Der Ziegelstein

Bemerkungen zu Thomas Wolfe: Von Zeit und Fluss

Wolfgang Vögele

Thomas Wolfe, Von Zeit und Fluss (engl. Of Time and the River), Manesse-Verlag: Zürich 2014 (engl. 1935).

Schwer wie ein Ziegelstein ist dieses Buch. Für die beinahe zwölfhundert Seiten benötigt der Leser einen langen Atem. Wer sich aber einmal auf diesen Roman eingelassen hat, der kommt bis zum Ende nicht mehr davon los. Das liegt nicht an der spannenden Handlung. Vielmehr lässt der Autor auf keiner Seite davon ab, seinen Lesern mit Nachdruck, Intensität und Begeisterung all das zuzumuten, was ihn im Innersten bewegt. Ursprünglich soll der Roman um die Hälfte länger gewesen sein. Seine gegenwärtige Gestalt gewann er nach einem anhaltend heftigen Kampf, den Autor und Lektor miteinander austrugen. Über diesem erbitterten Streit zerbrach die Freundschaft zwischen beiden.

Der Amerikaner Thomas Wolfe (1900-1938) zieht als Erzähler das Äußere, Wahrnehmbare der Wirklichkeit der Beschreibung psychologischer Innerlichkeit vor. Wolfe berichtet in diesem Roman von der Jugend seines Alter Ego, des Studenten Eugene Gant aus einem kleinen Ort im Süden der USA. Von dort, genauer vom Bahnsteig, bricht er mit dem Schnellzug auf in die Welt: Zuerst macht er einen Abschluss an der Harvard University, in New York unterrichtet er an einem College, mit einem Rhodes Stipendium ausgestattet verbringt er einige Zeit in Cambridge, und von dort reist er weiter nach Paris. Gant in seiner jugendlichen Ruhelosigkeit bleibt stets in Bewegung. Aber über allem Reisen fragt er sich auch, wo Heimat und Herkunft liegen und was er daraus an Erbanlagen und Erbe, an Ballast und Orientierung mitgenommen hat.

Immer wieder beschreibt Wolfe deshalb Zugfahrten, die ihm zum Emblem für die Mobilität und Rastlosigkeit der Moderne werden. Allein die erste Zugfahrt aus dem Süden nach Neuengland nimmt von Bahnhof zu Bahnhof über hundert Seiten in Anspruch. Jede Zeile davon ist es wert, genau gelesen zu werden: Denn Gant nimmt Abschied von seiner Heimat, verlässt das beschützende und dennoch konfliktbeladene Elternhaus. Während der Bahnfahrt nimmt er den Abschied aus dem sicheren Raum der Familie zum Anlass, sich die Frage zu stellen, welchen Lebensweg er gehen und welches Ziel er erreichen will.

By Morn the Gorn, CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) via Wikimedia Commons

Den Bericht über Gants Erlebnisse und Gespräche, seine Begegnungen, Freundschaften und Konflikte unterbricht Wolfe wiederholt mit psalmartigen Lobeshymnen auf Schöpfung, Natur und Leben, in die er sich sprachlich förmlich explodierend hineinsteigert. In der Überfülle der Worte geht gelegentlich der rote Faden des Sachlichen verloren. Wolfe verdichtet in diesen weltlichen Schöpfungspsalmen Ansätze zu einer ganz eigenen Religiosität. Für die konventionellen christlichen Denominationen Amerikas haben Gant - und auch der Autor - nicht viel übrig. Man staunt manchmal, wie wenig sich Wolfe um Religion kümmert. Schon im Kapitel über Boston taucht ein Verwandter Gants auf, der als Makler arbeitet, nachdem er in mehreren unterschiedlichen Denominationen als Pfarrer gescheitert ist. Das Christentum des protestantischen Mainstream taugt Wolfe nur noch zur Karikatur.

