Was ich noch zu sagen hätte ...

Das Blogsurrogatextrakt XII

Andreas Mertin

Kulturelles Stockholm-Syndrom / 14.06.2015

Es gibt Situationen, in denen unmittelbar in einem die Wut aufsteigt, sei es, weil man etwas ungeheuer Dummes liest oder weil man feststellt, dass die Haltung ausgleichender Toleranz, von der man meinte, sie in bestimmten Fällen einnehmen zu sollen, gar nicht angebracht ist. Heute lese ich in der App des Kunstforums Ausführungen über die gescheiterte Moschee-Installation des isländischen Pavillons. Tausenden von Muslimen, so kann man dort lesen, werde in Venedig eine Moschee verweigert, während doch selbst das kleine Reijkjavik eine Moschee habe. Nun, in Venedig leben tatsächlich etwa 800 Muslime unterschiedlicher religiöser Prägungen, aber Italien ist keinesfalls ein Land, das den Bau oder den Betrieb von Moscheen untersagt, es ist ein demokratisches und in religiösen Fragen offenes Land. Italien verfügt immerhin in Rom über die größte Moschee Europas und hat auch in Florenz, Genua, Palermo, Ravenna, Mailand und Turin nennenswerte Moscheen. Das unterscheidet Italien etwa von Saudi-Arabien, in dem der Bau von christlichen Kirchen im ganzen Land grundsätzlich verboten ist – ebenso wie die öffentliche Ausübung einer nicht-islamischen Religion. Es mag lange dauern, es mag manchmal in vielen Hindernissen scheitern, aber in Italien können selbstverständlich Moscheen errichtet werden – ebenso wie Synagogen. Die Moschee von Florenz stammt aus dem Jahr 2011, die Moschee von Genua von 2010, die Moschee von Palermo von 2009, die Moschee von Ravenna von 2011, die Moschee von Rom von 1995, die Moschee von Mailand von 2007 und die Moschee von Turin von 2011. Für die Moschee von Rom hat der Stadtrat von Rom schon 1974 das Grundstück gestiftet. Wer also für die Einrichtung von Moscheen in Italien mit einer Zeichenhandlung eintritt, läuft nicht nur offene Türen ein, sondern kommt auch Jahre zu spät. Und er schafft einen fiktiven Konflikt, der in der Sache selbst gar nicht existiert.

Etwas anders ist es natürlich mit dem Programm: Kirchen zu Moscheen. Das hat zwar auch schon eine lange Geschichte, war aber bisher nicht im Portfolio der Gegenwartskunst vertreten. Dieses Programm (wie das historische der Gegenseite: Moscheen zu Kirchen) gehörte bisher zum Repertoire aggressiver und expansiver Religionskonflikte. Aktuell vollzieht es der IS in Mossul, wo alte Kirchen wie die Tahira-Kirche zu Moscheen umgewandelt werden. Es geht dabei darum, wie Kulturwissenschaftler betonen, soziale Identitäten zu zerstören.

