Tiefenbohrungen im Zettelkasten

Zu Hans Blumenberg, Rigorismus der Wahrheit

Wolfgang Vögele

Hans Blumenberg, Rigorismus der Wahrheit. 'Mose der Ägypter' und weitere Texte zu Freud und Arendt, hg. von Ahlrich Meyer, Berlin 2015

Der Philosoph Hans Blumenberg starb im Jahr 1996. Seitdem sind aus seinem Nachlass eine Reihe von Werken von ihm publiziert worden. Es sind in diesem Zeitraum mehr Druckseiten von ihm erschienen, als er zu Lebzeiten publizierte. Das verrät Ahlrich Meyer, der Herausgeber dieses erstaunlichen kleinen Bändchens, im Nachwort (S.105)[1]. Am Anfang steht ein Essay Blumenbergs über die Moses-Interpretation Sigmund Freuds. Von Freud schwenkt Blumenberg am Ende sehr unvermittelt hinüber zu einer vehementen Kritik des Eichmann-Buches von Hannah Arendt. Das ist zu erläutern. Neben dem titelgebenden Essay stehen eine Reihe von Vorarbeiten, thematisch ähnlichen unpublizierten Texten Blumenbergs, allesamt sorgfältig mit Kommentaren versehen. Das ist keineswegs nur für Blumenberg-Promovenden, Spezialisten und andere Liebhaber gedacht.

Vielmehr lässt sich daraus eine ganze Menge Erhellendes entnehmen. Erstens: Der Band klärt auf über Blumenbergs Verhältnis zu Freud und Hannah Arendt, das in beiden Fällen nicht ganz frei von intellektuellen Komplikationen war. Zweitens: Der Essay enthält die suggestive Formel vom „Rigorismus der Wahrheit“, die, wenn auch von Blumenberg selbst nur spärlich erläutert, reichlich Stoff zum philosophischen Nachdenken bietet. Drittens: Der Band gibt Einsichten frei in die Biographie Blumenbergs, der mütterlicherseits aus einer jüdischen Familie stammte, weswegen der Abiturient in einem Lübecker Gymnasium Schikanen der Nazis ertragen musste (S. 115 Anm. 23). Viertens: Der Band macht deutlich, wie der Philosoph seine Texte mit Hilfe eines eigens konzipierten und lebenslang weiter geführten Zettel- und Karteikastens[2] zusammenstellte und komponierte. Neben die Texte treten dazu Bilder: Fotos von einzelnen Karteikarten und Leselisten (S. 101ff.) sind dem Band beigegeben.

Die meisten Bücher Blumenbergs zeichnen sich durch eine gewisse Sprunghaftigkeit aus, der es allerdings keineswegs an philosophischer Eleganz mangelt. Blumenberg war im wahren Sinne des Wortes systemkritisch und misstrauisch gegenüber aller Ordnung. Der geheimnisvolle Zettelkasten diente dem Zweck, Anlaufbahnen für solche Sprünge zu schaffen. Wie ein intellektueller Kolibri scheint der Philosoph von einer Zitatblüte zur nächsten zu schwirren, um jeweils den gedanklichen Honig herauszusaugen. Mit dieser Methode kann Blumenberg auf wenigen Seiten von der platonischen Akademie in Athen zum Terror der Französischen Revolution, von dort in die Studentenbewegung der sechziger Jahre und dann wieder zurück zu den Confessiones des Kirchenvaters Augustin springen. Für diese Methode ist Blumenberg oft bewundert worden, allerdings hat er sein Verfahren nie richtig erklärt oder durchsichtig gemacht. Der vorliegende Band gibt Aufschluss über diese Kolibrimethode. Denn seine Bücher und Essays sind nichts anderes als Destillate aus dem melting pot seines Zettelkastens, den er mit nicht nachlassendem Eifer sein ganzes akademisches Leben lang geführt hat.

In dem hier publizierten Essay von wenigen Seiten zieht Blumenberg, der Vielleser und Nachtmensch, Parallelen zwischen Freuds Mosestexten und Hannah Arendts Eichmann-Buch. Freud habe mit seinen kulturkritischen Essays den Juden ihren Gesetzgeber und Wegbereiter weggenommen, indem er ihn als ägyptischen Pharaonensohn entlarvte. Die Gründer- und Mittlerfigur war eigentlich ein Feind. Auf ähnliche Weise habe Arendt[3] den Juden und dem gerade gegründeten Staat Israel ihren schlimmsten Feind weggenommen, indem sie seine Hinrichtung durch den Staat Israel scharf verurteilte und stattdessen für den KZ-Kommandanten ein universales Weltgericht einforderte. Denn nach ihrer Meinung hatte Eichmann nicht Verbrechen gegen die Juden, sondern gegen die Menschheit begangen. Und diesem Verbrechen konnte, so Arendt, ein nationales Tribunal nicht gerecht werden.

