Politische Predigt als Information zu einer bestimmten sozialen oder politischen Situation

Eine persönliche Vergewisserung

Hans Jürgen Benedict

Dies ist ein Text für das homiletische Fachgespräch zur politischen Predigt am 7./8.3. 2014 in Wittenberg: ich habe ihn nicht vorgetragen, er diente mir zur Vorbereitung auf meine abendliche Diskussion mit Friedrich Schorlemmer über das Thema: Politische Predigt in Ost und West im Vergleich.

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Eine biographischer Rückblick anhand von Stichwörtern: Eine politische Rede gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr hätte ich hören können bei der Anti-Atom-Demo 1958 auf dem Rathausmarkt von Hans Joachim Kraus, meinem späteren Lehrer, ich war aber nicht dabei.

Sprung ins Jahr 1968. Demo von 500 Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern gegen die Notstandsgesetze in am 8. Mai Bonn, ich war dabei, weiß aber nicht mehr, wer geredet hat.

1968 habe ich am Osterdienstag geredet auf dem Husemann-Platz in Bochum als theologischer Assistent nach den Anti-Springer-Demos, bei denen in München zwei Menschen zu Tode kamen. Ich war Assistent von H.E. Bahr, der Predigt als Teil der öffentlichen Meinungsbildung (Westeuropa) verstand. Kritische Publizität ist das Stichwort. Dazu unsere Publikationen – Macht von unten, Verkündigung als Information, Gottesdienst und Öffentlichkeit, Politische Gemeinde. Predigt soll aufscheinen lassen, was die Ideologie verbirgt, bzw. die Springerpresse (Vietnamkrieg) verschweigt. Sprechen für die, die keine Stimme haben (MLKing). War mehrfach beim Politischen Nachtgebet Köln 1968 dabei – Vietnamkrieg, El Salvador, Strafvollzug, Gastarbeiter: Information, Meditation, Aktion. Friedensforschung.

1973 Veröffentlichung meiner Dissertation „Das christliche Friedenszeugnis in der Weltpolitik am Beispiel des Koreakriegs“ unter dem Titel: „Von Hiroshima bis Vietnam. Eindämmungsstrategie und ökumenische Friedenspolitik“ bei Luchterhand (Die Fakultät erkennt das wegen der Hinzufügung des Vietnamkapitels nicht als Dissertationsdruck an). Projekt über Rüstungsarbeiter: „Eingriffe in die Rüstungsindustrie“ 1975. Endes des Vietnamkriegs!

Sprung: Besetzung Bauplatz Brokdorf Herbst 1977, in die ich mehr zufällig gerate. Einige Pfarrerkollegen sind im Talar dabei, ein Foto von ihnen wird zur Ikone für die neuen Polit-Pastoren.

September/Oktober 1977: Meine Analyse der Ev. Rundfunk- und Fernsehverkündigung im Deutschen Herbst : Aktualität als Einstimmung-Aufatmen, Empörung, Wut. Wie kann Gott das zulassen – die Theodizeefrage, das Böse und die Bösen, Liebe gegen Hass – das Gebot der Feindesliebe als Mittel der Differenzierung, Dank und Freude über Geiselbefreiung in Mogadischu, Opfer, Schuld und Vergebung – die Rede von Gott in gesellschaftlicher Krise – das Zerschlagene im lösenden Wort zusammenfügen und die sanfte Stimme der Vernunft. Privileg genutzt, vertan?

Friedensbewegung 80er Jahre – 1980 Ordinationspredigt Recklinghausen Ablehnung von CA XVI, Amt der Versöhnung, viele Friedenspredigten zu Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung, gegen die Androhung der Vernichtung von Gottes Schöpfung, Selig die Friedensstifter, ziviler Ungehorsam. Die große Rede Dorothee Sölles auf der Bonner Hofgartenwie­se, Mutter Erde, 1981; eigene Reden auf Kundgebungen und Versammlungen mit gemischter oft kirchenkritischer Zuhörerschaft – weltlich von Gottes Frieden reden, gar nicht so einfach.

