Sakral – Religiös – Spirituell?

Oder doch nur: als bedeutungsvoll beschrieben? Notizen

Andreas Mertin

Worte als Indizes

Architekten schaffen „Sakralräume“ seitdem die Menschen sesshaft geworden sind. Die mit dieser Aufgabe betrauten Menschen mussten schon am Beginn der Menschheit entscheiden, wie die Räume / Gebäude gestaltet sein sollten, die dem Kult gewidmet waren. Da diese offenkundig anders aussehen sollten als profane Räume / Gebäude musste quasi ganz natürlich der Gegensatz von Profan- und Sakralarchitektur entstehen. Weder ist damit schon gesagt, dass die Architektur das Heilige durch die Räume erschafft, noch dass Religiöses nicht auch in den profanen Räumen, also in den Wohnräumen stattfinden kann. Es ist zunächst einmal nur eine funktionale Differenzierung. Die beinahe mythische Überhöhung dieser architektonischen Leistung erfolgte erst in späteren Jahrhunderten, als die Menschen begannen, die so geschaffenen Räume / Gebäude als jene anzusehen, an denen die religiösen Kräfte sich auch niedergelassen hätten.

Das Wort „Sakralarchitektur“ selbst dürfte – anders als die damit bezeichnete Sache - freilich erst sehr späten Datums sein. Ich vermute, dass es aus dem zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts stammt, als die religionsgeschichtliche Forschung bedeutsam wurde und man nach einem Oberbegriff suchte, der die Kultbauten der Religionen vereinen sollte. Die Selbstverständlichkeit, mit der heute immer von „Sakral“ bzw. „Sakralbau“ gesprochen wird, muss relativiert werden. Während der Begriff der „Profanarchitektur“ in der Literatur selbst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus vorkommt, ist das bei der Sakralarchitektur nicht der Fall, hier ist als Gegensatz in aller Regel von kirchlicher Architektur die Rede. Ein Blick auf das Vorkommen der Begriffe im Google Book Ngram Viewer führt dies schlagend vor Augen:

Zugespitzt könnte man sagen, dass die seit Beginn der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Konjunktur des Wortes „sakral“ im alltagssprachlichen Bereich in einem umgekehrten Verhältnis zum empirischen Vorkommen des damit bezeichneten Phänomens steht. Während inzwischen kaum noch Heiliges im religionsgeschichtlichen Sinne existiert, wird aber umso mehr über funktionales Heiliges geredet. Heilig sind nun, da das Heilige verloren gegangen ist, auch das Fußballspiel und der Konsum, denen jeweils Tempel und Kathedralen gewidmet werden. Manche liberale Theologen können inzwischen auch in jedem Computerspiel Züge des Heiligen erkennen. Der metaphorische Gebrauch des Wortes wird dabei selten bewusst gemacht.

Das Wort „sakral“ bezeichnet eigentlich etwas, zu dem der Sprechende schon in einem historischen Distanzverhältnis steht. Das hat auch seinen nachvollziehbaren Grund. Als die bedeutende Architektur vor allem die religiöse war, charakterisierte das Wort „Profanarchitektur“ die davon abweichenden säkularen Bauten. Seitdem die bedeutendsten Bauten sich in der Säkularität ereignen, charakterisiert das Wort „Sakralarchitektur“ analog die davon abweichenden (wenigen) religiösen Bauten.

Historisch rückwirkend erweist die Differenzierung zwischen Sakralbau und Profanbau dann auch als Systematisierungskategorie in der Architekturtheorie ihre Kraft und gewinnt dort eben auch ihre Legitimität.

Inzwischen hat sich der Begriff der sakralen Architektur gegenüber dem Begriff der religiösen Architektur durchgesetzt.

Die Konjunktur der Rede von der religiösen Architektur um 1840 verdankt sich dem Erscheinen von Hegels Vorlesungen zur Ästhetik, der sich im Kapitel der romantischen Architektur (also der vordringenden Subjektivität) dieses Begriffs bedient. Das Wort „sakral“ nutzt Hegel dagegen nicht (mit Ausnahme der Person des Sakrales aus Platons Georgias), es taucht erst bei Max Weber und Georg Simmel in der Gesellschaftsphilosophie auf. Meyers Großes Konversations-Lexikon aus dem Jahr 1905 kennt nur einen ganz knappen Verweis auf das Wort „Sakral“ und wesentlich mehr Hinweise auf dessen anatomische Bedeutungen.

Das Wort „religiös“ war im Vergleich zu „sakral“ immer der allgemeinere, wesentlich häufiger verwendete und zugleich persönlichere Begriff. Wir sprechen ganz selbstverständlich von der Religion in Geschichte und Gegenwart, aber kaum vom Sakralen in Geschichte und Gegenwart.

Dennoch erfreut sich die Rede vom Sakralen in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit (während zugleich die Rede von der Profanarchitektur abnimmt, da sie, wie erwähnt, inzwischen die Regelarchitektur ist). Vergleichbar mit der Konjunktur des Sakralen ist heute zudem die Rede vom Spirituellen:

Nicht sehr verbreitet ist dagegen die Rede von der „spirituellen Architektur“, die eher ins Ökologische und Nachhaltige und weniger ins Religiöse führt.

