Diakonie als Hilfe zu gelingendem Leben

Hans-Jürgen Benedicts Fazit als Hochschullehrer

Ulfrid Kleinert

Noch immer steckt sie in den Kinderschuhen: eine im Kontext der Wissenschaften präsentable und im besten Sinne anschlussfähige Diakoniewissenschaft. Nach der von Michael Schibilsky in Gütersloh herausgegebenen, als Orientierung gut geeigneten Bestandsaufnahme von 2004 („Theologie und Diakonie“) stellt nun einer der dortigen Ouvertüren-Autoren den Ertrag seiner wissenschaftlichen Arbeit in einem Sammelband vor.

Benedict, Hans J. (2008): Barmherzigkeit und Diakonie. Von der rettenden Liebe zum gelingenden Leben. Stuttgart: Kohlhammer (DIAKONIE).

In seinem Buch „Barmherzigkeit und Diakonie“ geht es Hans-Jürgen Benedict, emeritierter Diakoniewissenschaftler aus der „Brunnenstube“ der Inneren Mission, von der Evangelischen Hochschule für Sozialarbeit und Diakonie am Rauhen Haus in Hamburg, hauptsächlich um Klarheit in der Verhältnisbestimmung von „Barmherzigkeit und Gerechtigkeit“ (Teil I S. 9-113), um eine Neubestimmung des Diakoniebegriffs (Teil II S. 114-142), um Diakonie im zivilgesellschaftlichen Kontext (Teil III S. 143-187) und um Grundlegung und Konkretion von „Stadtteil- und Gemeindediakonie“ (Teil IV S. 188-226). Die Einzelbeiträge kommen aus unterschiedlichen Zeiten (1994-2008) und Kontexten (Hochschule, Fachtagungen und –zeitschriften, Konferenzen, workshops, Rundfunksendungen) und sind mal exakt wissenschaftlich, mal locker-feuilletonistisch, mal ausgewogen-abwägend, mal provozierend-zugespitzt formuliert; neben bekannten Texten erscheinen bisher unveröffentlichte, inhaltliche Überschneidungen und Redundanzen nicht ausgeschlossen.

Dem kritischen Leser fallen vor allem vier von Benedict vorgenommene, für die (Diakonie-) Wissenschaftsgeschichte wichtige Markierungen auf, hinter die ernstzunehmende Diskussionen um Diakonie und Kirche nicht mehr zurückfallen dürfen:

1. Barmherzigkeit, die nicht nur ein Gefühl, sondern ein Verhalten charakterisiert, ist Gottes „kostbarer Name“ (S.11f). „Gottes Sein ist im Werden der Gerechtigkeit“ (S.13f). Beide, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, gehören wie für Gott so auch für den gläubigen Menschen als Kooperator Gottes biblisch unauflöslich zusammen (S.7.13f).

Sie werden aber voneinander getrennt, wo Sätze wie „Arme habt ihr allezeit unter euch“ (Mk. 14,7) oder „Die Armen werden niemals ganz aus deinem Land verschwinden“ (Dtn. 15,11) als resignative Bestätigung einer nie endenden Notwendigkeit zur Barmherzigkeit gelesen werden, ohne die Spannung zur alttestamentlichen Richtungsangabe „Es soll kein Armer unter euch sein“ (Dtn. 15,4) wahrzunehmen (Benedict S.17 im Anschluss an Johannes Chrysostomos), also das Ziel der Gerechtigkeit im Auge zu behalten. Schon im Neuen Testament entdeckt Benedikt den Ansatz zu falsch verstandener Liebestätigkeit und kirchlicher Diakonie, „die sich von der Utopie der Gerechtigkeit verabschiedet und die Barmherzigkeit institutionalisiert und somit den Zusammenhang zwischen beiden auflöst bzw. ihn individualisiert“ (19). Sie werden auch da voneinander getrennt, wo „die soziale Gerechtigkeit praktisch auf die Gemeinde eingegrenzt wird, während die geistliche Rechtfertigung theoretisch allen zugänglich gemacht wird“ (ebd).

Gegen Wichern führt Benedict Siegmund-Schultzes Ansatz alternativer Diakonie ins Feld, nach der „Barmherzigkeit, die nicht auf der Grundlage der Gerechtigkeit aufgebaut ist, in sich unwahr ist“ (20). Mit Emil Brunners Worten heißt das: „Es gibt nie Liebe auf Kosten der Gerechtigkeit oder an ihr vorbei, sondern immer nur über die Gerechtigkeit hinaus und durch sie hindurch“ (19). Das Besondere der Diakonie liege deshalb „in der Verbindung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, die sich in der sensiblen Wahrnehmung von Leidenssituationen und ihrer Umsetzung in soziale Bewegung und neue Initiativen zeigt“; eben deshalb zeichne sich Diakonie im Zusammenspiel von Wohlfahrtspflegeverband und Gemeinde gegenüber Anpassungsansprüchen von Staat und Gesellschaft durch eine „verantwortliche Unzuverlässigkeit“ aus (so Benedict 23f unter Aufnahme eines Diktums von Johannes Degen)! „Gerechtigkeit als Ziel, Barmherzigkeit als Praxis“, lautet Benedicts Resüme 1994 (26-28).