Da die Kunst ab und an vorschnell mit der Ideologie der Zeit geht (man denke an Nolde oder Radziwill), wollte man in Venedig offenkundig ein Zeichen setzen. In einer ehemals katholischen Kirche wurde ein Moschee eingerichtet (die anders als das Kunstforum meint, deshalb nicht schon ein Gotteshaus darstellt), und es wurden dort von der muslimischen Gemeinde entsprechende Rituale etabliert, die nicht kunst-, sondern religionsspezifisch sind. Schuhe ausziehen, Geschlechtertrennung, Kreuzverhängung usw. Selbstverständlich kann die Kunst, nachdem sie 700 stolz darauf war, sich nach und nach aus den Händen der Religion emanzipiert zu haben, nun in einem Gestus der Reue auch wieder unter das Dach der Religion zurückkehren. Das gehört zu ihren Freiheiten. Aber sie sollte nicht so tun, als sei dies ein emanzipatorischer Akt. Das ist es ganz und gar nicht – gerade nicht im vorliegenden Fall. Hier werden nur scheinbar Grenzen überschritten. Und man versucht erst gar nicht, wirkliche Grenzen zu thematisieren. Die Kunst, das muss man einfach sagen, ist feige und zahnlos geworden, sie heult mit den Koyoten der IS, um eine tradierte Religion zu treffen. Sie perpetuiert die Rituale der klassischen Religionskritik am Christentum, aber zuckt zusammen, sobald man wirklich etwas (kulturell, nicht religiös) bekennen müsste. Im Augenblick wird im Namen einer konkreten Religion ein guter Teil des Welterbes der Menschheit vernichtet. Und das bezieht sich nicht nur auf die Barbaren der IS; es begann in Afghanistan, es setzte sich fort in Timbuktu und erlebt nun in Syrien und Irak seinen Exzess. Und in dieser Situation wird die Kunst nicht dadurch verteidigt, dass ein Künstler im Auftrag eines Landes mit einer lutherischen Staatskirche zur Biennale in einer ehemals katholischen Kirche eine Moschee errichten lässt. Mir kann keiner sagen, der Künstler sei auf der Suche nach einem Raum gewesen und dabei zufällig über eine aufgegebene alte katholische Kirche gestolpert. Nein, hier betreibt man gezielt den Clash of Civilisation, hier wollte jemand bewusst zum Religionshass, zumindest aber zum Unfrieden zwischen den Religionen anstiften. Und ich kann nur sagen: es ist ihm gelungen. Dieser Schritt ist ein Menetekel, ein Zeichen an der Wand. Dass sich die muslimische Gemeinde in Venedig auf dieses Spiel zu Lasten der katholischen Kirche eingelassen hat, ist ein Lehrstück, aus dem man Konsequenzen ziehen muss, denn nun wird klar: Dort, wo europäische muslimische Gemeinden Zugriff auf ehemals christliche Gebäude bekommen können, machen sie dies offensichtlich nicht, indem sie Absprachen mit den früheren Besitzern treffen und Rücksicht nehmen auf die Gefühle der christlichen Gemeinschaft. Ich habe bisher keine kritischen Kommentare einer muslimischen Instanz zu diesem Vorgang gelesen. Dieser Vorgang ist außerordentlich beunruhigend. Ich habe nichts dagegen, dass in einer früheren Kirche eine Moschee errichtet wird, wohl aber etwas dagegen, wenn dies erkennbar gegen die früheren Nutzer geschieht.

Aber man muss auch im Blick auf die Kunst und den Kunstbetrieb Konsequenzen ziehen. Die Kunstfreiheit, die hier in Anspruch genommen wird, scheint überaus solipsistisch zu sein. Sie irrlichtert exklusiv um sich selbst. Sie ist nicht mehr Freiheit für etwas, sondern nur noch Freiheit als Selbstzweck. Das ist ihr Recht. Aber dann muss sie auch einkalkulieren, dass jene, die andere Grundrechte vertreten, auch nur noch um sich selbst kreisen.

Die wenigen Worte, die im Kunstforum über den Islam stehen, lassen erkennen, dass die Autoren nicht einmal ansatzweise Kenntnisse über (diese) Religion haben. Sie verstehen nichts von den religiösen Raumkonzepten des Katholizismus und nichts von denen des Islam. Sie verteidigen die Kunst dort, wo sie angegriffen wird – und das unabhängig davon, warum sie angegriffen wird.

Man kann lange fragen, warum so verfahren wird. Manche Leute gewinnen ihre Identität dadurch, dass sie sich über die Rückständigkeit des Christentums lustig machen. Wenn sie das für ihre Identitätsbildung brauchen – bitte schön. Aber manchmal beschleicht mich der Verdacht, es geht hier de facto um ein kulturelles Stockholm-Syndrom, um eine Unterwerfung (Submission), die wenig mit dem subversiven Gehalt des gleichnamigen Films von Theo van Gogh zu tun hat. Da kann man nur böse sagen: Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.


