Analog – Digital – Monumental II

Bild-Annäherungen. Eine Ergänzung

Andreas Mertin

In Ergänzung zu den im letzten Heft vorgenommenen Überlegungen zu Bild-Annäherungen mit Hilfe von Original, Kopie, digitaler Vergrößerung und Monumentalbüchern, möchte in im Folgenden noch zwei Bände vorstellen, die ich im letzten Beitrag nur angerissen hatte.

  • Lòpez-Rey, José; Delenda, Odile (2014): Velázquez. Sämtliche Werke. Köln: Taschen.
  • Schütze, Sebastian; Terzoli, Maria Antonietta (2014): William Blake. Die Zeichnungen zu Dantes Göttlicher Komödie. Köln: Taschen.
Monumental IV

Ich beginne einmal mit einer Anekdote von meiner ersten Begegnung mit dem Werk von Velázquez. Ich erinnere mich nicht, dass in der Schulzeit Velázquez – sei es im Kunstunterricht, sei es im Geschichtsunterricht – irgendwie eine Rolle gespielt hätte oder auch nur vorgekommen sei. Nach dem Abitur machte ich mit dem VW-Bus eine Studienreise durch das „Alte Europa“ und lernte so zum ersten Mal grundsätzlich unser kulturelles Erbe kennen. Und dabei kamen wir auch nach Madrid. Wir wären fast nicht in den Prado gekommen, weil wir uns mit den Entfernungen vom Campingplatz verschätzt hatten, schafften es dann aber irgendwie doch und gerieten in eine Traube deutschsprachiger Touristen, die von einer resoluten Führerin durch den Prado dirigiert wurden und die dazu einen kleinen roten Regenschirm als Orientierungsmarke nutzte. Da unsere Zeit knapp war, liefen wir einfach hinter dieser Gruppe her in der Hoffnung, so alles Wesentliche zu erfahren. In einem Raum stoppte die Führerin, reckte ihren Regenschirm in die Höhe, deutete auf ein Bild und sagte: das ist eines der vier wichtigsten Bilder der Kunstgeschichte!

Nun kann jeder für sich überlegen, welche Werke der Kunst mit diesem Etikett belegt werden könnten. Mir fielen damals Arbeiten von Giotto, van Eyck, Leonardo, Michelangelo oder Bosch ein, aber die Führerin stand vor einem Bild des Malers Diego Velázquez: Las Meninas, 3,18 Meter × 2,76 Meter groß und im Jahr 1656 entstanden.

Nun, die Kunst von Velázquez war uns in der Schule nicht vermittelt worden, aber schnell war uns damals klar, dass wir tatsächlich vor einem herausragenden Werk der Kunstgeschichte standen - ohne dass wir einen der heute üblichen Audioguides oder eine Museums-App hatten.

In der Wikipedia gibt es eine wunderbare Zusammenstellung zur kultur- und kunstgeschichtlichen Bedeutung des Gemäldes:

Las Meninas ist eines der meistdiskutierten Gemälde der Kunstgeschichte. Der Barockmaler Luca Giordano behauptete von dem Gemälde, dass es die „Theologie des Malens“ darstelle. Der Maler Thomas Lawrence nannte es im 19. Jahrhundert ein Werk über die „Philosophie der Kunst“. Bis heute wird es immer wieder als das bedeutendste Gemälde von Velázquez beschrieben und gilt als eine selbstbewusste, durchdachte Reflexion darüber, was ein Gemälde darstellen kann.

Man kann anhand der Raumrekonstruktion von John F. Moffitt aus dem Jahr 1983 der Präzision der Darstellung des räumlichen Geschehens gut nachgehen. Es ist wirklich faszinierend.


„Las Meninas Aufsicht und Aufriss nach John F. Moffitt“ von Prof.SpongeBob - Eigenes Werk.
Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons


Ich will jetzt hier gar nicht auf die Details eingehen, weil das Thema meines Textes ja ein anderes ist. Die Führerin jener Reisegruppe damals blieb jedenfalls noch vor einem anderen Gemälde stehen und examinierte ihre Gruppe eingehend daraufhin, was sie denn auf diesem Bild sähen? Ob sie erkennen würden, dass sich das Spinnrad scheinbar drehen würde?

Mir selbst ist seinerzeit noch ein anderes Bild von Velázquez im Prado eindrücklich gewesen, eine äußerst reduzierte Kreuzigungsdarstellung, die so ganz anders war als die Bilder, die ich bis dahin kannte.