Im Blick auf die für die religiösen Gebäude verwendeten Begriffe lässt sich noch beobachten, dass das Wort „Haus Gottes“ seltener verwendet wird als das Wort „Gotteshaus“ oder das neutrale Wort „Kirchenbau“.


Differenzierungen

Wenn man davon ausgeht, dass derlei sprachliche Differenzierungen nicht nur zufällig geschehen, sondern auch konkrete Prozesse beschreiben, die ihrerseits auch wiederum beeinflussbar sind, dann sollte man doch sehr viel mehr Wert auf eine präzise Wortwahl legen. Sie sollte zumindest zur eigenen theologischen Theoriebildung kompatibel sein. Wenn ich immer wieder auf Theologinnen und Theologen stoße, die von der Kirche bzw. vom Kirchengebäude als Sakralraum sprechen, dann frage ich mich, was sie damit meinen. Ist Gott den Menschen innerhalb dieser Räume auch nur um einen Femtometer näher als anderswo? Kommt man mit Gott schneller ins Gespräch, wenn man im „Sakralraum“ ist, als wenn man sonst irgendwo zu ihm betet? Ist irgendetwas im Sakralraum präsent, das nicht auch außerhalb dieses konkreten Raumes präsent wäre? Es geht nicht um die Gemeinschaft der Heiligen – unbestritten können Räume der Versammlung der Gemeinde (atmosphärisch, kommunikativ) förderlich sein. Aber sind sie mehr als das? Ich sehe keine biblische Legitimation für diesen Gedanken.

Das Wort „Sakralraum“ sollte daher zur Vermeidung von Missverständnissen exklusiv für die Architektursprache und –theorie vorbehalten bleiben und in einem funktionalen Sinne der Abgrenzung von der Profanarchitektur dienen. Wenn man das akzeptiert, macht es auch wenig Sinn, von Sakralität in der profanen Architektur zu sprechen – allenfalls zur Kennzeichnung von Zitaten aus der Sakralarchitektur. Dort, wo in der Architektur nur Bedeutungsüberhöhungen oder Bedeutungsanreicherungen vorgenommen werden, sollte man dies auch präzis so benennen.

Wenn dagegen Theologen vom Sakralraum sprechen und nicht den architekturtheoretischen Begriff meinen, müssten sie eigentlich davon ausgehen, dass es ein Heiliges gibt, das an den Ort gebunden oder an einem Ort vorfindlich ist – auf das man sozusagen stößt. Soweit ich es sehe, wird diese Vorstellung einer lokalen Präsenz des Heiligen aktuell von keiner der großen Buchreligionen mehr geteilt – oder wenn doch, dann nur an den Rändern (im Sinne etwa von wiederholten Marienerscheinungen). Im Judentum ist seit dem Verlust des Tempels die Verörtlichung des Heiligen nicht an einen konkreten Raum geknüpft, sondern wird symbolisch vergegenwärtigt, im Christentum bezeichnet Paulus allenfalls den Leib des Christen als Tempel Gottes und im Islam sind Moscheen keinesfalls heilige Orte. Selbstverständlich gibt es bei all diesen Religionen bedeutungsvolle Orte und Räume, die über die architektonische Umfriedung des Versammlungsraumes hinaus im Leben der Gläubigen oft auch dauerhaften einen Wert haben. Aber es sind erkennbar in einem präzisen Sinne „religiöse Räume“, d.h. sie lassen sich im Rekurs auf die Rezipienten (also nur subjektiv) bestimmen. Die Menschen sagen deshalb nicht: das ist objektiv heilig (dort wohnt / agiert / präsentiert sich Gott), sondern: dieser Ort ist mir heilig (geworden). Und heilig bekommt hier den Gehalt von „religiös bedeutungsvoll“ bzw. „persönlich bedeutungsvoll“ oder auch „historisch bedeutungsvoll“ (z.B. weil hier das Grab des Jüngers und Bischofs Petrus ist).

Selbst bei den lange Zeit doch so hoch emotional geführten Diskussionen um die Kirchenentwidmungen (vgl. etwa das Blog http://www.kirchenschwinden.de/) geht es in aller Regel weniger darum, dass wirklich etwas Heiliges zerstört wird, als vielmehr darum, dass etwas, das persönlich als bedeutungsvoll eingeschätzt wird, nun verändert oder sogar abgerissen werden soll. Verletzt werden sozusagen Gefühle, berührt werden Erinnerungen, die mit Gebäuden verknüpft worden sind.