Die schiere Masse / 16.06.2015

Was ist ein Massenphänomen? Wenn 1,5% der Bevölkerung an einer Demonstration vor dem Berliner Kanzleramt teilnehmen, dann sind das 1.215.000 Menschen und ganz sicher stellt das ein Massenphänomen dar. Aber im Vergleich zu den 98,5% der Bundesbürger, die nicht teilnehmen, bleiben die 1,5% eine verschwindend kleine Masse. Masse ist eben relativ. Wenn 1,5% der evangelischen Christen aus der Kirche austreten, dann ist das sicher eine zu große Gruppe. Aber im Vergleich zu den 98,5%, die in der Kirche bleiben, eben doch nur eine kleine Gruppe. Jedes Jahr liest man die Meldung: „Zahl der Kirchenaustritte steigt dramatisch“ – und irgendwie hat man das Gefühl, nun müssten aber auch die letzten die Kirche verlassen haben. Aber dann waren es eben doch „nur“ 1,5% der Gläubigen, die diesen Schritt vollzogen haben. Nun ist es wieder einmal so weit, die evangelikale Nachrichtenagentur Idea meldet, der Kirchenaustritt in Deutschland werde „zum Massenphänomen“, es drohe – wie einfallslos können Redakteure eigentlich sein? – „der Kexit“. Ja, schrecklich. Nur macht das Wort hier überhaupt keinen Sinn. Beim Grexit tritt Griechenland aus dem Euroraum aus, beim Brexit Großbritannien aus der EU. Und beim Kexit? Die Kirche aus sich selbst? Nun weiß jeder, was der betreffende Redakteur meint, nur ist die Analogiebildung völlig falsch. Und jeder weiß auch: Noch in 200 Jahren wird es die Evangelische Kirche in Deutschland geben, vielleicht mit weniger Mitgliedern, aber dennoch mit dem Segen des Herrn.

Aber schauen wir doch einmal genauer hin. Wie ordnet sich die massive Zunahme der Austritte des Jahres 2013 in den Gesamtkontext der Austrittsbewegungen aus der Evangelischen Kirche ein? Ich nehme einmal die Zahlen meines eigenen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen und schaue auf die Entwicklung der letzten 15 Jahre. Hier war der Höhepunkt der Austritte Anfang des Jahrtausends mit etwa 37.000 Protestanten, die die Amtskirchen verließen. Wenn man also aktuell von einer massiven Zunahme der Kirchenaustritte spricht, dann müssten in NRW 2013 ebenfalls über 37.000 evangelische Christen aus der Kirche ausgetreten sein. Tatsächlich sind 2013 „nur“ 32.000 Christen aus den beiden Landeskirchen im Bundesland NRW ausgetreten. Das sind wesentlich mehr evangelische Christen als in den Jahren unmittelbar zuvor, aber immer noch weniger als etwa im Jahr 2000. Es sind beunruhigend viele, aber nicht außergewöhnlich viele. Das ist das Eine.

Das Andere ist die Frage, warum diese Menschen die Evangelische Kirche (nicht nur in NRW) verlassen. IDEA unterstellt, sie täten dies, weil sie sich über die Zeitgeistorientierung und die Profillosigkeit der evangelischen Amtskirchen ärgern würden. Gut, tun wir für den Bruchteil einer Sekunde so, als ob das ein irgendwie vernünftiges Argument wäre – was es erkennbar nicht ist, denn die Menschen treten nicht wegen des Bekenntnisses, sondern wegen der Steuer aus. Aber wenn es das Bekenntnis wäre: Dann müssten ja die evangelischen Freikirchen und die evangelikalen Gemeinschaften Jahr für Jahr um etwa 20.000 bis 30.000 Mitglieder größer werden – denn sie versprechen ihren Mitgliedern einen energischen Kampf gegen den Zeitgeist, gegen die heutige akademische Theologie und gegen die Profillosigkeit insbesondere der Amtskirchen.

Und wie sieht die Statistik der evangelischen Gemeinschaften und Freikirchen aus? Lassen wir einmal den Sonderfall der Neuapostolischen Kirche beiseite und blicken auf die anderen Gemeinden, insofern sie der Öffentlichkeit überprüfbare Statistiken liefern. Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden verzeichnet in ganz Deutschland etwa 82.000 Mitglieder und wächst bzw. schrumpft seit Jahren im +-Null Bereich. Offenkundig gibt es in diesem Bereich noch zu viel Zeitgeist und zu wenig Profil. Die Evangelisch-Methodistische Kirche verzeichnet 54.000 Mitglieder, hatte aber 2007 noch 57.000 Mitglieder. Auch hier scheint das Profil nicht zu helfen. Stark zunehmend sind die Pfingstkirchen, die knapp 50.000 Mitglieder haben und in den letzten Jahren immer um etwa 5% zugenommen haben. Aber ob hier der Kampf gegen den Zeitgeist das entscheidende Moment ist? Selbst wenn, wo bleiben dann die restlichen 30.000 alllein aus NRW, die die Kirche wegen der Profillosigkeit verlassen haben sollen? Besonders profiliert und im Verhältnis zu ihrer Größe lautstark ist ja die SELK. Und was sagt uns die Statistik hier? Seit Jahren ein rückläufig Mitgliederbstand.