Mit U. Kleinert gestalte ich einen Brokdorf-Gottesdienst in St. Katharinen – gefährliche Symbolik: Verteilung kleiner Eisensägen (Bauzaun!). Hauptpastor Stolt verbietet uns die weitere Kirchennutzung. Ich beginne auch Friedensgedichte zu verfassen, die gut ankommen. Kurze Ansprachen bei Blockaden.

Gottesdienst mit 1000 Schülern und Demo gegen Irakkrieg als Schulpastor 1991. Politische Predigt wird weniger in den 90er Jahren. Demo und Gottesdienst gegen Sparpolitik der Kirchenführung (drohende Abwicklung der Hochschule). Rede auf dem Hamburger Ostermarsch 2005. Mitmachen beim Kreuzweg für die Flüchtlinge am Karfreitag 2010 -2013.

2014 Protestaktion gegen Waffenexport über den Hamburger Hafen. Mein Freund Störmer und ich hängen während der Debatte in der Bürgershaft ein Plakat über die Brüstung und werden vom Senatsdiener ermahnt, das Plakat sofort wegzunehmen. Wolfgang Rose, Mitglied der Bürgerschaft und engagierter Christ, fragt uns, was das denn soll. Teilnahme an einem Politischen Nachtgebet in der Christianskirche zum Rüstungsexport wegen Waffenlieferung an die Kurden, die gegen den IS kämpfen.

Was ich gut finde an anderen Formaten: politische Predigt als Amnesty-Gottesdienst am Buß- und Bettag. Kreuzweg für Flüchtlinge am Karfreitag. Kanzel für Journalisten, Ärzte Adventsempfang der Bischöfin mit kritischem Wort an die Adresse des Ersten Bürgermeisters (etwa in der Flüchtlingsfrage) in Hamburg.

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Explizite politische Predigt gilt in der Praktischen Theologie als überholt .Ich finde das nicht. Denn den impliziten politischen Predigten, die ich kenne, mangelt es an konkreter Durchdringung der gesellschaftlichen Situation. Ich kann von zwei Versuchen politischer Predigt/Predigt als Information in den letzten Jahren berichten – der eine am 1.Mai 2011, als der Tag der Arbeit auf einen Sonntag fiel (die Predigtstudien erwähnten das mit keinem Wort) und ich in der Hauptkirche St. Jacobi zu predigen hatte. Der andere im Uni-Gottesdienst zur messianischen Abrüstung (Sach 9) und zur Rüstungsklausel an den Universitäten.

a) Bürgerlich-mittelschichtige Personalgemeinde in der Innenstadt, vierschiffige gotische Kirche mit Arp Schnitger-Orgel und einem interessanten Lukas-Altar, der Evangelist als Patron der Maler, Predigttext ist Joh 21, der österliche Fischzug des Petrus. Damit beginne ich, indem ich die Geschichte, die ja von vergeblicher Arbeit handelt, nacherzähle, und dann:

Und jetzt springe ich in unsere aktuelle Gegenwart, denn heute ist der 1. Mai, der Tag der Arbeit, ich springe von dem Fischer und Reichgottesarbeiter Simon Petrus in Galiläa zu Jan Prüm in Norderstedt. Jan Prüm ist Leiharbeiter, angestellt bei der Leiharbeitsfirma Randstad, lese ich in einer Reportage der Zeitschrift zeitzeichen zum Tag der Arbeit: „Seit fast 10 Jahren montiert der gelernte Industriemechaniker Gabelstapler für die Firma Jungheinrich in Norderstedt bei Hamburg. Mit vielen Unterbrechungen: Prüm war in den vergangenen Jahren mal immer wieder arbeitslos, mal eine Woche, mal zwei Monate, einmal auch länger als ein Jahr. Weil der 32jährige nicht Angestellter bei Jungheinrich, sondern bei der Leiharbeitsfirma Randstad ist, wird er weggeschickt, wenn er nicht unbedingt gebraucht wird. Ob er wiederkommen darf, ist nie sicher. Da wird einem schon klargemacht, wie austauschbar man ist, sagt Prüm. Wer nicht ‚pariert’, wer wechselnde Schicht- und Wochenendarbeit nicht akzeptiert, oder ‚sonst wie aufmuckt’, sei schnell ersetzt. Wer darauf besteht, in die Ferien zu fahren, zieht gegen seine Urlaubsvertretung später vielleicht den Kürzeren – oder verpasst gar den Moment, in dem Festverträge verteilt werden. Der nächste Facharbeiter im Blaumann steht immer schon bereit. „Mitte 2010 bezog jeder achte Leiharbeiter ergänzende Leistungen vom Amt. Das heißt: Obwohl sie sozialversicherungspflichtig arbeiten, reicht ihr Lohn nicht zum Leben.“(ebd)