Die Juden fänden sich durch diese Interpretationen - so Blumenberg - doppelt beraubt, nämlich ihrer größten nationalen Stifterfigur und ihres größten Feindes. Diese These des Zettelkastenverwalters Blumenberg baut sich über Karteikarten, Exzerpte, Literaturzitate, unveröffentlichte kurze Texte bis zu jenem Essay auf, der am Anfang des schmalen Bändchens steht. Dazu kommen Vorarbeiten, Annäherungen, ungeschützt Aufgeschriebenes. All dieses heterogene Material verband Blumenberg über die Systematik seines Zettelkastens, darin nicht unähnlich seinem Bielefelder Soziologenkollegen Niklas Luhmann. Und wie bei Luhmann schuf der Zettelkasten nicht Ordnung, sondern intellektuelle Sprünge.

Blumenberg schreibt: „[Freud] war einer von denen, die der Wahrheit alles zutrauen, sogar die Freiheit, und daher aus Liebe zur Wahrheit alles von sich und anderen verlangen zu dürfen glauben. Das Jahr 1939 war ihm nicht der falscheste Augenblick, den Gedemütigten und Geschlagenen auch noch den Mann zu nehmen, der am Anfang ihr Vertrauen zur Geschichte begründet hatte.“ (S. 9) Freud zeigte nach Blumenberg große Begeisterung dafür, bei Patienten und Lesern Deckerinnerungen, Projektionen und Täuschungen zu entlarven und sie statt dessen mit den krassen und hässlichen, möglicherweise auch beängstigenden Seiten einer Wahrheit zu konfrontieren, die sie bisher so schrecklich fanden, dass sie sie mit erheblichem psychischem Aufwand zu verdecken suchten. Blumenberg reklamiert gegen Freud, daß die Wahrheit nicht wie ein Trumpf auszuspielen ist, der das psychologische oder philosophische Kartenspiel entscheidet. Denn das Einspielen der Wahrheitskarte hat seinen Preis, der bezahlt werden muß. Denn die unangenehmen und schrecklichen Seiten der Wahrheit wollen erst einmal ausgehalten sein. Muss es sein, dass die Erniedrigten und Verfolgten auch noch ihrer Identität beraubt werden, selbst wenn diese auf einer Täuschung beruht? Blumenberg scheint das zu bezweifeln. Er räumt dem (lebensdienlichen) Mythos einen höheren Stellenwert ein als der allzu krude und brutal in die Mitte gestellten Wahrheit.

Freuds Mose-Essay, so Blumenberg, enthülle auch etwas über das Verhältnis des Psychoanalytikers zur Wahrheit. Freud war ein - gnadenloser - Rigorist. Der Mythos hingegen, auch der religiöse, kümmert sich um die Wirkung der transportierten Einsichten auf diejenigen, die er überzeugen will. Deswegen spricht Blumenberg Freud auch einen „Absolutismus der Wahrheit“ (S. 11) zu. Über Wahrheit reden auch die Evangelien des Neuen Testaments. Der Jesus des Johannesevangeliums sagte: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“ (Joh 8, 32) Aber diese Wahrheit war keine abstrakte Erkenntnis, sondern auf eine konkrete Person bezogen. Freud hätte solche theologischen Konnotationen nicht nachvollziehen können, dazu war er zu sehr der Aufklärung, dem Positivismus und den Naturwissenschaften verpflichtet. Nun wussten allerdings die Patienten, die Freud in der Wiener Adlergasse aufsuchten, was sie erwartete, die Leser der Moses-Schrift dagegen konnten sich nicht wehren.