Wolfes Schöpfungsfrömmigkeit trägt pantheistische Züge, sie benötigt keinen Schöpfer mehr. Stattdessen spricht er enthusiastisch über Landschaft, Berge, Geschwindigkeit, den Vollmond, die Eisenbahn, das Landleben und den - zutiefst zweideutigen und gefährlichen - Alkohol. Wenn Wolfe sich begeistern will, gleitet ihm nichts in Routine oder Banalität ab. Die Sprache verlässt die Ebene pragmatisch-nüchternen Erzählens und wechselt hinüber zum Ekstatischen und Hymnischen, in die Bereiche, wo sich das Intellektuelle ins Rauschhafte auflöst. Wolfe psalmodiert, er schreibt Schöpfungspsalmen ohne biblischen Hintergrund, und ein wenig erinnern diese Passagen an die Gedichte Walt Whitmans. All seine poetische Kraft legt Wolfe in einen spezifischen amerikanischen Vitalismus der neuen Entdeckungen, der Demokratie, der Gleichheit und Freiheit, ohne dass der Roman darüber zur philosophischen oder politischen Abhandlung wird. Und nicht von ungefähr erinnert der Roman darum von ferne an die pragmatische Philosophie von John Dewey, William James und anderen.

Liebe und Wille zum Leben finden ihre Kehrseite in einer unbedingten Verachtung des Todes, und Wolfe bringt das zum Ausdruck, indem er in einem der stärksten Kapitel ausführlich vom Tod des Steinmetzmeisters erzählt, der Eugene Gants Vater ist. Dieser stirbt an Prostatakrebs, obwohl sich der virile alte Mann mit allen Kräften dagegen zur Wehr gesetzt hat. Verwandte und Geschwister, die Kinder und die vernachlässigte Ehefrau, Eugenes Mutter, dazu der stets alkoholisierte Hausarzt - alle, die nach und nach am Bett des Sterbenden eintrudeln, sie reichen in ihrer Mischung aus Betroffenheit und Gleichgültigkeit nicht an den alten Mann und seinen Todeskampf heran.

Doch bei aller Kraft, mit der er, den die Ärzte längst aufgegeben haben, sich gegen das Sterben wehrt, auch er kann dem Tod nicht entrinnen. Wie Wolfe das in einer Mischung aus Komik, Geduld und Distanz beschreibt, das besitzt die Qualität von großer Literatur. Der studierende Sohn kommt erst am Heimatort an, als der Vater bereits gestorben ist. Sein Tod markiert für ihn die endgültige Befreiung vom Elternhaus.

Er nutzt das Stipendium, das er für Harvard ergattert hat, und belegt dort ein Seminar für Creative Writing. Man diskutiert selbst geschriebene Theaterstücke, aber ansonsten beeindruckt Eugene das Universitätsleben nicht besonders. Man wünscht ihm, er würde sich einmal in eine Frau verlieben, die ihm ebenbürtig ist, und er verabredet sich auch, aber es kommt zu nicht mehr als komischem Geplänkel, das er selbst nach ein paar Treffen zu Hause bei seiner Angebeteten nicht mehr richtig ernst nimmt. Er zieht nach New York, unterrichtet und lernt in dem Hotel, in dem er lebt, neue Menschen kennen. Beinahe verächtlich behandelt der Collegelehrer Gant seine jüdischen Studenten.

Wolfe lässt seinen Helden durch die Welt treiben. Es fällt auf: Gant lernt die Welt kennen, aber er greift nicht in sie ein. Er nimmt auf, er beobachtet, er spricht mit Menschen, und er liest Bücher, fasst den Plan, nach Europa zu reisen. "Von welchen Furien wird dieser junge Mann getrieben, die ihn immerzu über die ganze Erde jagen? Es ist das Denken, das an seinem eigenen Übermaß zugrunde geht, das Herz, das in der Not seiner Enttäuschung zerbricht." (S. 120)

Lakonie ist nicht Wolfes Sache, er greift verbal in die Vollen. Die Sätze atmen den unnachgiebigen Willen dessen, der unbedingt ganz genau ausdrücken muss, was er sagen will, und darum schreibt er einfach jeden Gedanken auf, ohne in einem Korrekturgang die überflüssige Farbe abzuwischen, sodass nur noch das wirklich Wichtige auf der Leinwand haften bleibt. Man merkt mit der Zeit: Wolfe schreibt nicht für seine Leser, sondern für sich selbst. Was der Leser von seinen Sätzen versteht, das interessiert den Autor nicht. Und dennoch legt der Leser das Buch nicht zur Seite, weil er auf jeder Seite neu die Kraft spürt, aus der das Wolfe'sche Schreiben lebt. Der Leser wird davon gepackt, dass Wolfes (und Eugene Gants) Lebensfragen auch die eigenen sind.