Zehn Jahre später erklärt er „Gott als kooperative Macht der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit“ (29-41). Als „antiselektive Rechtssetzung“ versteht er das alttestamentliche „Erbarmungsrecht“, das ihm zum „Ansatz zu sozialer Gerechtigkeit“ wird (30f). Den vielen Barmherzigkeitsprojekten heute schreibt er ins Stammbuch, dass sie „nicht auf Dauer gestellt werden“ dürfen, „sondern sich überflüssig machen“ müssen: „Barmherzigkeit, die nicht auf eine Reintegration ihrer zeitweiligen Empfänger in die soziale Rechtsordnung abzielt, grenzt diese … weiter aus und trägt zur sozialen Spaltung der Gesellschaft bei“ (33).

Mit der Wertschätzung der (alttestamentlichen) Klage, durch die Leidende zum Subjekt werden (33f), ihrer Zulassung bei Jesus z.B. Bartimäus gegenüber (34), Jesu Beiträgen zur Geschichte des antiselektiven Verhaltens in den Erzählungen vom Nächsterwerden (Lk. 10,36) und vom Weltgericht (Mt. 25) (34f, ausführlicher 47-49 im Anschluss an Horst Seibert) und mit dem Gaben- statt Warenaustausch in der Ökonomie Gottes (37-40) legt Benedict weitere Aspekte der kooperativen Macht Gottes dar.

In einem Überblick über „die Liebestätigkeit der Alten Kirche“ folgt Benedict 50-72 kritisch den Spuren Harnacks, Troeltschs und Uhlhorns und stellt 54.60 zutreffend fest, dass die Verknüpfung von Religion und Liebestätigkeit einen wesentlichen Teil der Erfolgsgeschichte des Christentums ausgemacht hat (vgl. Christoph Markschies 5. Grund, „warum das Christentum in der Antike überlebt“ hat, Leipzig 2004, 44-56); er kritisiert, dass die Liebestätigkeit schon bald als Ersatz für Sozialreformen behandelt (55f) und der Diakon zum kultisch-sozialen Assistenten des Bischofs degradiert (59-63) wurde. Er benennt „die Adressaten der Hilfe“ damals (63-68) und stellt das christliche Gemeinwesen, „die neue Stadt der Nächstenliebe“, wie sie Basilius von Cäsarea ansatzweise schuf, als wegweisend für die Antike dar (68-72).

Dem ansonsten wegen seines blinden Antikommunismus in der Linie Brakelmanns scharfsinnig kritisierten Johann Hinrich Wichern (77-100) bescheinigt Benedict im Übrigen aber gegenwarts- und zukunftsrelevante Denkleistungen im Blick auf seinen Liebesbegriff (73-76) (Wichern erweiterte „den christlichen Liebesbegriff gesellschaftstheoretisch“ und integrierte zugleich „den humanistischen Liebesbegriff in seine Theorie des Christentums“(76)) und im Blick auf sein (Ersatz-)Familienverständnis (101-113).

2. Wenn Benedict diakonisches Handeln nicht auf Mildtätigkeit reduziert, sondern auch politisch versteht, wenn er Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zusammendenkt, die Wahrnehmung des Einzelnen mit der Frage nach politischen Strukturen verbindet, so steht er damit nicht allein in der Diakonie(wissenschafts)geschichte. Neu für den deutschen Sprachraum aber ist sein Verständnis von Diakonie als Beauftragtsein, als kommunikatives Dazwischentreten und Botschaft-Vermitteln.

Mit spürbarem Vergnügen hat er eine Begriffsuntersuchung zum diakonein in antiken Quellen, wie sie von dem australischen Katholiken John N.Collins bereits 1990 erstellt wurde, dem deutschsprachigen Fachpublikum zehn Jahre später in dieser Zeitschrift (Pth 89/2000 S.343-364, wiederabgedruckt jetzt 114-128) präsentiert, um zum Verlassen der seit dem 19. Jahrhundert eingefahrenen Gleise diakonischer Überheblichkeit und Überforderung (127) einzuladen. Statt des gängigen Verständnisses von Diakonie als christologisch begründeter Lebenshingabe, als aufopferungsvoller Tischdienst für die Verachtetesten fordert Benedict mit Collin – und teilweise über ihn hinausgehend – dazu auf, die historische Bedeutung des Diakoniebegriffs wieder in den Blick zu nehmen. Sie akzentuiert das „Dazwischengehen“, die „Vermittlung“ im Auftrag oder in einem Namen (Gottes oder der Gemeinde), im Kontext von „Botschaft“, „Tätigkeit“ und „Aufwarten für eine Person bzw. im Haushalt“ (119). Collins eröffne, schreibt Benedict, „Diakonien der Kommunikation, die angesichts der Dominanz der Diakonie der Liebe (an den Armen) weitgehend im modernen diakonischen Bewusstsein verloren gegangen sind“ (121). Genau diese Diakonien der Kommunikation seien die umfassende Aufgabe von Kirche, an der Diakone, die historisch kultisch-soziale Assistentin des Bischofs gewesen seien, in einer partizipationsorientierten Gemeinschaft teilhaben (121-123).