Von hier aus springt Blumenberg zu Hannah Arendt und ihrem Buch über die „Banalität des Bösen“: „Der Rigorismus der Hannah Arendt ist dem des Sigmund Freud sehr ähnlich. Sie glaubt an die Wahrheit - daß es ihre Wahrheit ist, kann sie nicht ändern und nicht verhindern.“ (S. 13) Blumenberg muss sich bewusst gewesen sein, dass diese These auf Empörung stoßen könnte. Der Schlüssel ist eine Analogie: „Wie Freud den Mann Moses seinem Volk genommen hat, nimmt Hannah Arendt Adolf Eichmann dem Staat Israel.“ (ebd.) Eichmann, der KZ-Kom­man­dant, war ja so etwas wie ein Zionist aus Verachtung, ein Zionist unter negativen Vorzeichen mit heimtückischen Interessen. Ein Staat Israel, in dem alle Juden interniert würden, passte allzu genau in seine nationalsozialistischen Interessen. Blumenberg argumentiert nun: Für den Staatsanwalt in Jerusalem war Eichmann DER Feind, für Arendt war er DER Sündenbock. Beide Kennzeichnungen verschieben jeweils ganz subtil die Nuancen der Interpretation. Der Feind sollte gerichtet, der Sündenbock vor einem universalen Tribunal geopfert werden. Blumenberg sieht Arendts Rigorismus in der „Weigerung, irgendein letztes und unauflösbares Dilemma menschlichen Handelns anzuerkennen.“ (S. 18) Und dieser Rigorismus lässt sich mit dem von Freud vergleichen.

Freud lebte von der Devise: Die Wahrheit, die Patient und Analytiker zusammen entdecken, wird den Patienten von seinen Neurosen befreien. Die Christologie des Johannesevangeliums erkennt die Tragik menschlichen Handelns an, und sie verweist die Jünger nach dem Tod Christi am Kreuz auf den Parakleten, die Trösterfigur des Heiligen Geistes. Blumenberg wiederum traut der Theologie (und der Wahrheit?) nicht mehr. Er zieht sich auf die Figur des beteiligt-unbeteiligten Zuschauers zurück, wie er das in seinem Buch „Schiffbruch mit Zuschauer“[4] entfaltet hat. Und er beruft sich auf Horaz, der noch in der größten Katastrophe zur nüchternen Beobachtung mahnte, auch wenn der Beobachter selbst unter den Folgen der Katastrophe unmittelbar leiden muss.

Als Philosoph hütet sich Blumenberg vor aller klaren Systematik, die das Leben in Ordnungen zwängt. Er traut den Überraschungen des Zettelkastens mehr als der Langeweile des Systems. Denn die philosophische Wahrheit offenbart nur die Tragik des Menschen: Er muss sich zwischen Möglichkeiten entscheiden, die in jedem Fall schwere Verluste nach sich ziehen. Verstandene und durchschaute Wahrheit ist aber noch nicht ausgehaltene oder ertragene Wahrheit. Blumenbergs an Horaz geschulter Beobachter hütet sich vor allen Formen der Penetranz, der Ideologie und des Totalitarismus. Er will sich auch nicht mehr auf einen bestimmten Glauben festlegen, aber das ist eine Frage, die Blumenberg nicht in diesem Band verhandelt. Wer auf der Wahrheit so rigoros besteht wie Freud und Arendt, der riskiert die Nebenfolgen dieser Wahrheit, ihre soziale Unverträglichkeit. Deswegen empfindet Blumenberg beide als rücksichtslose Denker.

Es läge nach Blumenberg in der Konsequenz von Arendts Vorschlag eines Menschheitstribunals, dass es ein „Säkularisat des Endgerichts“ wäre und auch die „Opfer zu verurteilen“ (S. 19) hätte. Man mag sich die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, kaum vorstellen. Arendts geschichtsphilosophische Endgerichtsspekulation führt für Blumenberg ins Absurde. Blumenberg tadelt gegen Arendt und Freud jeglichen Wahrheitsrigorismus, ihren absoluten Aufdeckungs- und Offenbarungswahn. Der Fall des KZ-Schergen Eichmann ist genau der Fall, an dem Arendt zu weit geht. Für Blumenberg war Eichmann „die heimliche Gründerfigur dieses Staates [Israel], an der der Reinigungsakt einer großen Rache und mythischen Verewigung zugleich vollzogen werden mußte, um mit der Vergangenheit fertig zu werden oder um die Vergangenheit für sich zu retten, zu gewinnen.“ Und dann spielt Blumenberg Arendt gegen Freud aus: „Sigmund Freud hätte das Buch [über Eichmann wv] schreiben müssen, er hätte die Dimension verstanden.“ (S. 76) Ganz passt das nicht zusammen, auf der einen Seite beide als Extremisten der Wahrheit darzustellen, auf der anderen den einen gegen die andere auszuspielen. Für Blumenberg gehört Eichmann in den Gründungsmythos Israels (S. 78), und zwar als der Erzfeind, der versucht hat, das jüdische Volk auszulöschen. Für Arendt dagegen war Eichmann ein absoluter Feind der Menschheit, der vom Angesicht der Erde vertilgt werden musste. Der Herausgeber des Bandes interpretiert im Nachwort Blumenbergs Arendt-Inter­pre­ta­tion als das Verfolgen eines „entschieden zionistischen Narrativ(s)“ (S. 120) Blumenberg verteidigt den israelischen Mythos der Staatsgründung im Gegensatz zu Arendt, die Prozess und Hinrichtung kritisierte.