Diese Kraft, die Wolfes Schreiben antreibt, ist eine biologische und zugleich eine philosophische und religiöse. In Eugene Gant rumort die eine, die Sinnfrage: Welche Energie treibt das Leben eines Menschen an? Und deswegen stellt Eugene Gant Beobachtungen an, er sieht Theaterstücke und Filme, er beobachtet Menschen in der U-Bahn und beim Spazierengehen, er liest Bücher, er will so viel wie möglich wissen, um das Leben selbst zu verstehen. Die vielen Bücher machen Gant aber auch unruhig, denn die Universitätsbibliotheken von Harvard übersteigen selbst sein Lesevermögen. Und dazu kommt: Wer alles weiß, hat noch lange nicht alles verstanden. Gant wird also unruhig. Diese Unruhe kommt schon im Untertitel des Romas vor: "Legende vom Hunger des Menschen in seiner Jugend". Wolfe spricht vom Hunger in einem metaphorischen Sinn, dem Hunger nach Sinn, Bedeutung, Heimat, Behausung, Schutz. Über seine familiäre Herkunft hinaus sucht Gant nach einer größeren Heimat, die ihn tragen und beherbergen kann. Sein Hunger ist das Begehren, der désir, eine Mischung aus Lebenswillen und -lust, die jedes Leben antreibt. Die Unruhe, die Gant angesichts der Vielzahl von Büchern spürt, veranlasst ihn nicht, sein Unternehmen der Lebenssinnsuche aufzugeben. Darin mag jugendlicher Leichtsinn liegen, dem alle Älteren nur Resignation entgegensetzen können. Demut ist Gants Sache nicht, er will sich mit der Gleichgültigkeit und Kälte der Welt nicht abfinden. Was die Sinnsuche angeht, so läßt der Student Völlegefühl, Sattwerden und Selbstzufriedenheit links liegen. Sein Lebenshunger und sein Sinnhunger lassen einfach nicht nach.

Als literarische Figur ist Gant für Wolfe ein gigantischer Sinnbehälter, der riesige Eimer, in den der Autor sein gesamtes Menschen- und Bücherwissen hineinstopft. Gelegentlich geht darüber jede Kontur und Begrenzung verloren. An anderen Stellen erscheint Gants Persönlichkeit merkwürdig blass und neutral. Und trotzdem lebt der Roman davon, dass die Hauptfigur sich selbst durch Lektüre, Gespräch und Lebenserfahrung zur Persönlichkeit bildet – und gebildet wird. Wolfe interessiert sich für diesen psychologischen Prozess der Sinnstiftung, nicht für das Ergebnis. Für Gant besteht das Leben aus Wünschen, Zielen, Plänen und nicht aus verbrauchter Lebenszeit oder heimeligen Erinnerungen. Eugene Gant ist ein Getriebener, sein Sinn- und Lebenshunger lässt ihn nicht zur Ruhe kommen und treibt ihn durch die halbe Welt, von den Vereinigten Staaten bis nach Europa.

Auf dem Weg zu Sinn und Erfüllung hilft ihm die in den Schöpfungspsalmen beschworene Natur, zum Beispiel in jedem Jahr neu der Frühling. "Das tiefe Brummen der Freude drang durch die singende, klingende Luft, und er sog tausend stolze, starke und geheimnisvolle Düfte in seine Lungen und atmete sie ein als Hauch der Gewissheit, als Zeichen des Wunders und als Offenbarung, dass alle Verwirrung gebannt war - die Welt, die er ersehnte, gewonnen, das Wort, nach dem er suchte, gesprochen, der Hunger, der ihn verzehrte, gestillt und begütigt." (S. 179) Aber dieses Gefühl gewinnt keine Dauer, den Augenblick der erwachenden Natur kann Gant nicht bewahren.


