um diese Gebetsweise selber körperlich erfahren zu können. Bei der Synagogenführung wie auch bei der Tempelführung wurde mehrmals die jeweilige Glaubenstradition mit dem Christentum verglichen, um den Glauben zu verdeutlichen: hier wurde also eine eher multireligiöse Perspektive angenommen.

In allen vier Interviews haben die Sakralraumführer gesagt, ihr Ziel sei nicht nur Wissensvermittlung, sondern auch Bildung: Man möchte nicht nur kognitiv arbeiten, sondern auch die Emotionalität und die Erfahrungsebene des Schülers fordern. Außerdem war es ein Anliegen, das Ganze interaktiv zu gestalten und nicht wie einen rein akademischen Vortrag auszurichten. Trotz dieser ganzheitlichen Zielsetzung wurde das nicht immer, außer in der Kirche und in der Moschee, optimal erreicht. Die anzuwendende Methodik bei einer Sakralraumerkundung sollte sich sowohl am Sakralraum, wie auch an den Schülern und der Beziehung zwischen diesen beiden orientieren, weil Raum nicht ein gegebenes Etwas ist, sondern letztlich immer bestimmt wird von dieser Interaktion, der gelebten Beziehung zwischen Mensch und Raum.

Das Einsetzen von affektiven und ganzheitlichen Lernmethoden ist nicht immer einfach. In den Interviews war eine Scheu wahrnehmbar, indem mir ständig deutlich gemacht wurde, dass man nicht missionieren möchte. Wenn zum Beispiel mit einer religiös gemischten Schülerschaft gebetet wird kann das, nicht zu Unrecht, auf Ablehnung stoßen. Dennoch ist es möglich, sich mithilfe interreligiöser Methoden oder dem Lernen mit allen Sinnen, auch an den Schülern selbst zu orientieren, damit die Lernerfahrung nicht reine Wissensvermittlung bleibt. Erfolgreiche religiöse Bildung wird zunehmend erschwert durch das Faktum, dass immer weniger Heranwachsende selber Erfahrungen mit Religion machen. Um wirklich verstehen zu können, was Religion in Bezug auf die eigene Identität bedeutet und was sie in unserer heutigen multireligiösen Gesellschaft ausmacht, ist es nötig, selber aus erster Hand Erfahrungen mit Religion machen zu können. Sakralraumpädagogik kann in dieser Hinsicht als `best practice‘ verstanden werden, weil es diese erfahrungsorientierte und ganzheitliche religiöse Bildung ermöglicht. Die letzten bildungswissenschaftlichen Erkenntnisse deuten an, dass der Lernprozess vorangetrieben wird in reichen, authentischen Lernumgebungen. Diese authentischen Lernumgebungen ermöglichen das Lernen mit allen Sinnen sowie auch das Lernen mit ‚Kopf, Herz und Hand‘. Sakralräume der religiösen Traditionen in unserer Gesellschaft sind herausragende Beispiele solcher Lernumgebungen. Trotz der zunehmenden Virtualisierung des Raums, was durchaus als ein nicht zu verneinender Mehrwert in fast allen menschlichen Bereichen verstanden werden kann, ermöglicht erst die leibliche Erfahrung im konkreten Raum, und speziell im Sakralraum, diese Formen der Bildung und kann somit ein Beitrag liefern für gegenseitigen Respekt.

Dieses Projekt ist noch nicht fertig: Beobachtungen von Sakralräumen und Interviews mit Sakralraumführern anderer Konfessionen und Religionen sollen noch stattfinden. Eine der Zielsetzungen ist es, einen Leitfaden für Sakralraumpädagogen zu erstellen, der neben fundierten zugänglichen Kenntnissen auch praktische, ganzheitliche und erfahrungsorientierte Arbeitsmethoden für eine schülergerechte Sakralraumerkundung bietet.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/94/kdw3.htm
© Kim de Wildt, 2015