Fazit: Insgesamt strömen die Menschen keinesfalls von den Amtskirchen weg hin zu den Freikirchen, sondern grundsätzlich von allen Kirchen und Gemeinschaften weg. Und auch das weniger aus religiösen Gründen, sondern weil unsere Gesellschaft grundsätzlich durch eine Institutionenflucht charakterisiert wird. Setzt man wie auf der nebenstehenden Grafik, die Werte der verschiedener Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, Kirchen) für das Jahr 1990 auf 100 und vergleicht sie mit den Werten von 2010, dann kann man sagen, dass alle mitgliederabhängigen Institutionen in diesen 20 Jahren schwer gebeutelt wurden, aber die Kirchen sind noch am glimpflichsten dabei weggekommen. Nur bei Zeitschriften finden wir ähnliche Werte: die verkaufte Auflage des SPIEGEL ist seit 1998 um 16,5% gesunken und bewegt sich dabei im Vergleich auf der Höhe mit den Kirchen.

Das Geraune vom Massenphänomen „Kirchenaustritt“ ist daher immer auch als interessegeleitetes ideologisches Phänomen zu betrachten. Und IDEA hat ein außerordentliches Interesse daran, die Amtskirche klein zu reden und die nun wirklich marginalen Freikirchen und Allianzen groß zu schreiben. Nur mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun.


Rothko als Baselitz / 18.06.2015

Es gehört ja zu den betriebsinternen Witzen des Kunstsystems, dass in einem Museum ein Kunstwerk der Moderne aus Versehen verkehrt herum, also auf dem Kopf aufgehängt wurde. Spätestens seit der Abstraktion ist es ja auch gar nicht so einfach, sich zu orientieren.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat es nun bei ihrer neuesten Denkschrift geschafft, diesen Effekt zu reproduzieren, sozusagen Mark Rothko auf den Kopf zu stellen (wie manchmal die Welt in der Kunst eines Georg Baselitz). Ist ja auch schwer zu erkennen, wo hier oben und unten ist und in der EKD verfügt man sicher nicht über einen Internetanschluss, um das mal eben zu überprüfen. Die Bildende Kunst selbst kommt natürlich in der Denkschrift nicht vor (obwohl sie seit der Romantik durchaus als Kunstreligion zu den religiösen Ausdrucksformen zählt), nur das Wort kommt einmal vor, nämlich als Kunst, etwas Bestimmtes zu können. Ja, Können ist eine Kunst - aber Kunst aufhängen können sie definitiv nicht.

Man kann sich nun fragen, wie man überhaupt auf Mark Rothko im Kontext dieser Denkschrift gekommen ist. Sachlich hätte sich ja ein Blick in die Rothko-Kapelle in Houston angeboten, die seit Jahrzehnten dem interreligiösen Gespräch dient. Aber das Bild "Nr. 10" hängt im MOMA und hat erkennbar wenig mit der Sache zu tun. Obwohl .... wenn man die Größenordnungen der Farbfelder zueinander nimmt ... Aber so viel Symbolismus werden sie in der EKD und ihrer Theologischen Kammer dann doch nicht betrieben haben.

P.S.: Aber man könnte es ja mit dem MOMA-Kommentar versuchen: "The irregular patches of color characteristic of the artist’s Multiform paintings of 1948 seem to have settled into place on this canvas, which Rothko divided horizontally into three dominant planes of color that softly and subtly merge into one another. ... He explained, "The progression of a painter's work, as it travels in time from point to point, will be toward clarity: toward the elimination of all obstacles between the painter and the idea, and between the idea and the observer."