Thomas Cole: The Oxbow

Und er weiß, dass an ihm und in ihm neben dem Lebenstrieb auch andere Kräfte zerren, zum Beispiel seine Herkunft, die Familie des Vaters, die ihn einengen, domestizieren und seine Kreativität bändigen wollen. Für Gant ist es so: Die Alten engen die Jungen ein. Väter versperren den Söhnen ihren Weg hinaus in die Welt. Mit Intrigen und Kumpanei verhindern die Alten, dass die Jungen selbst reif, erwachsen und selbstständig werden. Und für Gant ist der schlimmste alte Mann der eigene Vater, der trotz seiner Krebserkrankung noch ungeheure soziale Macht ausübt, auf die ausgenutzte Ehefrau, auf die restliche Familie und vor allem auf den Sohn. Eugene muss sich befreien, und er befreit sich, indem er von Stadt zu Stadt weiter zieht.

Ein anderes Thema ist das Verhältnis des einzelnen zur Masse. Die Masse der Menschen, Gesichter, Bücher ist nicht überschaubar. Diese Unübersichtlichkeit der Massen bedeutet für die Lebensgestaltung des einzelnen, für Eugene Gant eine schwere Anfechtung. Der einzelne droht in der Masse unterzugehen. Kein Flaneur, kein Spaziergänger kann all die Menschen kennenlernen, die ihm in Gleichgültigkeit, in Freude oder Traurigkeit entgegenkommen. Kein einzelner kann der unübersehbaren Vielfalt der Natur mit Sinn und Verstand entgegentreten. Dagegen muss sich Gant wehren, und er kann es nur tun, indem er seine Individualität, seine Persönlichkeit ausbildet. Trotzdem wandelt er auf einem schmalen Grat zwischen Verzweiflung und Selbstermutigung. Manchmal versteigt sich Gants Lebensphilosophie zu einem patriotischen Amerikabild: "Und immer ist Amerika der Ort der unvergänglichen und hingerissenen Momente, des Auges, das schaute, des Mundes, der lächelte, und des Wortes, des Steins, des Blatts, der Tür, die wir nie fanden und vergessen haben." (S. 207) Wolfe kann sich - vor dem Korea- und dem Vietnamkrieg, vor der Ermordung Kennedys und Martin Luther Kings - noch eines Patriotismus erfreuen, der spätestens am 11. September 2001 aus inneren und äußeren Gründen untergegangen ist.

Eugene Gant lässt sich in den Straßen von New York durch die Massen der Passanten treiben. Ihn beschleicht das unheimliche Gefühl, nicht mehr als eine Ameise unter tausenden von anderen Ameisen zu sein. Individualität geht dabei verloren: Ameisenmenschen sind wertlos, austauschbar, gesichtslos, konturlos, charakterlos. Vor der Masse kann sich das Individuum nur retten, indem es sich unterscheidet. Je mehr sich ein Mensch unterscheidet, desto weniger ist er zu ersetzen. Je mehr sich ein Mensch unter Massen bewegt, in der Fußgängerzone, im Kino, im Fußballstadion, desto mehr fühlt er die Notwendigkeit, sich abzugrenzen.


NYC Mulberry Street (1900)

Diesen Gegensatz zwischen Masse und Einzelnem treibt Wolfe bis zur Grenze der Ermüdung des Lesers. Und dennoch kann niemanden der Furor loslassen, mit dem sich Wolfe in diesen Aspekt hineinsteigert, manchmal über die Grenze der Verbissenheit hinaus. New York, die Megacity, ist das Paradebeispiel der unbegreiflichen, chaotischen Stadt, die von Menschen nur so überquillt, die niemals still steht und jedem ihrer Bewohner das Gefühl gibt, dauernd etwas zu verpassen. New York ist für Wolfe der urbane Proteus, jene mythologische Figur, die ihre Gestalt unablässig ändert und deswegen nicht zu bezwingen ist. Proteus steht für das Chaos, das Überangebot, die unübersehbare Menge, den Inbegriff der Stadt, wo sich Menschen und Straßen überschneiden, den Moloch, dem niemand, der sich ihm ausgeliefert hat, entkommen kann. Gant spürt das: Er kann den urbanen Proteus nicht besiegen, die Masse der Menschen wird stets stärker, nachhaltiger und lebenskräftiger sein als der vergängliche, zerbrechliche und gefährdete Einzelne. Genauso merkt er jedoch: Indem er strampelt, sich gegen die Masse wehrt, gewinnt er selbst allmählich Boden unter den Füßen.