Warum ich all das so ausführlich erzähle? Nun, als ich jüngst das Monumentalbuch zu Velázquez aus dem Taschen-Verlag erwarb, habe ich zunächst nach diesen meinen Erstbegegnungen mit dem Werk des spanischen Malers gesucht. Wie beeindruckend mussten diese Werke in einer Großdarstellung sein. Und nun konnte man – so hoffte ich – en Detail studieren, wie Las Meninas aufgebaut ist, welche Werke im Hintergrund des Raumes hängen und vieles mehr.

Allerdings ist Velázquez zunächst und vor allem Hof- und Porträtmaler und so füllt sich der Band mit einem Porträt nach dem nächsten. Und auf diese Porträts legt das Buch auch sehr viel Wert. Denn selbst da, wo sich bei Velázquez ein erzählerisches Bild findet, werden in den Vergrößerungen dann vor allem die porträthaften Elemente hervorgehoben. Das ist auf Dauer ermüdend. Zu Las Meninas findet sich im begleitenden Text durchaus alles Wichtiges (aber nicht alles: über manches wird hinweggegangen, weil es offenkundig eine andere Bildhypothese vertritt als der Autor des Buches). Aber auch bei Las Meninas werden wieder die porträthaften Züge in der Vergrößerung hervorgehoben. Warum Las Meninas die „Theologie des Malens“ sein soll, warum es eine durch und durch reflexive „Philosophie der Kunst“ ist, wird nur erwähnt, nicht gezeigt. „Die Meninas sind das sichtbare Bild des unsichtbaren Denkens von Velasquez“ hat René Magritte 1966 an Michel Foucault in einem Brief geschrieben. Meines Erachtens hätte man diesem Werk daher seiner Bedeutung entsprechend mindesten 20 Seiten widmen müssen. So ist es nur ein Bild in einem Werkkatalog. Und das gilt auch für die beiden anderen von mir erwähnten Kunstwerke. Sie vermitteln in ihrer Darstellung im Buch nicht einmal annähernd die Faszination und die Bedeutung des Originals. Und – was viel wichtiger ist – sie helfen einem auch nicht, das Original besser zu verstehen, sie katalogisieren es nur – nur in einem gegenüber anderen Katalogen größeren Format. Gerade durch diesen Werkkatalog zu Velázquez sind mir noch einmal die Grenzen der bloßen Monumentalisierung der Bilddarstellung im Buch deutlich geworden.

Monumental V

Nun komme ich zum zweiten vorzustellenden Monumentalband in diesem Artikel: den Zeichnungen und Aquarellen von William Blake zu Dantes Göttlicher Komödie.

Und hier ging mir endlich das Herz auf: ja, das ist ein Monumentalband zur Kunst, wie ich ihn mir gewünscht habe. Nicht nur, weil die Zeichnungen und Aquarelle bei den Querformaten fast in einem 1:1 bzw. bei den Hochformaten in einem 1:2 Verhältnis dargestellt sind. Sondern auch, weil sich hier wirklich etwas Neues erschließt, weil es nicht nur die Wieder-Holung der Bilder in einem überdimensionalen Werkkatalog ist.

Und nicht zuletzt deshalb, weil William Blake ein oft rätselhafter und rätselhaft bleibender Künstler ist, der einen schnell noch einmal zum Text greifen lässt, weil man sich fragt, ob sein Bild wirklich Reflex des literarischen Werkes ist oder doch nicht unendlich viel mehr.