Blumenberg gelingt es auf wenigen Seiten, den philosophischen Hintergrund der erregten Debatte herauszupräparieren, die in den sechziger Jahren auf die Publikation des Arendt-Buches über Eichmann erfolgte. Die ganze Kontroverse sah Blumenberg eingebettet in eine grundsätzlichere Debatte über Mythos und Wahrheit. Der Herausgeber des Bandes beschreibt in seinem Nachwort die mythische Wahrheitstheorie Blumenbergs so: Er setze „den Mythos, den religiösen wie den politischen, in seiner humanen Dimension höher an als Wahrheitsansprüche jedweder Art, weil Mythen, anders als die Wahrheit, das Bedürfnis des Menschen nach Trost erfüllen.“ (S. 107) Wo aber liegt dann die Grenze? Welche Wahrheit kann den Menschen zugemutet werden? Welche Mythen müssen um der Menschlichkeit willen erhalten werden, trotz ihres illusionären Charakters? Denkt man an bei Blumenberg an sein Buch über die Matthäuspassion[5], dann wird sofort klar, dass dort das Verhältnis von Wahrheit und Mythos ganz anders, nämlich zu Gunsten der aufklärenden Wahrheit und gegen den in der Passionsgeschichte präsentierten Glauben austariert war.

Die theologische Vorstellung von einem jüngsten, letzten Gericht bleibt bei Blumenberg leider unberücksichtigt. Sie hätte der Reflexion über den Rigorismus der Wahrheit noch einmal zusätzlichen Schub verleihen können, zumal Eichmann selbst vor seiner Hinrichtung noch gesagt haben soll, man werde sich im Jenseits wieder begegnen[6]. Man begegnet sich im Jenseits wieder zu einem letzten Gericht, von dem Eichmann absurderweise der Meinung war, es werde ihn rehabilitieren. Dagegen wäre eine eschatologische Gerechtigkeitstheorie zu setzen.

Blumenberg geht dem nicht weiter nach. Aber das ist nicht als Vorwurf gemeint. Lesenswert bleibt das Bändchen allemal, sowohl im Hinblick auf Einsichten in die Arbeitsmethode Blumenbergs als auch im Hinblick auf die Andeutungen über eine Wahrheitstheorie. Blumenberg selbst hätte bestimmt noch sehr viel mehr daraus gemacht. Schade, dass er nicht mehr die Gelegenheit hat, seinen eigenen Nachlass herauszugeben.

Der Zettelkasten scheint ja noch sehr lebendig zu sein.

Anmerkungen

[1]    Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf das rezensierte Buch.

[2]    Zum Thema der Zettelkästen in Literatur und Philosophie der Marbacher Ausstellungskatalog Heike Gfrereis, Ellen Strittmatter (Hg), Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, Marbach 2013, darin besonders der Beitrag über den Zettelkasten Hans Blumenbergs von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche (S.113-119).

[3]    Neuere Bücher zu Hanna Arendts Buch und zu Adolf Eichmann finden sich unter Corey Robin, The Trials of Hannah Arendt, The Nation 12.5.2015, http://www.thenation.com/article/207217/trials-hannah-arendt#.

[4]    Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt/M. 1979.

[5]    Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt/M. 1988.

[6]    Zum Beispiel Norbert Jessen, Der Tod: Adolf Eichmanns Hinrichtung im Gefängnis Ramle, Die Welt 9.9.1999, http://www.welt.de/print-welt/article582783/Der-Tod-Adolf-Eichmanns-Hinrichtung-im-Gefaengnis-Ramle.html.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/95/wv19.htm
© Wolfgang Vögele, 2015