Gefängnis als Motivation / 23.06.2015

Ja, so haben es die Herrschenden vom Anbeginn der Zeiten sich schon immer gedacht: Man muss den Künstler ab und an ein Gefängnis zeigen, dann fühlen sie sich gleich viel mehr motiviert! Aus dieser bitteren Lehre möchte der Protestantismus 2017 in Wittenberg eine Tugend machen, wie in der Zeitschrift zeitzeichen nachzulesen ist:

> .... Hinter ihm das alte Gefängnis, seit den Siebzigerjahren außer Betrieb und heute leerstehend. Es soll im Reformationssommer 2017 zum Künstlerhaus werden, so Schneiders Vision: "40 Künstler arbeiten über Luther und setzen sich mit Luther auseinander." Dies alles soll in Zusammenarbeit mit der documenta in Kassel geschehen, die 2017 zeitgleich zur Weltausstellung Reformation stattfindet. Etwas zerfallen wirkt es schon, das alte Gefängnis. Egal, so eine Atmosphäre wirkt auf Künstler in der Regel beflügelnd. Das wird toll. <

Unbestritten, man muss sie nur ins Gefängnis stecken, die Künstler. Wirkt echt beflügelnd. Toll. Im Herbst letzten Jahres schrieb ich in der gleichen Zeitschrift:

> Ein Lackmustest für die Bemühungen der Evangelischen Kirche um Kunst im Gefolge des Themenjahrs „Bibel und Bild“ scheint mir daher zu sein, was sie 2017, in dem Jahr, in dem das Reformationsjubiläum, die documenta in Kassel und die Biennale in Venedig zusammenfallen, der Kunst anzubieten hat. Denn wir feiern 2017 nicht nur 500 Jahre Reformation, sondern, wie Hans Belting in seinem Buch „Bild und Kult“ deutlich gemacht hat, auch 500 Jahre freie Kunst nach dem Ende der Kultbildzeit. Ich bin gespannt auf die kirchlichen Aktivitäten zu dieser Koinzidenz und hoffe, es wird nicht nur der Blick zurück auf den Beitrag Cranachs zur Reformation, sondern auch der Blick zur Seite und nach vorne auf die Gegenwart und Zukunft der Kunst sein. ... Aber bitte: keine Kultbild-Ausstellung „Martin Luther in der zeitgenössischen Kunst“. <

Es hat nicht sollen sein, die Evangelische Kirche hat den Lackmustest kultureller Zeitgenossenschaft nicht bestanden. Mal sehen, was die Künstler im Gefängnis der narzistischen Selbstbespiegelung der Evangelischen Kirche zustande bringen. Vergleichsmaßstab wird dann aber vermutlich nicht die documenta oder die Biennale sein, sondern die Staatskunst der DDR zum Lutherjubiläum 1983. Und ich freue mich auf die nächste Ausstellung meiner Sparkasse: „Die Banknote in der Kunst der Gegenwart“. Dabei kämen vermutlich sogar einige Werke zusammen, vom unvermeidlichen Rizzi bis zum respektablen Beuys. Und Banknoten in der Kunst sind wenigstens eine Art Gesetzesübertretung, denn Geldscheine verbleiben immer im Eigentum (wenn auch nicht im Besitz) der Bundesbank. Luther in der Kunst ist dagegen immer: trivial.