Fünf Jahre nach seiner gut begründeten, aber auch sehr zeitgenössisch-modern erscheinenden Provokation zieht Benedict eine persönliche Bilanz (129-137), die Collins (130) und Benedicts (131f) Motive und Vorlieben offen legt. Wichtig ist Benedict, dass Diakonie „eine menschenrechtliche, im Anthropologischen begründete Motivation des Helfens als gleichrangig“ zur christologischen Motivation anerkennt. Allerdings konzidiert er im Kontext seiner Auslegung des großen Weltgerichts: „Wir brauchen diesen Umweg über die Liebe zu Gott und zu Christus, damit wir die einfache Menschenpflicht tun“ (136).

3. Ebenfalls nicht zurückfallen sollte die Diskussion um das Verhältnis von professioneller und freiwilliger sozialer Arbeit hinter die Beschreibung einer neuen Sozialkultur in der Zivilgesellschaft, die Benedict programmatisch S.143-156 vornimmt. Gefragt ist dabei „eine soziale Produktivität, nicht die soziale Unterstützung“ (149). Freiwillig zu helfen meint hier selbst bestimmtes Leben „und hat mit Lust zu tun, ist eine Form kreativer Sinngebung des Lebens“ (148). Angesichts der Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse und der wachsenden Privatisierung sozialer Risiken sei die Intervention von Kirche und Diakonie „als Instanz einer Ethik des Anderen“ herausgefordert (149).

In diesem Kontext kritisiert Benedict die bisherige Praxis der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips: „Subsidiarität wurde zur institutionellen Subsistenz“ (152) für die Wohlfahrtspflegeverbände, sie führte nicht zum gemeinsamen Ringen mit den Betroffenen um gerechte soziale Teilhabe. Benedict dekretiert: „Die Erfüllung der Menschen- und Sozialrechte ist das Kriterium der Liebestätigkeit“ (153). Entsprechend ist die „protestantisch-innerliche“, d.h. lutherische „Engführung von Gerechtigkeit“ aufzuheben (153f). Sozialräumliche Solidarität stiftende Arrangements im Miteinander aller Menschen und Institutionen guten Willens seien das Kennzeichen der neuen Sozialkultur (155f).

Wo sie konkret werden, lässt sich möglicherweise auch „die große Kamelfrage lösen“, vor die Benedict in einem geistreichen Artikel im Anschluss an Heinrich Heines Auslegung von Jesu Wort an den Reichen (Jüngling bei Matthäus 19,16ff) die EKD und unsere Gesellschaft stellt (175-187). Dabei darf die Provokation nicht vergessen werden, die Benedict S.151 deutlich ausspricht, weil er den Zusammenhang von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nicht auflösen will: „Wäre eine schlagartige Beendigung aller kreativen Barmherzigkeitsprojekte nicht ein Signal, jene Versorgung und Betreuung der deutschen Parallelgesellschaft … grundsätzlich in Frage zu stellen?“ (151, Benedict nimmt diese Provokation in den anschließenden Sätzen allerdings gleich wieder zurück statt über sie weiter nachzudenken).

4. Endlich geht es Benedict im letzten Hauptteil seines Forscher-Resümes um die Zuspitzung des Gedachten auf Stadtteil- und Gemeindediakonie. Dabei gibt er nicht nur organisatorische Hinweise und Konkretisierungen seines Verständnisses von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Er stellt sie vielmehr in den größeren Zusammenhang der Gabenökonomie Gottes, die die in der Stadt herrschende Warenökonomie zwar nicht ersetzen kann, aber sie notwendigerweise ergänzen muss. Seine These hierzu lautet: „Ein gabenökonomischer Ansatz, der Gott als Geber des Lebens und der in Christus erneuerten Gnade des Teilens der Gaben ausgeht, ist gerade für die Gemeinwesenorientierung und Stadtteilentwicklung wichtig, sofern er die Menschen als in Beziehung lebende und sie stiftende Akteure sieht. Ihr Handeln versteht er als Vertrauen in das im Weltprozeß anwesende Prinzip der kooperativen Gerechtigkeit Gottes.“ (214) Die Gabe des Lebens bewirke „Austauschprozesse, die zu einem gelingenden Leben führen“ (220).

Genau hier schlägt das diakonische Herz Benedict, aus dem die Blutzufuhr für alle seine Gedanken kommt. Zu hoffen ist, dass Kirche und Diakonie hinter die dabei gesetzten Markierungen bei ihrem zukünftigen Weg nicht zurückfallen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/95/ulkl1.htm
© Ulfried Kleinert, 2015