Sicher, vieles kommt einem durchaus vertraut vor, wenn man bereits andere Illustrationszyklen von Blake kennt, etwa die zum Buch Hiob. Aber dennoch bereitet die visuelle Lektüre Blatt für Blatt Vergnügen. Auch das gewählte leicht rillige Papier finde ich nicht schlecht gegenüber all den glatten, sonst üblichen Hochglanzprospekten. Und schließlich sind auch die einleitenden Essays mit ihren erläuternden Illustrationen aus der weiteren Kunstgeschichte überzeugend. Wenn man das Buch aufschlägt, stößt man gleich zu Anfang des Textes von Maria Antonietta Terzoli über „Das Jenseits bei Dante zwischen antikem Mythos und christlicher Theologie“ auf eine ganzseitige Abbildung des Freskos der Hölle von Nardo di Cione in der Kirche Santa Maria Novella von 1357. Wenige Seiten später wird Domenico di Michelinos Gemälde „Dante als Dichter der Göttlichen Komödie“ aus dem Dom von Florenz sogar doppelseitig abgedruckt. Und wenige Seiten später ebenfalls doppelseitig einige von Botticellis Illustrationen (Hier hätte ich mir den Höllentrichter nur als ausklappbare Bildtafel gewünscht). Das alles ist vorbildlich und stimmt einen für die spätere Bildlektüre der Zeichnungen Blakes hervorragend ein. Auch Stefan Schüttes Text über „Zwei Meister des ‚visibile parlare‘: Dante und Blake“ hilft zum Erschließen und Verstehen des Ganzen. Wenn man dann durch den Katalog der Zeichnungen blättert, ist man immer wieder versucht, Bildlösungen anderer Illustratoren zum Vergleich heranzuziehen. Man kann so zum Beispiel gut erkennen, wie weit entfernt William Blake mit seinen Zeichnungen von den Illustrationen eines Gustave Doré ist, der eher ein Diener des Textes und nicht eigenständiger Umsetzer des Werks ist. Nehmen wir die Bilder, die Sandro Botticelli, William Blake und Gustav Doré zum 31. Gesang des Infernos zu der Szene geschaffen haben, in der der Riese Antaeus Dante und Vergil am Kokytos im letzten Kreis der Hölle absetzt.

Bei Botticelli handelt es sich um ein Detail am unteren rechten Rand eines Skizzenblattes, das die gesamte Riesenszenerie darstellt.

Wir blicken auf einen Riesen, der Dante und Vergil wie Puppen gepackt hat und sie leicht herabbeugend am Kokytos absetzt. Es ist vor allem die Beiläufigkeit, die diese Szene auszeichnet.

Bei Doré blicken wir auf einen knienden alten, langbärtigen Riesen, der die beiden Reisenden sorgsam absetzt, wobei einer der beiden sich noch ängstlich am Bart festklammert. Der genauere Blick auf die Szene zeigt, wie sorgsam der Riese vorgeht, er stützt den Fuß des Menschen mit dem Finger der rechten Hand und stärkt mit der linken dessen Rücken. Seine eigenen Füße dagegen sind so groß wie die menschliche Figurengruppe selbst.

Doré wie Botticelli verbleiben aber im Bereich des Imaginierbaren. Wenn wir uns vor dem inneren Auge einen Riesen vorstellen würden, der kleine Menschen transportiert und absetzt, dann könnte so etwas herauskommen.

Das ist ganz anders bei William Blake. Ich gebe einmal die Beschreibung aus dem Monumentalbuch wieder:

Der Gigant klammert sich am Rand des Höllenkraters fest und beugt sich mit halsbrecherischer Akrobatik hinab, um die beiden Wanderer sanft abzusetzen. Dante hält noch angstvoll mit beiden Armen die Hand des Antaeus umschlungen. Der kraftvoll modellierte Körper des Giganten ist bis zum Äußersten gespannt und wird im nächsten Moment, so der Text, wie der gebeugte Mast eines Schiffes zurückschnellen. Sein komplexes Bewegungsmotiv wird durch die ihn kreisförmig umrahmende Wolkenkonfiguration noch betont.

Der hier erwähnte Bezugstext bei Dante lautet:

„Doch er setzte uns unten auf dem Grund ... ganz behutsam ab, verweilte auch nicht lange so gebückt, sondern richtete sich wieder auf wie der Mastbaum über einem Schiff.“

Während sich Botticelli und Doré ganz auf die Geste der Behutsamkeit des Riesen konzentrieren, legt Blake zudem Wert auf den Kraftakt, der im Geschehen liegt. Man bekommt die ganze spannungsvolle Groteske, die Blake in die Szene legt, vielleicht am besten mit, wenn man das Blatt einmal um 90° dreht. Was man dann sieht, scheint fast unmöglich. Es ist, als ob immer noch Gaia als Mutter Erde die Füße ihres Sohnes Antaeus mit Kraft versorgt und ihn an sich binden würde. Aber wenn man dann das Bild wieder in die Normalposition bringt, spürt man die ganze Fürsorge, die Antaeus dem menschlichen Wandererpaar entgegenbringt und die geradezu physische Mühe, die das für ihn bedeutet hat. William Blake kommt so dem Text am nächsten und vermittelt doch zugleich ein ganz anderes und eindrücklicheres Bild des Geschehens als es Botticelli und Doré vermocht haben. Das hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, dass die theologische Idee, von der Blake ausgeht, eine gänzlich andere ist, als jene, die Dante umtreibt.