Baselitz als Protestler / 13.07.2015

Georg Baselitz hat, wie man sagt, ein notorisch schlechtes Verhältnis zu allem, was nicht er selbst ist. Im Augenblick zum deutschen Staat. Dieser hat angeblich angekündigt, im Rahmen des deutschen Kulturschutzgesetzes jene Werke, die „dauerhaft in Deutschland verwahrt worden sind“ – sprich, z.B. als Dauerleihgaben in Museen hängen – unter Schutz zu stellen. Schutz heißt hier nicht zuletzt: Exportschutz. Dass nun die Kunsthändler bzw. Galeristen protestieren ist nicht unverständlich. Welcher Händler lässt sich schon gerne sein profitables Geschäft durch Gesetze einschränken. In Deutschland erzielt man auf Auktionen deutlich weniger Erlöse als im internationalen Bereich. Deshalb fühlen sich Händler eingeschränkt, wenn ihnen das Verschieben der Kunstwerke in andere Länder erschwert wird. Den deutschen Staat muss das nicht unbedingt kümmern. Seine Sorge gilt dem nationalen Kulturgut und nicht dem Portemonnaie der Händler und Sammler. Baselitz hat nun einige bedeutsame Werke deutschen Museen geliehen. Wichtige Arbeiten hängen in Dresden, München und Chemnitz. Die will er nun zurück. Denn sonst bestünde die Gefahr, dass er sie bei Bedarf und Interesse nicht mehr international auf den Kunstmarkt bringen kann – schlicht, weil eine deutsche Behörde die Werke als national wertvolles Kulturgut klassifiziert. Und welcher Künstler möchte schon dazu zählen? Ich habe keine Probleme damit, dass ein Künstler seine Leihgaben aus einem Museum entfernt. Insgesamt ist mir das mit den Leihgaben eher suspekt, ganz gleich, ob sie nun von einem Künstler oder von einem Unternehmer stammen. Man kann etwas einem Museum schenken (und der Staat sollte dann für die Schenkungssteuer aufkommen), aber man sollte Werke aus dem eigenen Besitz nicht durch ihre Hängung in einem Museum veredeln und dann sich darüber aufregen, dass der Staat daraus auch Schlussfolgerungen zieht. Wer einmal auf einer renommierten Messe mit Arbeiten etwa der klassischen Moderne gewesen ist, kennt die ausliegenden Blätter auf denen sorgfältig verzeichnet ist, in welchem Katalog, in welcher Ausstellung und in welchem Museum das betreffende Werk schon gewesen ist. Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, als würden Künstler den notorisch unterfinanzierten Museen etwas Gutes tun, wenn sie ihnen Kunstwerke auf Dauer leihweise überlassen. Ich sehe das nicht so. Lieber weniger Kunstwerke in einem Museum und dafür solche, für die sich die Stadt, das Land oder der Staat auch finanziell engagiert hat. Man wird nicht fehl gehen, in Baselitz‘ Aktion eine Art Bestrafungshandeln zu erkennen. Das ist dann doch etwas zu viel Selbstüberschätzung. Ohne die systematische staatliche Förderung – sei es auf Ausstellungen wie der Biennale oder in staatlichen Kunsthallen und Kunstmuseen – wäre ein Baselitz sehr viel weniger wert. Also: cool down. Baselitz ist unbestritten einer unserer größten Künstler mit überaus beeindruckenden Werken. Aber es ist nicht so, als ob es nicht schon genügend Werke von ihm in deutschen Museen gäbe. Lassen wir ihm das Vergnügen, seine Münchener und Dresdner Werke in London zu verkaufen, solange sie nicht als nationales Kulturgut eingestuft sind. Die anderen aber, die nun laut schreien, die Eigentumsrechte von Bürgern würden hier beeinträchtigt, weil sie den Kunstbesitzern das gewinnträchtige Verkaufen erschwere, seien dezent an die Sozialbindung des Eigentums in Deutschland erinnert.


EKD gegen das Alte Testament / 13.07.2005

[Ironie] Die Evangelische Kirche hat mit deutlichen Worten die Zerstörung von Bildern, wie sie im Alten Testament in Richter 6, 25ff. zum Ausdruck komme, verurteilt. Auch eine unmittelbare Aufforderung Gottes, Kultbilder zu zerstören, rechtfertige es nicht, diese anzugreifen und Gottes Wort zu folgen: „Im Themenjahr zu ‚Bild und Bibel‘ stellen wir fest, dass die Bilder in vielfältigsten Formen seit langem Ausdruck evangelischer Frömmigkeit geworden sind. Die Zerstörung von Bildern lehnt die Evangelische Kirche ab“. Hier gelte die religiöse Befindlichkeit mehr als die Heilige Schrift. An dieser Stelle sei das protestantische „sola scriptura“ aufgehoben. Gerade das Gespräch mit den orthodoxen Glaubensbrüdern mache der Evangelischen Kirche deutlich, wie wichtig es gewesen sei, das Zweite Gebot abzuschaffen und an dessen Stelle die Verehrung der Bilder zu setzen. [/Ironie] Soweit zum Kapitel „Protestantische Realsatire“. Alles Weitere unter Dialog mit Ökumenischem Patriarchat zur Bedeutung von Bildern.

Vielleicht aber reicht es für die theo-ästhetische Erkenntnis der EKD, wenn sie einmal einen Blick auf die folgenden beiden Bilder werfen würde. Beide haben dasselbe Sujet – den Heiligen Lukas, der die Madonna malt –, aber sie atmen nicht denselben Geist. Das linke zeigt ein Werk des Ikonenmalers Domínikos Theotokópoulos aus der Zeit zwischen 1560 und 1567, das rechte ein Werk des autonomen Künstlers El Greco aus dem Jahr 1605. So groß ist der auch für EKD-Augen wahrnehmbare Unterschied zwischen einer Kunst, die sich der Orthodoxie unterwirft und einer Kunst, die sich von dieser Vorgabe geradezu ikonoklastisch befreit. Es hat einen guten Grund, warum aus Domínikos Theotokópoulos später El Greco wurde. Er lautet: Kunst!