Der Autor unterscheidet einen naiven und einen realistischen Weg, durchs Leben zu gehen. Der naive Weg wird von dem Glauben gespeist, man könne selbst sein Leben heilen, Seligkeit oder Erlösung aus eigenem Antrieb finden. Dieser Weg kann nicht von Erfolg gekrönt sein, deswegen ist er naiv. Den realistischen Weg geht Eugene Gant selbst. Er besteht darin, das Dunkle, Schädliche, Fehlerhafte des eigenen Lebens anzunehmen und nicht dagegen anzukämpfen. Mit dieser Erkenntnis wird Gant nicht geboren, sondern in sie wächst er langsam hinein. Aus seinen dauernden Fluchten erkennt er, dass er sich selbst und den Abgründen seiner Seele nicht entkommt.

Nochmals zum Tod: Der Sohn Eugene spricht mit dem alkoholkranken und depressiven Hausarzt über den Tod des Vaters. Der Arzt empfiehlt eine Art Gleichgültigkeit: "In jeder Sekunde sterben alte Männer, und außer dass sie sterben, geschieht weiter nichts." (S.273) Gleichgültigkeit und Herzenskälte stehen gegen familiäre Bindung, die bleibende Kälte des Universums gegen die Trauer um den alten Mann, den so viele Töchter und Söhne beweinen. Der Arzt ertränkt seine Gleichgültigkeit im Alkohol. Eugene Gant sucht sich einen anderen Weg.

Aber damit nicht genug. Er sieht ein: Die Menschen lernen einander nicht kennen, reden aneinander vorbei. Darum erkennt Eugenes Schwester: "Warum werden wir geboren und leben und sterben auf dieser Welt, ohne je zu erfahren, wie ein anderer tickt? (...) Wir kommen zusammen und reden und sagen, dass wir dies und das denken und fühlen und glauben, doch was wir eigentlich denken und fühlen und glauben, das sagen wir nie." (S. 291) Niemand kann in einen anderen Menschen hineinschauen: Innen spielt sich Chaotisches, Undurchsichtiges ab, das nicht einmal derjenige vollständig durchschaut, der es selbst erlebt. Niemand versteht sich selbst. Niemand versteht den anderen. Es macht keinen Sinn, auf Wahrheit, Klarheit und Durchsichtigkeit zu bestehen. Wolfe schreibt seinen Entwicklungs- und Bildungsroman, um die psychologischen und philosophischen Grenzen des Menschseins auszuloten: das Alter, den Tod, das Nachlassen der geistigen Kräfte, die Undurchschaubarkeit des eigenen Selbst, die Undurchschaubarkeit der anderen.


By Diliff, "Boston - Charles River View 2006". Licensed under CC BY 2.5 via Wikimedia Commons

Das Sterben des bewunderten und gefürchteten Vaters erinnert an den ewigen Fluss der Zeit, der sich natürlich an allen Flüssen des Romans - der Charles River in Boston, die Themse in London, die Seine in Paris - und zivilisatorisch an Eisenbahnen und Zugfahrten zeigt. Menschen und Dinge sind in Bewegung, lassen sich weder festhalten noch konservieren. Leben, Dauer und Nachhaltigkeit werden ständig sozusagen unterspült. Am Anfang des Lebens versucht der Vater, sich und seine Familie vor solchen Veränderungen zu schützen. Aber irgendwann, spätestens wenn er stirbt, hört er damit auf. Im Treibsand des Lebens kann sich niemand dauernd durch den eigenen Vater retten lassen.

