„Social Media – Glaube in der digitalen Welt“

Eine Internetanalyse und ihre Folgen für die Nordkirche

Kornelius Fürst

Weitermachen wie bisher?! Auf das Bewährte setzen?! Abwarten, um zu sehen, wie sich alles entwickelt?! – Spannende Fragen auf dem Theologischen Tag zur zukünftigen Entwicklung der Evangelischen Kirche im Zusammenhang mit einer 2012 von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland bei der Hamburger Medienagentur Fuerstvonmartin in Auftrag gegebenen Analyse zur religiösen Kommunikation im Internet. Die Ausgangsfrage dieser Untersuchung lautete: Wie und wo läuft der Diskurs zu religiösen Themen in der Welt von Internet, Facebook, Blogs und Foren? Und welche Inhalte werden dabei besprochen, in welcher Intensität?

Im Anschluss an die Darstellung der wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung skizziert der zweite Teil den methodischen Ansatz der Studie. Der dritte Teil quantifiziert ausgewählte Daten der Erhebung und notiert Schlussfolgerungen für das kirchliche Handeln.

1. Die wichtigsten Ergebnisse der Social Media Analyse „Nordkirche und Spiritualität“
  • Viele Onlinenutzer sprechen über ihren Glauben an Gott, wollen aber nicht in die Kirche gehen.

So schreibt am 24.02.2013 auf dem Ratgeberportal gutefrage.net der User Antidevil95 (sic!): „Ich selber bin auch mehr der Freigeist und versuche mich bestmöglichst nicht an Kirche, usw. zu binden, sondern einfach nur an Gott und Jesus zu glauben.“ Derlei klare Positionierung fällt häufig ins Auge. Und passt nahtlos zu folgender Erkenntnis:

  • Viele hilfesuchende Menschen wenden sich mit ihren Problemen lieber an die Netzgemeinde als an die Kirche.

User Fizzgig formuliert es am 03.12.2012 bei answers.yahoo.com so: „Ich bin manchmal innerlich etwas aufgewühlt und unruhig, was sich dann auch leider in den (Arbeits-) Alltag erstreckt ... Als Christ, der heidnisches Yoga und diesen ganzen esoterisch angehauchten Meditationskram ablehnt, würde ich gerne wissen, wie Ihr das so macht.“

  • Trotz zahlreicher christlicher Foren wenden sich die Menschen online bevorzugt an „weltliche“ Seiten.

Schokobobon99 am 09.04.2013 beispielhaft – wieder auf dem Ratgeberportal Gutefrage.net: „In Moment müssen meine Familie und ich viel durch machen (...) man kann sagen, dass es besonders mir echt mies geht! Ich habe schon so viel dafür gebetet, ich habe gott gebeten i.wie einzugreifen wie er es will aber so kann es nicht mehr weiter gehen!“ Welche Offenheit gegenüber der großen Netzgemeinde!

  • Junge Menschen haben sich nicht vom Glauben abgewandt, bevorzugen aber den Austausch im Netz.

„Das ist doch Quatsch, ich glaube an Gott und geh trotzdem in keine Kirche, Moschee oder Synagoge. Warum muss man das immer miteinander verbinden, ich kenn mich zwar mit Religionen aus, aber lebe nicht danach, weil ich es sinnlos finde, das muss aber nicht zwingend was mit meinem Glauben an Gott zu tun haben,“ schreibt Cheekyside am 29.12.2012 bei maedchen.de. Ein vermeintlich ungewöhnlicher Ort, derlei Privates in dieser Seriosität zu besprechen.

  • Schicksal und Trauer sind die dominierenden Themen im Netz.

Aufrichtig und anrührend Alexas Quote bei answers.yahoo.com am 18.12.2012: „Ich bin 14 Jahre alt, mein Vater ist vor einiger Zeit gestorben. Ich komme immer noch nicht damit klar. Egal wo ich bin und steh ich denke nur an ihn, meine Freunde versuchen mich mit den lustigsten und buntesten Dingen abzulenken, aber es klappt meist nicht.“

  • Diskussionen in katholischen Communities überwiegen deutlich gegenüber anderen christlichen Angeboten.

Bisweilen wähnten sich die Rechercheure in einem theologischen (mindestens Pro-)Seminar. Ein Beispiel von Karl bei mykath.de am 24.03.2013: „Die ignatianische Spiritualität ist grundsätzlich eine Laienspiritualität. Ignatius war nicht nur in der Zeit Laie, als er die Exerzitien konzipiert hat, sondern auch während der Zeit, als aus seinem Freundeskreis die Anfänge des Ordens entstanden sind.“ Evangelische Angebote werden für thematische Diskurse kaum genutzt.

  • Die Liste der am häufigsten genutzten Online-Medien enthält keine signifikanten Angebote der evangelischen Kirche,

lautet daher eine weitere wesentliche Erkenntnis.