So, liebe Gemeinde, ich danke Ihnen, dass Sie diesem Exkurs zur Leiharbeit heute am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, gefolgt sind, obwohl hier heute wohl keine Leiharbeiter unter meiner Kanzel sitzen. Aber es geht uns als christliche Gemeinde brennend an, was auf dem Arbeitsmarkt in den letzten 20 Jahren an Veränderungen zum Schlechten geschehen ist. Unsere Vorfahren kämpften für den 12-, 10-, 8-Stunden-Tag, für Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, für Arbeitsschutz und freie Wochenenden und haben viel erreicht. Leiharbeit ist ein Mittel, diese Errungenschaften wieder zurückzunehmen. Und ich sage Ihnen, unser Menschenbruder Jan Prüm aus Norderstedt leidet unter dieser Situation. Die kurze Dauer von Arbeitsverhältnissen macht ihn kaputt. Immer wieder diese Unsicherheit, immer wieder die Angst entlassen zu werden, immer wieder der Weg zum Amt wenn es so weit ist ,um Formulare auszufüllen. Und bei der Arbeit die Ausgrenzung.. Jan Prüm kann nicht planen, keine Familie gründen, nicht in den Urlaub fahren. Das ist ungerecht. Der Auferstandene erscheint Petrus und den anderen in ihrem Alltag in Galiläa, beim Fischen, er gibt ihnen zu essen und macht sie wieder mutig. Leiharbeit bringt Menschen zwar schneller in Arbeit, bezahlt sie aber schlecht und macht sie krumm, krank und nervös. Zu Arbeitnehmern zweiter Klasse. Das muß nicht sein. Das kann anders geregelt werden. Liebe Gemeinde, ich musste so konkret werden, denn die Geschichte Jesu und seiner Nachfolger spielt sich in der realen Welt ab mit ihren Widersprüchen und Ungerechtigkeiten. Heilsgeschichte ist immer auch Weltgeschichte. Auferstehung heißt auch aufstehen gegen das Unrecht ... Und ich muss erwähnen, dass es leider auch in der Diakonie Zeitarbeitsfirmen gibt, die schlimmes Lohndumping betreiben. So die diakonieeigene Zeitarbeitsfirma DiaLogistics, die die Löhne bis zu 30 % gedrückt hat. Das ist ein Skandal. Darf so eine Firma in der Diakonie einen Platz haben? ... Der Hirte Israels schläft und schlummert nicht, heißt es in Psalm 121. Was tut Er aber, wenn Er nicht schläft und schlummert? fragten die Rabbinen und antworteten: Er stattet arme Bräute aus, geht mit im Begräbniszug, wenn keiner da ist und, so ergänze ich, Er verschafft einem Leiharbeiter einen festen Arbeitsplatz. Das wäre das Mindeste, wofür wir als Kirche und Mitarbeiter Gottes an diesem Tag eintreten sollten. Amen