Wenn man Gustav Dorés Illustrationen Blatt für Blatt verfolgt, dann baut sich nach und nach eine Kulisse der Bedrohung, des Schreckens, des Leides und der Verzweiflung auf. Darin entspricht er dem zu illustrierenden Text. Ganz anders ist das bei William Blake, hier hat man diesen Eindruck nicht. Es mag eine Art romantischer Traurigkeit geben, aber es gibt keine wirkliche keine Verzweiflung – obwohl es natürlich Gesten der Verzweiflung bei den dargestellten Figuren gibt. Aber der Grundton ist ein anderer, denn Blake glaubt an das Gute. Selbst dort, wo Mohammed im Canto 28 seinen zerrissenen Körper präsentiert, liegt nur eine unendliche Traurigkeit über der Szene.

Blake möchte sich in dieser Hinsicht von Dante unterscheiden. So schreibt Michael Davis in seinem Buch über Blake:

 “He appreciated Dante's greatness as a poet but rejected his ideas: 'for Tyrannical Purposes he has made This World the Foundation of All, & the Goddess Nature Memory is his Inspirer & not Imagination the Holy Ghost.' God 'could never have Built Dante's Hell, nor the Hell of the Bible neither, in the way our Parsons explain it.' Consequently, while some of Blake's designs are literal illustrations of The Divine Comedy and some parallel Blake's own myths, others show Dante poised on the edge of full insight, but then drawing back into error. Although Blake told Crabb Robinson 'Dante saw devils where I see none — I see only good', Blake concentrated on the least merciful part of Dante's epic, Hell, for which he made sixty-nine designs, whereas for Purgatory and Paradise he made less than half that number.” (Davis, Michael (1977): William Blake. A new kind of man. Berkeley: University of California Press, S. 155.)

'Dante saw devils where I see none — I see only good’ – Weniges beschreibt die Differenz der beiden Meister des ‚visibile parlare‘ besser. Inwiefern kann man dann aber Blakes Zeichnungen zu Dantes Göttlicher Komödie für gelungen halten? Nicht weil er sie gut illustriert, sondern weil er sie im positivsten Sinne überträgt. In der Dante-Enzyklopädie von Richard Lansing hebt Jean-Pierre Barricelli hervor:

As a result, Blake's tendency is to use Dante, partly as his illustrator, partly as his opponent … In this sense, we may speak less of "illustrations" as such than as "transformations" based on details of private significance. We study them for their intellectual content, not to envision Dante's scenes. (Barricelli, Jean-Pierre (2010): Blake, William. In: Richard Lansing (Hg.): The Dante Encyclopedia. New York: Routledge, S. 107–108.)

Transformation ist ein gutes Wort für das, was Blake leistet. Es ist ein Verdienst dieses Buches, dass es dies für jeden Leser einsichtig und nachvollziehbar macht. Wir können an ihnen studieren, wie eine Welt aussieht, die dem Konzept der „Hölle“ weniger Plausibilität zumisst und die noch in den tiefsten Abgründen des Menschseins die Gesten der Solidarität und der Güte aufsucht.

Digital II

Das oben beschriebene Bild vom Riesen Antaeus, der Dante und Vergil auf Händen transportiert, bietet abschließend die Gelegenheit, auch noch einmal auf die digitale Vergegenwärtigung des Bildes zu sprechen zu kommen. Im Google Art Project sind aktuell 553 Werke von William Blake versammelt, darunter auch vier hochauflösende Abbildungen zu Dantes Komödie. Auch das Bild mit Antaeus ist als Werk aus dem Sammlungsbestand der National Gallery of Victoria, dem ältesten öffentlichen Museum Australiens, in hochauflösendem Format greifbar. Und hier kann man in kleinste Bilddetails hineinzoomen:

Und so kann man studieren, wie sich Dante ängstlich an die Hand des Antaeus klammert, während er noch über dem Boden schwebt, wie Antaeus angestrengt-sorgenvoll blickt, ob die Objekte seiner Fürsorge auch unbeschädigt ankommen, und wie sich die linke Hand des Antaeus an den Felsen krallt, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Der Vorteil der digitalen Annäherung ist es, dass man sich ganz aufs Detail konzentrieren kann, weil automatisch der Rest des Bildes aus dem Fokus gerät. So ergänzen sich die Annäherung an die Bilder per Buch und die Annäherung per Internet bzw. per Computer ideal.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/96/am514.htm
© Andreas Mertin, 2015