2. Der methodische Ansatz der Untersuchung

Zunächst waren in einem Workshop die relevanten Themenfelder erarbeitet worden, diese wurden daraufhin in Ober- und Unterbegriffe unterteilt. Im nächsten Schritt wurden diese Themen in für das Analysetool Brandwatch verständliche Suchabfragen „übersetzt“, mit Hilfe derer nutzergenerierte Inhalte aus Quellen wie Blogs, Foren, Nachrichtenseiten oder sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter durchsucht werden konnten. Aus Gründen des Datenschutzes wurden die gewonnenen Informationen anonymisiert und pseudonymisiert verarbeitet und weitergegeben. Da personenbezogene Daten nicht berücksichtigt wurden, spielt in der vorliegenden Untersuchung Facebook nur eine untergeordnete – vermutlich nicht der realen Nutzung entsprechende – Rolle.

Für die Untersuchung gewählt wurde der Zeitraum vom 1. November 2012 bis zum 30. April 2013, weil dieser die Weihnachts- und Ostertage beinhaltete. Die erfassten Daten wurden anschließend sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgewertet. Eine quantitative Übersicht über die häufigsten Suchbegriffe gab einen schnellen Überblick über deren Relevanz. Welche Wörter und Phrasen tatsächlich im Vokabular der Nutzer zu finden sind und welche kaum bis gar nicht genutzt werden, konnte so ebenfalls abgebildet werden. Die quantitative Analyse lieferte zudem eine Übersicht über die für dieses Thema populärsten digitalen Plattformen.

Einen wesentlich höheren Arbeitsaufwand erforderte die qualitative Analyse der Daten. Hierzu wurde der Großteil der Beiträge gesichtet und hinsichtlich Relevanz und Tonalität bewertet, wichtige Themen herausgefiltert und von den Internetnutzern häufig verwendete Begriffe in einer Begriffswolke abgebildet.

3. Quantifizierung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen für das kirchliche Handeln

Insgesamt wurden zum Thema Spiritualität 217.383 Nutzerbeiträge ausgewertet. Zum Vergleich: Beiträge zu E-Plus, einer in den sozialen Medien vielbesprochenen Marke, wurden im selben Zeitraum insgesamt 57.698 Nutzerbeiträge veröffentlicht. Täglich gab es also etwa 1100 User-Beiträge zum Thema Glauben/Spiritualität im deutschsprachigen Internet. Kontrollmessungen bis September 2014 bestätigen diese Werte. Auffällig sind die Orte, an denen kommunikative Interaktion zu Glaubens-Themen stattfinden: Knapp 33% auf Newsportalen. Die intensivsten Diskussionen ließen sich allerdings in Foren messen, die mit einem Anteil von 26% die zweitpopulärste Plattform stellen. Hierzu gehören auch die oben genannten Ratgeberportale wie Gutefrage.net und ähnliche.

Mehr als die Hälfte aller Beiträge befasst sich mit Glück, christlicher Spiritualität oder Heilung. Diskussionen rund um die christliche Spiritualität sind nahezu doppelt so häufig wie solche zur nichtchristlichen und nichtreligiösen Spiritualität. Auffällig ist dabei, dass den Nutzern oftmals gar nicht bewusst ist, dass es sich um christliche Themen handelt, denen sie sich im Internet zuwenden. Niedrigschwelliger Zugang, eine oft gewünschte Distanz und Anonymität schaffen eine wachsende Attraktivität. Dafür spricht auch, dass nicht christlich geprägte Communities sondern „weltliche“ Seiten wie Gutefrage.net die wichtigsten Quellen stellen. Ob man es mag oder nicht: hier werden spirituelle Themen zwischen Haushaltstipps und Technikfragen behandelt. Im Umkehrschluss dazu die Nordkirche: Mit durchschnittlich 25 Beiträgen pro Tag steht sie vergleichsweise selten im Fokus.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal zusammenfassen und ein wenig weiter denken:

  1. In der digitalen Welt von Internet und Social Communities (Facebook und Co.) erfolgt täglich eine breite, mächtige Diskussion zu Glaubensthemen.
  2. Die Inhalte sind überwiegend christlich.
  3. Die Dialoge finden meist auf hohem Niveau statt. Sie sind nicht hierarchisch!
  4. Zwischen Seelsorge und Sinnfindung – die Themen im virtuellen Raum entsprechen klassischen kirchlichen Arbeitsfeldern.
  5. Die Kirche hat den kommunikativen Anschluss verloren, die Sprache der Netzgemeinde ist ihr nicht bekannt.
  6. Die Kirche hat eine enorme Chance, sich dieser abhanden gekommenen Zielgruppen wieder anzunähern und diese zurück zu gewinnen. Dazu sollte die Nordkirche ein geeignetes kommunikatives Konzept entwickeln. Die Alternative heißt Rückzug.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/93/kf1.htm
© Kornelius Fürst, 2015