Als ich die Gottesdienstbesucher verabschiede, sagt mir ein älterer Herr: Danke für die Predigt, ich war Unternehmer und habe auch Leiharbeiter beschäftigt. So habe ich das noch nicht gesehen. Im Kaffee nach der Kirche werde ich zustimmend angesprochen, die Kritiker halten sich bedeckt. Seit dieser politischen Predigt bin ich zum 1. Mai allerdings nicht mehr zu einer Predigt in Jacobi eingeladen worden. Selbstkritisch muss ich sagen – es war eine vor allem informative und insofern gesetzliche Predigt, die die Hörer mit einem Thema konfrontierte, das sie nicht erwarten konnten – der Leiharbeit. Aber ist nicht der 1. Mai die bestimmende Situation an diesem Tag? Darf man nicht mal ein Anliegen des 1. Mais in den Gottesdienst bringen, wenn die Besucher nicht zur 1. Mai-Demo gehen – nebenbei: die Hamburger Bischöfin Maria Jepsen hatte den guten Brauch eingeführt, zusammen mit dem KDA am 1. Mai dabei zu sein und freute sich immer, wenn ich auch auftauchte. Andererseits erzählte ich von Jan Prüm und in den könnten die Predigthörer sich hineinversetzen. Kennen sie nicht ähnliche Fälle, in Bekanntschaft und Verwandtschaft. Setzt die informative Predigt sie nicht instand, über das allgemeine Info-Wissen hinaus – Leih-und Minijobs schaffen immerhin Arbeitsplätze, das sei besser als Arbeitslosigkeit und Hartz IV-Schmarotzer – sich inhaltlich-konstruktiv mit dem Problem auseinanderzusetzen. Aber die Frage bleibt – was ist für die Predigthörer das Evangelium an diesem Sonntag? Die Hörenden sollen als Adressaten von Gottes zuvorkommender Gnade homiletisch wahrgenommen werden, sagt Kretzschmar. Können sie, sich in Prüm hineinversetzend, stellvertretend ihm das Engagement der Kirche in dieser Frage zusagen: Du bist anerkannt und angenommen von Gott! Kann Jan Prüm das Angenommensein erfahren, wenn es kein Engagement der Kirche in dieser Frage gibt, eher Rechtfertigung der Hartz I /IV-Gesetze? Nicht wie in der Analyse politischer Predigten durch Burbach – Religion und Politik/Welt dualistisch-antithetisch gegenübergestellt, keine Präsentation von Elite/Helden, sondern gemeinsame Bewegung auf einem Suchweg – mit Petrus und Jan Prüm und einem Prediger, der keine fertigen Antworten hat, nicht der Besserwisser, der prophetische Ankläger ist.

Zwei Jahre später (19. 1. 2014) spreche ich das Problem in der Reihe Glaubenssachen NDR-Kultur an. Ist ein gnädiger Markt möglich? Folgen der Rechtfertigung für Arbeitsverhältnisse. Wahrscheinlich ist dies das angemessenere Medium. Die die Zitate sprechende Schauspielerin sagte mir bei der Aufnahme, das was sie ansprechen, das kenne ich aus meinem eigenen Beruf – Unsicherheit, fehlende Anerkennung. Viele zustimmende Rückmeldungen nach der Sendung. So, im reflektierten Modus eines Rundfunk-Essays, ist die Anwendung der Rechtfertigungslehre auf die Arbeitsverhältnisse besser nachvollziehbar als in der Predigthörersituation. Hier werden möglicherweise auch Verantwortliche angesprochen, die nicht in den Gottesdienst gehen. Meine Predigt wie meine Sendung sind Bausteine in dem Prozess der Korrektur der Hartz IV-Gesetze, der zumindest in der Koalitionsvereinbarung über Mindestlöhne, auch für Leiharbeiter, ein Zwischenergebnis erreicht hat. Neben vielen anderen Elementen -Diskussionen, Verhandlungen, Protestaktionen, Zeitungsartikel, Filme – ist auch die Predigt, sofern sie sich auf Soziales als der Bewährungsprobe der religiösen Zusagen einlässt, ein Element des Politischen.

b) Unigottesdienst in St. Katharinen 2012. Sacharja 9,9ff „Tochter Zion freue dich, sieh dein König kommt zu dir … und er wird die Kriegswagen wegtun aus Efraim und die Rosse aus Jerusalem und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden.“