Der Einzelne schwebt in seinem Leben in einer Wolke aus Unwissenheit und Konflikt, in einem Nebel, in dem er nur selten klar sehen kann; er muss sich langsam vorantasten und aufpassen, dass er nicht gegen die Mauer der Wirklichkeit prallt. Der Student Eugene Gant, dem Wolfe beharrlich und vertraulich in diesem Roman folgt, bemerkt in einem langen Erkenntnisprozess, dass er sich nicht in Wolkenkuckucksheime flüchten darf.

Er versagt sich jegliche Form des Eskapismus. Die Welt ergibt für ihn keinen Sinn, der jenseits ihrer selbst läge. Die Welt kann nur selbst dieser Sinn sein. Damit ist die Bewegung gekennzeichnet, die das ganze Buch in seiner Tiefe charakterisiert: die ekstatische Feier des Lebens, das aus sich selbst heraus wächst, vergeht und wieder neu ersteht. Hinter dem Leben verbirgt sich keine zweite Ebene von religiöser Bedeutung oder philosophischem Sinn, das Leben findet seinen Sinn in sich selbst.

Nach Boston, New York und Oxford folgt Paris, und dort lernt Gant noch einmal eine ganz andere Weltstadt kennen, nur etwas später als Rilkes Tagebuchschreiber Malte Laurids Brigge, der so schön von den Tapisserien der Dame mit dem Einhorn im Hotel de Cluny schreiben konnte. Anders als Malte Laurids Brigge scheint jedoch Eugene Gant die europäische Metropole nicht richtig ernst zu nehmen. Er lernt die Sprache nicht richtig, zusammen mit einer Clique von Freunden durchstreift er die französische Hauptstadt, feiert Partys, betrinkt sich, besucht Varietés und Kabaretts. Am Ende wird er - darin gleicht er nun Rilkes Malte - in der Fremde auf seine väterliche Heimat zurückgestoßen. Eugene entdeckt den Vater in sich selbst, er lernt und sieht ein, dass er sich von der Familie nicht nur abgrenzen kann. Er entdeckt, dass ihn die väterlichen Wurzeln am Leben erhalten.

Und er macht eine zweite Entdeckung: In der Kunst, besonders in der Literatur, kann ein Mensch diesen gewaltigen Prozess des Lebens verstehen und verarbeiten. Wolfe sieht die Arbeit des Künstlers darin, die "Menschengeister in Netze voller Magie zu locken, sein Leben durch sein Schaffen obsiegen zu lassen, seine Lebenssicht, den rohen und schmerzhaften Stoff seiner Erfahrungen in flammende, betörende Bilder umzuformen, die nun selbst der Inbegriff des Lebens sind, das Grundmuster, nach dem sich alles andere richtet, der Kern der Ewigkeit. Das ist der Grund, weshalb ein Künstler schöpft und lebt, und der ihn antreibt: Er will den Lehm des Lebens und seiner eigenen Natur und seines Vaters gewöhnlicher Erde voll Mühe, Schweiß, Gewalt, Irrtum und bitterer Not die Schönheit einer dauerhaften Form abringen, die Menschen mit seinem Zauber versklaven und bezwingen, ganze Generationen in seinen Bann schlagen, auf den Knien den Tod niederringen, den Tod gänzlich ausrotten und mit den Enterhaken seiner Kunst die Ewigkeit festhalten." (S. 691) Der Dichter ist der Zauberer seines eigenen Lebens.

Zunächst einmal ist der Künstler nicht auf eine äußere Instanz angewiesen. Zu Religion, Politik, Nation muss er nicht Zuflucht nehmen, um sich selbst zu erkennen und einzuordnen. Auch die Politik spielt nur eine Nebenrolle. Das Nationale, Patriotische kommt vor, Wolfe bewundert die amerikanische Unbefangenheit, den Mut, Schritte ins Neuland zu wagen, das Bewusstsein der Grenzüberschreitung. Aber bis auf wenige Stellen in den psalmartigen Passagen bleibt auch die Nation ein Nebenthema.