crucifix uncrossed / 15.07.2015

Angeregt durch Wolfgang Vögeles Beitrag über Leonard Cohens „Hallelujah“ in diesem Heft habe ich mir das ‚Buch der Sehnsüchte‘ bestellt (Cohen, Leonard (2010), 4. Aufl. München: btb). Es ist ein Buch vor allem über Erotik, voller Sprachwitz und Ironie. Mir gefällt schon der erste Zitat-Satz von Cohen auf der Buch-Rückseite: „I’m the little Jew who wrote the bible ...“ Da werden manche ins Grübeln kommen. Und während ich in diesem Buch lese, stoße ich immer wieder auf Zeilen, die entweder unmittelbar oder metaphorisch auf das Verhältnis von Kunst und Kirche in der Gegenwart angewendet werden können. Wie ich darauf komme? Nun, zeitgleich zum Buch von Cohen kam mit der Post das Programm einer Kunst-und-Kirche-Tagung in Frankfurt, die über „Auftragskunst! Freiheit der Kunst! Ein Widerspruch?“ nachdenkt. Wer das macht, hält das zumindest für eine respektable und nachdenkenswerte Fragestellung - ich tue das nicht. Aber wie dem auch sei, das Tagungsprogramm drängt sich immer wieder in meine Gedanken, während ich den lyrischen Texten von Leonard Cohen nachsinne. Und was finde ich da unter der Überschrift „Besser“? [Ich füge gleich die amerikanischen Originalverse hinzu:]

Wie Recht Cohen hat; ironisch gesprochen: warum sich mit dem Großen befassen, wenn man auch das Kleine haben kann. Ich bin geneigt, „demonstrates“ eher mit „veranschaulicht“ zu übersetzen; so wie ich „repulsive art“ auch eher mit abstoßender oder abscheulicher Kunst übersetzen würde. Wie ich im Zusammenhang von Kunst und Kirche bzw. Auftragskunst darauf komme? Ich weiß auch nicht. Vielleicht meinte ich das: Besser als richtige Kunst ist im Verhältnis von Kunst und Kirche heutzutage abstoßende Kunst, die (dann wenigstens) der Veranschaulichung dient. [Repulsive Art ist in Amerika übrigens tatsächlich eine Kunstform, die mit den Abstoßungseffekten eines Magneten arbeitet – auch das wäre ein interessanter metaphorischer Impuls, wenn man ihn auf das Verhältnis von Kunst und Kirche übertragen würde – aber das hat Cohen sicher nicht gemeint.] Vielleicht ist es ja wirklich so, dass ein Michael Triegel im Verhältnis von Kunst und Kirche heutzutage wesentlich aussagekräftiger ist als irgendwelche andere zeitgenössische Kunst. Besser als Die Gegenwart der Kunst ist eine Kunst, die uns die Gegenwart des Kunst-und-Kirche-Verhältnisses schlagend vor Augen führt. Von Michael Triegel, so habe ich gehört, soll es noch kein Luther-Porträt geben. Aber bis 2017 ist ja noch etwas Zeit. Was aber intuitiv beim Gedicht von Cohen deutlich wird, wenn man es auf Kunst und Kirche anwendet, ist, dass es immer um darstellende oder abbildende Kunst geht: repulsive art which demonstrates. Tatsächlich entkommt man dem bei einer derartigen Fragestellung nicht.

Beim nächsten Gedicht, das mir im Kontext des spontanen Bedeutungstransfers auffiel, geht es um die Trennung nach längeren Zeiten einer Beziehung (wie von Seiten der Kirche ja auch das Verhältnis von Kunst und Religion gerne als eine Art Beziehungsdrama oder sogar als Ehe vorgestellt wird). Das Gedicht trägt den Titel „Alexandra geht“ und ist ein bekanntes Lied von Leonard Cohen (Alexandra Leaving). Gleichzeitig ist es eine Transformation eines Gedichtes von Constantin P. Cavafy, welches sich seinerseits auf eine Erzählung Plutarchs vom Verlust Alexandrias durch Mark Anton bezieht, der dort von Octavian besiegt wurde. Cohen macht aus dem Ganzen ein Liebeslied über die Trennung von einer Frau namens Alexandra.