Vorarbeit – Telefonat mit Unipräsidium – gilt für die Uni Hamburg auch die Rüstungsklausel wie für andere Universitäten – Auskunft: es gibt keine Rüstungsforschung an dieser Uni, dazu lief gerade ein Kampagne verschiedener ASTAs, einige Unis hatten sich verpflichtet, andere nicht. Hamburg hatte Gelder für Forschung bekommen, in den letzten Jahren aber nicht mehr. Aus einer Tabelle, die der Linken-Abgeordnete van Aken vom BM Vtg erhalten hatte, zitierte ich ausführlich, des gleichen aus einer Auflistung des Friedensforschungsinstituts der Hamburger Uni, mit dem ich auch telefoniert hatte, über Rüstungsproduktion in HH.

Ich schließe: „Freue dich, Tochter Zion. Siehe dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ei n Helfer.“ Gibt es ein Altern der Verheißungen? Dass man sagt: ach, ich kann es fast nicht mehr hören. Ich glaube nicht mehr daran, das erlebe ich sowieso nicht mehr. Dies Altern der Verheißungen gibt es lebensgeschichtlich schon zugleich mit dem eigenen Älterwerden. Die Friedens-Verheißungen haben nicht mehr die Leuchtkraft der ersten Jahre, als wir sie entdeckten und für ihre Umsetzung stritten. Dennoch halte ich daran fest: der messianische Friedefürst, der jedes Jahr im Advent besungen wird, er soll ja nicht nur jenseitig, eschatologisch bleiben, sondern sich schon hier und jetzt gegenwärtig erweisen. In Abrüstungsschritten, Entmilitarisierungen, Rüstungskonversionen im Sinne von Jes 2, im Abbau von Feindbildern. Sicher, die totale Verfeindung des Kalten Kriegs mit der Drohung gegenseitiger Vernichtung hat aufgehört. Aber was ist nicht alles an neuen Verfeindungen an ihre Stelle getreten.

Ganz zum Schluss gehe ich noch auf Afghanistan ein, auf den Tod des Soldaten Konstantin Merz:

Wofür ist mein Sohn gestorben, wollte die Mutter von Konstantin, Tanja Menz, die Bundeskanzlerin bei der Trauerfeier fragen. Ein anderer Angehöriger, der Vater eines getöteten Soldaten, kam ihr zuvor. Aber er bekam keine Antwort. Die Kanzlerin schwieg. Tanja Merz‘ Sohn ist namentlich in dem Ehrenmal für die im Dienst der Bundeswehr Gestorbenen in Berlin verzeichnet. Im Januar 2012 besucht sie es mit ihrem Mann. „Den Toten unserer Bundeswehr für Frieden Recht Freiheit“ steht dort. Aber das ist kein Trost für Tanja Menz. Für 8 Sekunden leuchtet sein Name auf, Konstantin Menz, erzeugt von Leuchtdioden, dann verschwinden die Buchstaben. Einer von 3204 Namen. „Es ist kalt“, sagt Tanja Menz. Was könnten wir Frau Merz sagen? Konstantin Menz sei bei Gott nicht vergessen? Pfarrer sollen an Weihnachten der Gefallenen gedenken, haben Offiziere der Bundeswehruniversität in Hamburg vorgeschlagen. Was sagen wir Theologen dazu?

Die alten empörten Antworten taugen vielleicht nicht mehr. Heute ist Trinitatis, Mitte des Jahres und der Text ist adventlich: „Sieh, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer … Der Kriegsbogen soll zerbrochen werden.“ Noch nie lebten wir in so friedlichen Zeiten, hat ein Friedensforscher kürzlich in einer Untersuchung behauptet, in der er die Zahl der Kriegstoten zur Zahl der Weltbevölkerung in Beziehung setzte. Eine fragwürdige Aussage, denn es gibt weiter zehntausende Kriegstote, Soldaten und viele zivile Opfer. Und jeder Tote ist einer zuviel. Deswegen muss der Friedenskönig, ein Bild der Gewaltunterbrechung, immer wieder in unsere Welt und unsere Herzen einziehen. Und damit wenigstens ein heiterer Gedanke am Schluss dieser Predigt steht, erinnere ich an einen jüdischen Witz, den ich als eine entfernte Auswirkung der Sacharja-Verheißung lese. 1. Weltkrieg. Der Offizier sagt zu seiner Einheit: Leute, hergehört, heute wird’s ernst, heute geht es Mann gegen Mann. Darauf der jüdische Soldat Kohn. „Herr Leutnant, zeigen sie mir meinen Mann. Vielleicht kann ich mich gütlich mit ihm einigen.“ Amen.