Eugene Gant ist damit beschäftigt, sich selbst zu entdecken. Er lebt als Mensch, und er deutet als Künstler. Der Romancier (und Tagebuchschreiber) Wolfe beobachtet sich selbst in der Verkleidung seiner Romanfigur: als Sohn, als Studenten, als Lehrer, als Bohemien, als Reisenden, als Trinker, als Genussmensch und als Flaneur. Dieses Wechselspiel zwischen Leben und Beobachtung ist zugleich offener und geschlossener Regelkreislauf.

Eugene Gant ist eben beides, ein Einzelner, der sich von allen anderen abheben will, und ein Jedermann, in dem der Leser sich selbst entdeckt. Der Künstler, der diesen einzelnen Jedermann beschreibt, ist Priester, Arzt und Sänger zugleich; er intensiviert die schnöde Wirklichkeit. Das schafft er durch eine genauere Wahrnehmung, die er zugleich dichter beschreiben und besser in Worte fassen kann. Mit seiner Sprache schafft der Künstler Intensität, Tiefe und Konzentration. Und Wolfe bleibt nicht bei nüchterner Beschreibung, er faßt den Mut zu Ekstase und Enthusiasmus.

Die Hauptfigur ist bestimmt von ihrem ungeheuren Hunger nach Bildung, Wissen und Kenntnissen. Gant liest, sieht, trinkt, bis an die Grenzen seiner Kräfte und darüber hinaus, obwohl er von vornherein weiß, dass seine geistigen und körperlichen Kräfte diesem vielfältigen und verästelten Chaos der Welt nicht gewachsen sein können. Trotzdem rennt er sich stets an derselben Mauer den Kopf ein und fängt danach unbekümmert von vorne an. Er sieht, darin ganz der Jungspund, der sich im Besitz unendlicher Kräfte glaubt, nicht die natürlichen Grenzen seiner Wahrnehmungsfähigkeit. Er schont sich nicht und ruht sich nicht aus. Er will sich nicht der Einsicht beugen, dass sich schon in einem Detail das Ganze widerspiegeln kann, sodass es nicht nötig ist, jedes Buch zu lesen und jede Flasche Wein zu trinken.

Die Wahrheit ist keine Enzyklopädie, und dabei konnte Thomas Wolfe das Internet noch gar nicht kennen. Gant gibt nicht auf, und kein Zweifel, keine Müdigkeit und Traurigkeit können ihn davon abbringen, den Kampf weiter zu kämpfen, den aufzunehmen er sich entschlossen hat. Gant kämpft, ohne auf seine Kräfte Rücksicht zu nehmen. In dieser Maßlosigkeit liegt ein Teil der Größe dieses Romans. Er ist deshalb in einem bestimmten Sinn ein Roman über die Jugend, weil er die Beschränkung aus Einsicht, Reife, körperlicher Schwäche, Alter oder anderem nicht kennt.

Über eine Reihe von Seiten gibt Wolfe seinen Lesern einfach Notizen aus den fiktiven Tagebüchern Gants weiter. Aber kreativ kann nur werden, wer sich eingrenzt, wer die Überfülle der Eindrücke links liegen lässt und es schafft, sich nur mit einem einzigen Projekt zu beschäftigen, das er schließlich zur Vollendung bringt. Gant kämpft - das wird aus den Notizbüchern deutlich - auch mit seinem eigenen Unglück. Wiederholt lässt er sich davon in die Tiefe ziehen. Er sehnt sich nach Gelassenheit, aber er sieht diese Gelassenheit nur bei anderen, bei sich selbst kann er sie nicht ausbilden. Gelassenheit ist der Versuch, nicht sofort und überhitzt auf jede Kränkung und Demütigung, auf jeden bösen Zufall zu reagieren. Heftigkeit und Schnelligkeit helfen nicht weiter. Gelassenheit ist die Zuversicht, manchmal mit einer Reaktion zu warten, bis sich die Dinge von selbst erledigt haben. Gant muss selbst entscheiden, aber das hindert ihn nicht an dem Wunsch, dass eine Autorität an seiner Statt die Entscheidung trifft oder mindestens einen Rat gibt. Der Flaneur Gant, der sich in Pariser Cafés betrinkt, sehnt sich - wie könnte es anders sein? - nach dem verstorbenen Vater.