Ich zitiere daraus die letzten beiden Strophen:

Überträgt man dies in einer weiteren Volte auf das Verhältnis von Kunst und Kirche, dann erscheint mir bei der ersten Strophe der deutsche, bei der zweiten Strophe der englische Text aussagekräftiger (natürlich nur im Blick auf mein assoziatives Thema, die deutsche Übertragung selbst ist ganz und gar nicht gelungen). Das Gefühl, dass wir im Blick auf Kirche und Kunst selbstsicher meinen, dass wir das Boot schon fest in den Griff bekommen werden, obwohl es in Wirklichkeit untergeht (bzw. schon untergegangen ist), verfolgt mich schon seit einigen Jahren. Man kann für diesen Schiffbruch tatsächlich Gründe benennen, aber sie ändern nichts an den Tatsachen der Geschichte, an den klar benennbaren Ursachen und ihren Wirkungen. Wir laufen der Geschichte hinterher und tun doch so, als stünde sie uns noch bevor: Du wappnest dich schon lange für die Stunde.

You who were bewildered by a meaning, whose code was broken: crucifix uncrossed – diese Worte fassen in nuce zusammen, was das Problem von Kirche und Kunst ist. Wir orientieren uns irrtümlich an einer Bedeutung, deren Code bereits zerbrochen ist, wir gehen aus von einer gemeinsamen Sprache, die gar nicht mehr gesprochen wird und die auch keinesfalls willentlich wiederhergestellt werden kann: crucifix uncrossed! Dieser Glaube an die Kunstreligion oder meinetwegen auch an die Kunst, die im Auftrag der Religion Bedeutung entfaltet ist längst gegenstandslos geworden: crucifix uncrossed! Oder in den Worten von Theodor W. Adorno: The lost unity between art and religion, be it regarded as wholesome or as hampering, cannot be regained at will. Es gibt keinen intellektuell irgendwie anständigen Weg, zur Auftragskunst zurückzukehren. Aber, das sollte man hinzufügen, es gibt auch gar keine Notwendigkeit dazu. Selbstverständlich kann man Künstler als Gäste in die Kirche einladen. Wenn wir aber von Auftragskunst sprechen, sprechen wir von Kunsthandwerk und Design: crucifix uncrossed!


De-Occupy Baselitz / 17.07.2015

Georg Baselitz hat seine Drohung wahrgemacht und seine Bilder aus der Dresdner Galerie Neue Meister abgezogen. 10 Werke, die bisher als „Werke aus Privatbesitz“ dort ausgestellt waren, erwiesen sich als prestigefördernde Dauerleihgaben des Künstlers selbst und wurden nun entfernt, wodurch der bisherige Baselitz-Saal nun verwaist zurückblieb. Leider hat das Museum beschlossen, den Raum sofort wieder mit anderen Werken zu füllen. Schade. So hätte man ja schauen können, ob man wirklich etwas vermisst. Falls ja, hätte man sammeln können, um entsprechende Werke anzukaufen, falls nein, wäre immer noch Zeit gewesen, die Räume mit national wertvollem Kulturgut auszustatten. Da gibt es sicher noch einiges, was zu zeigen wäre.

[Update 31.07.2015] Mein gestriger Besuch in der Galerie Neue Meister in Dresden zeigt mir, dass die Museumsleitung der Versuchung, den Raum nun wieder zu füllen, nicht erlegen ist. Ganz im Gegenteil: In einer wirklich nur großartig zu nennenden Geste hängt in dem riesigen Raum nur ein einziges, darum aber um so auffälligeres Werk. Die Arbeit "Euro" von Thomas Bayrle aus dem Jahr 1998. Im Museumskommentar zum Bild aus dem Jahr 2010 heißt es fast schon prophetisch:

Mit seinem auf die Straßenführung einer Autobahn übertragenem 'Euro' prägt er ein Sinnbild sowohl der modernen Massenmobilität als auch der Vielstaaten-Währung schlechthin: Gerade in den Assoziationsfeldern Überholspur, Stau und Talfahrt erschließen sich - gewollt oder nicht - vielfältige Möglichkeiten zu aktuellen Bezügen. Das Gelobte Land kann pekuniär durchaus prekär sein.

Oder kürzer mit Goethe:

Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach, wir Armen!

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/96/Andreas Mertin.htm
© Andreas Mertin, 2015