Das war sehr viel, zu viel an Information. Obwohl die Information auf der Linie der Botschaft des Textes lag – Abrüstung kommt – wurde ich von dem Universitätsprediger für die Predigt kritisiert. Zuviel Information – diese Infos hätte ich hinterher auslegen können. Aber die Fakten sind ja das Skandalon, das auch in die Predigt gehört. Vielleicht hätte ein Friedensforscher die Predigt halten sollen, im Dialog mit einem Theologen, sicher wäre ein Predigtpublikum aus Studenten anderer Fakultäten, auch denen, die mit Rüstungsforschung beschäftigt sind bzw. mit Friedensforschung, besser gewesen. So saßen da hauptsächlich Theologiestudierende und alt gewordene christliche Pazifisten. Es war ein Preaching to the converted .

Im Ansatz gut gemeint, aber ohne Wirkung. Wieder mache ich dazu in der NDR-Kultur Glaubenssachen eine Sendung „Den Kriegsbogen zerbrechen. Über den Glanz und das Altern christlicher Friedensverheißungen.“ (16.6.2013) Ein Rundfunkessay, der zehntausende erreicht. Positive Rückmeldungen. Gleiche Folgerung: Predigt ist ein Element der Veränderung des Politischen, kann im Vorfeld politischer Entscheidungen ein wenig an Stimmung und Mentalität verändern. Etwa in Sachen Zähmung des Rüstungsexports, ein Anliegen der Kirchen seit 50 Jahren unter Berufung auf Art. 26,2 des GG. Zusammen mit Denkschriften, Unterschriftsammlungen (jetzt am 26. 2. in Berlin überreicht) Petitionen, Aktionen (gegen Kleinwaffenexport über den Hamburger Hafen, Legt den Leo an die Kette), symbolischen Provokationen. Bleibt aber in der Regel voröffentlich.

Man vergleiche dazu Margot Käßmanns Predigt an Neujahr 2010 mit dem von den Medien aufgegriffenen Satz „Nichts ist gut in Afghanistan.“ Die Predigt war keine politische Predigt zu einem Thema im Sinn von Daiber, sondern eine implizit politische Predigt, die die Jahreslosung auf verschiedene Bereiche hin auslegte – neben Afghanistan den Klimagipfel, die Kinderarmut und den Tod von Robert Enke. Also im weitesten Sinne dann doch auf das Politische, das was uns im gesellschaftlichen Leben unbedingt angeht. Der Impuls zur Skandalisierung ging von den Medien aus, die sich nach der Neujahrspredigt auf den einen Satz stürzten (nichts ist gut in Afghanistan) und der Bischöfin Naivität vorwarfen, sie habe Wissen einer Elftklässlerin u.ä.