Das Heimweh zieht den Amerikaner Gant aus Frankreich zurück in die Vereinigten Staaten, zurück an das Grab seines Vaters, in den kleinen Ort in den Südstaaten, wo er aufgewachsen ist. Gant notiert immer längere Passagen in seine Tagebücher: Mit überschwänglichen Worten will er sich die Heimat schaffen, die ihm fehlt. Die vielen Notizen kompensieren die fehlende Orientierung, die der an Krebs verstorbene Vater nicht mehr erbringen kann. Und Gant bezieht sich nicht nur auf den leiblichen, psychologischen Vater, Wolfe führt den Gedanken über die Psychologie hinaus weiter auf die Beziehung des einzelnen zur väterlich-mütterlichen schöpferischen Welt, in die der Student, Sohn, Lebemann hineingestellt ist, ohne dass er das gewollt oder entschieden hat. Der Pariser Flaneur, zu dem Gant geworden ist, resümiert die Lebensaufgabe der Selbstfindung so: "Denn was sind wir, mein Bruder? Wir sind ein Geisterflackern kummervoller Sehnsucht, ein phantomhaftes Phosphorzucken in der Unendlichkeit der Zeit, Kurzlebigkeit heimgesucht von der Ewigkeit der Erde. Wir sind ein unaussprechliches Gesprochenes, ein unersättlicher Hunger und unstillbarer Durst; eine Begierde, von der unsere Adern bersten, die unsere Gehirne sprengt, unsere Gedärme krank macht und verdirbt und unsere Herzen entzweireißt." (S. 1079) So klingt es, wenn Wolfe zur poetischen Hochform aufläuft, wenn er das Erzählen vergisst und sich im psalmodierenden Jubel über das Leben verliert. Überträgt man das auf die bildende Kunst, so finden sich Parallelen eher in den stürmischen Landschaften Homer Winslows als in den biederen Baseball- und Suburbia-Idyllen Norman Rockwells.

 

Am Ende des Romans schifft sich Gant auf einem Dampfer ein, der ihn aus Frankreich in die Vereinigten Staaten zurückbringt. Auf dem Schiff beobachtet er die Passagiere. Und auch diese Szene gerät ihm zur Metapher: Alle Menschen sind Getriebene, Schiffsfahrer, Passagiere und sitzen im selben Boot. Menschen sind auf dieser Welt nicht zuhause und haben doch das unbedingte Bedürfnis, sich auf der Welt und in ihrem Leben zuhause zu fühlen.

Wolfes Roman ist eine religiöse, anthropologisch-metaphysische Meditation, ohne doch selbst Religion zu sein. In diesem Buch ist eine besondere Kraft zu spüren, eine Mischung aus Enthusiasmus und unbedingtem Lebenswillen, und diese Kraft lässt den Leser elfhundert Seiten lang nicht los. Wolfe hat einen Roman gegen das taedium vitae geschrieben, er wollte Langeweile, Erstarrung, Banalität etwas möglichst Kraftvolles entgegensetzen. Kein anderes Ziel verfolgte er als das Leben mit Kraft und Energie aufzuladen. Er hat das so gut gelöst, dass dieser Funke noch neunzig Jahre später auf den Leser überspringt. Eugene Gant verbraucht seine Lebensenergie in vollen Zügen, darin gleicht er seinem Vater, der seine Lebensenergie als Steinmetz einsetzte. Er gebrauchte seine Kraft, um Steine zu behauen, sein Sohn macht es genauso, aber nicht auf einer handwerklichen, sondern auf einer intellektuellen und literarischen Ebene. Darin, in der beharrlichen Rückkehr zu dieser Lebenskraft, ist Eugene Gant unbeirrbar.

Wolfe starb im Alter von 38 Jahren an einer Lungenkrankheit. Man kann sicher sein: Wäre er älter geworden, er hätte noch mehrere Fortsetzungen dieses wunderbaren Romans geschrieben. Und auch sie hätten die Lektüre gelohnt.

Internetlinks

Download der englischen Version als Ebook: https://ebooks.adelaide.edu.au/w/wolfe/thomas/of-time-and-the-river/

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/94/wv16.htm
© Wolfgang Vögele, 2015