Wer politische Predigt beschreiben will, muss erst sagen, was er unter Politik versteht. Ich sehe es so: Der Mensch ist ein zoon politikon, ein politisches Wesen. Er lebt in politischen Gemeinschaften und versucht diese, durch Gesetze und Institutionen zum größtmöglichen Wohl aller zu gestalten. Politik meint also nicht einfach die heutige Form der Parteienpolitik, den Staat und seine Organe. Ein umfassendes Verständnis von Politik sollte von dem ursprünglichen Wortsinn, der sich zuerst im antiken griechischen Stadtstaat, der polis, bildete, ausgehen. Politik meint alles, was das Gemeinwesen betrifft, den öffentlichen Bereich, der alle gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen umfasst. Politik ist das, woran jeder durch sein Tun und Lassen beteiligt ist. Man könnte sagen, Politik ist das, was jeden unbedingt angeht. Von guter Politik hängt die Qualität des Lebens ab, vor Ort, auf Landesebene und weltweit. Das erfahren wir jeden Tag aus den Nachrichten, die in der Regel mehr Schlechtes als Gutes zu vermelden haben. Politisch aktiv zu sein beschränkt sich also nicht aufs Wählen alle vier Jahre. Es ist auch Politik, wenn ein Vater in einem Sportverein als Trainer tätig ist, wenn das Gewerkschaftsmitglied an der 1. Mai-Demo gegen die Verlängerung der Arbeitszeit teilnimmt. Wenn ein Jugendlicher mit den so genannten Autonomen gegen den Aufmarsch der NPD protestiert, wenn Kirchengemeindemitglieder sich am Asyl für eine von Abschiebung bedrohte kurdische Familie beteiligen, wenn eine pensionierte Lehrerin in einer Suppenküche dreimal die Woche Essen für Bedürftige organisiert. Politik beginnt also unten, an den Graswurzeln (grassroots democracy).

Kretzschmar (PTh 2009) bezieht sich ähnlich auf die Neuerfindung des Politischen (Beck). Trotzdem kann man das Politische nicht nur jenseits der formalen Zuständigkeiten und Hierarchien verorten, wie Kretzschmar es im Anschluss an Beck tut, wobei er einiges zusammenstellt, was ein wenig beliebig erscheint - Privatheit, Wirtschaft, Wissenschaft, Kommunen Alltag etc. Es ist richtig, die Erfahrungen und Kompetenzen der Menschen in ihren alltäglichen Lebenswelten ernst zu nehmen und dafür religiöse Impulse zu geben. Die Formulierung „Predigt als zivilgesellschaftliche Partnerin in der Buntheit einer pluralistischen Gesellschaft“ (Grözinger) ist hilfreiche Ortsbestimmung, sie weicht aber der Anstrengung des Begriffs aus, die mit den harten Sachverhalten des Politischen ins Gericht gehen muss (Krisis). Politische Predigt ist für mich eher Kommunikation und damit auch Politik des Evangeliums im Vorfeld des Politischen.

Beispiel Massenarbeitslosigkeit. Inzwischen ist die sechste Bundestagswahl seit 1990 vergangen, ohne dass sich etwas Entscheidendes verändert hat. Der politisch informierte Bürger und Christ ahnt zumindest, weswegen das so ist. Menschen in Arbeit zu bringen ist nicht einfach ein Problem der besseren Vermittlung, effizienterer Arbeitsagenturen und der größeren Kooperationswilligkeit der Arbeitslosen. Er weiß, es gibt politische und wirtschaftliche Interessen, die wirkliche Reformen verhindern. Die politische Klasse traut sich nicht, diese Interessen zu beschneiden (durch höhere Unternehmenssteuern, Vermögenssteuer, Besteuerung von Aktiengewinnen), weil die Unternehmer mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen drohen können. Die Politik kommt ständig der Wirtschaft entgegen (Senkung der Lohnnebenkosten durch Abbau sozialer Schutzrechte für Arbeitnehmer), und dann werden doch wieder um der Rendite willen 30000 Arbeitsplätze wegrationalisiert. Heutige Parteien- und Verbandspolitik scheint oft ein Gemisch aus Unfähigkeit, Machterhaltung, gelegentlicher Korruption und Lobbytätigkeit. Jeder mächtige Verband verteidigt die Interessen seiner Klientel. So verhindern Ärzteverbände, Krankenkassen und Pharmaindustrie eine wirkliche Gesundheitsreform. Politisches Mandat und Interessensvertretung sind oft in ein und derselben Person vereinigt. So vollziehen sich sozialpolitische Veränderungen zum Nachteil vieler Menschen vor unseren Augen und gleichzeitig hinter unserem Rücken.

Das müsste Predigt benennen mit Sachverstand und Phantasie. So dass es Einblicke, Offenbarungen gibt – jetzt habe ich es begriffen und neu als handelnder entdeckt. Fremde beherbergen – insofern sind die Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg ein Geschenk (zum Lernen) gewesen. Ein Lernprozess in Gang gesetzt durch kirchliche Gastfreundschaft, Kreise ziehende Solidarität. Eigene Verwicklung in die europäische Abschottung und wie sie vor Ort aufgebrochen werden kann. Die Grenzen staatlichen Handelns erweitern (aber nicht durch permanente Anklage und Diffamierung auch der Kirche, wie von den radikalen Gruppen geschehen). Das praktizierte Kirchenasyl ist so gesehen eine stärkere politische Predigt der Gemeinde als eine pastorale Predigt zum Fremdengebot, denn der Wortcharakter der Tat wird hier sichtbar.

In der Verfahrenheit der gegenwärtigen Reformdebatten kann die Erinnerung an Gott als Name für Unterbrechung hilfreich sein. Unterbrechung meint neu zu überlegen, wie wir leben wollen in den verschiedenen Politikbereichen der Wirtschaft, der Umwelt, der Familie, des Sozialen und der Friedenssicherung. Solche Moratorien sind zum Beispiel Kirchentage. Sie sind insofern politisch, als sie für mehrere Tage in großen Foren offen und vielfältig über die Frage diskutieren, wie wir in Zukunft handeln und leben wollen – mit Experten, auch mit Politikern, mit nicht regierungsamtlichen Organisationen, mit einfachen engagierten Bürgern. Es gibt viele Gruppen, die sich in beweglichen Netzwerken organisieren. Dazu gehört der „Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ des ÖRK. Dazu zählt die neue Antiglobalisierungsbewegung, die sich kreativ und kompetent mit den Institutionen des kapitalistischen Machtkartells auseinandersetzt. Theologisch gesprochen kommt Gott als kooperativer Prozess der Gerechtigkeit in solchen Aktionen zum Tragen.

Es ist also nötig, einen neuen Begriff des Politischen gewinnen, der dem gemeinsamen Handeln der Menschen für gelingendes Leben in gerechten Institutionen wieder Chancen eröffnet, die politische Enteignung des Bürgers durch, Medien, Verbände und Interessengruppen zurücknimmt und eine direktere Beteiligung auch durch Volksbegehren fördert. Die Kirchen und christliche Gruppen beteiligen sich daran, in dem sie Gott als Name für Unterbrechung, aber auch seine welterhaltende Ökonomie gegen die alles überwuchernde Ökonomie des Profits durch konstruktive Vorschläge wieder zur Geltung bringen.

Jetzt noch mal die Rolle der Predigt darin bedacht – sie ist nicht gewaltig. Weil Gottesdienst oft voröffentlich ist. Deswegen muss der Prediger die Rolle der Medien mehr berücksichtigen, den epd-Redakteur anrufen, die Predigt ins Internet stellen. Aus meinen Predigten hätte zumindest eine epd-Meldung gemacht werden müssen mit folgendem Artikel im Abendblatt „Pastor nennt Leiharbeit Lohndumping, auch Diakonie ist beteiligt“. Oder: „Uniprediger fordert Uni zur Unterzeichnung der Rüstungsklausel auf.“ Oder Bericht im Rundfunk in „Aus Kirche und Gesellschaft“. Solide Information und gelungene Erzählung müssen sich verbinden wie in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg oder dem barmherzigen Samariter. Der Prediger sollte lernen, das Sozioreligiöse aufscheinen zu lassen, aber Theologumena wie Gnade, Rechtfertigung sollten nicht jenseits der politisch-sozialen Realität des Einzelnen zugesagt werden. Anerkennung im Rechtfertigungsgeschehen hat Folgen für das Politische im engen wie im weiten Sinne (s. auch Gutmann/Bieler: Rechtfertigung der Überflüssigen; Benedict, Gibt es einen gnädigen Markt?, in: epd-Dokumentation Nr.14/2014.)

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/95/hjb37.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2015