Ein Blick zurück

1956 schreibt der Religionswissenschaftler Mircea Eliade einen Grundsatztext über Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen für rowohlts deutsche enzyklopädie. Vieles von dem, was Eliade damals schrieb, wird heutiger empirischer Religionsforschung kaum standhalten. Mich interessiert allerdings in unserem Kontext mehr die Konstruktion seines Ansatzes, weil ich glaube, dass diejenigen, die immer noch vom Kirchenraum als Sakralraum sprechen, auf Vorstellungen zurückgreifen, die denen von Eliade verwandt sind. [Ich zitiere im Folgenden aus meiner 1984 im Insel-Verlag, Frankfurt, erschienen Ausgabe.] Eliade schreibt dort:

"Für den religiösen Menschen ist der Raum nicht homogen; er weist Brüche und Risse auf: er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind. 'Komm nicht näher heran!' sprach der Herr zu Mose, 'Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden' (Exodus 3,5). Es gibt also einen heiligen, d.h. 'starken', bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Räume, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort amorph sind ... Weisen wir sofort darauf hin, daß die religiöse Erfahrung der Inhomogenität des Raums eine Urerfahrung darstellt, die wir einer 'Weltgründung' gleichsetzen dürfen ... ein primäres religiöses Erlebnis, das aller Reflexion über die Welt vorausgeht."[23]

Nun, die biblische Erzählung vom Dornbusch ist ganz sicher nicht Abbild einer realen Erfahrung der Begegnung mit dem Heiligen, sondern eine literarische Konstruktion, die bald 1000 Jahre nach dem erzählten Ereignis verfasst wurde. Sie kann also kaum als Beleg für eine ursprüngliche Erfahrung gewertet werden, sondern nur als Indiz für eine theologische Konstruktion, d.h. als Beleg dafür, was Theologen im 6. vorchristlichen Jahrhundert als nachvollziehbares oder beeindruckendes Element einer unmittelbaren Gottesbegegnung betrachteten.

Ob Menschen in vorreligiösen Zeiten (also vor mehr als 12.000 Jahren) bzw. im areligiösen Zustand die Welt tatsächlich als amorph wahrgenommen haben bzw. wahrnehmen, darf bezweifelt werden. Derartige Thesen sind hoch spekulativ, rein thetisch und lassen sich kaum belegen. Argumentativ handelt es sich wahrscheinlich eher um einen circulosus vitiosus: aus der Tatsache, dass sich die Menschen seit frühen Zeiten räumlich verorten (z.B. in Höhlen), wird eine räumliche Bindung (religio) abgeleitet, die nun als religiöse Bindung gedeutet wird. Die Möglichkeit, dass Menschen räumliche Differenzierungen vornehmen, ohne dass Religion eine Rolle spielt, kommt so gar nicht mehr in Betracht. Plausibler ist es jedoch, dass die Wahl bestimmter Orte im Nachhinein mit legitimatorischen Erzählungen (z.B. Ätiologien) abgesichert wurde, zu denen dann auch religiöse Erzählungen gehören können.

Für Eliade ist jedenfalls ein ontologisch fixierter Punkt, ein Bruch in der Gleichförmigkeit, für eine Orientierung in der Welt notwendig. Als späte Beispiele nennt Eliade den Kirchenbau und die Schwelle des heimischen Hauses. Sie sind Orte, die noch vom ursprünglichen Einbruch des Heiligen Zeugnis ablegen. Dabei kann man den heiligen Ort nicht frei wählen, sondern nur suchen und finden. Erst mit der Heiligung (Weihe) eines Ortes wird ein Kosmos errichtet. Ob man aber wirklich auf etwas Heiliges stößt oder nicht doch nachträglich einen Ort, auf den man gestoßen ist, durch Erzählungen hervorhebt, ist kaum rekonstruierbar, wahrscheinlicher ist eher letzteres. (Wie schnell die sprachliche Umwertung dieser Wertungen von Orten gehen kann, zeigt Hosea, wenn er Beth-El als Haus des Bösen bezeichnet [Hos 10,5].) Jedenfalls, soweit wir auf Beschreibungen stoßen, sind diese in aller Regel Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte nach den beschriebenen Ereignissen verfasst.

Eliade beschreibt das Weltsystem der traditionsgebundenen Gesellschaften so:

"a) ein heiliger Ort stellt einen Bruch in der Homogenität des Raumes dar; b) dieser Bruch ist durch eine 'Öffnung' symbolisiert, die den Übergang von einer kosmischen Region zur anderen ermöglicht (vom Himmel zur Erde und umgekehrt von der Erde in die Unterwelt); die Verbindung mit dem Himmel kann durch verschiedene Bilder ausgedrückt werden, die sich alle auf die axis mundi beziehen: Säule, Leiter, Berg, Baum, Liane usw.; d) rund um diese Weltachse erstreckt sich die 'Welt' ('unsere Welt'), folglich befindet sich die Achse 'in der Mitte', im 'Nabel der Erde', sie ist das Zentrum der Welt."[36]

Daraus ergeben sich weitere Schlussfolgerungen:

"a) heilige Städte und Heiligtümer befinden sich im Zentrum der Welt; b) die Tempel sind Nachbildungen des kosmischen Berges und bilden das Band zwischen Erde und Himmel; c) die Grundmauern der Tempel tauchen bis tief in die unteren Regionen hinab."[38]

Ein Kirchenraum, ein Tempel, ein heiliger Raum sind also dieser Logik folgend immer eins: imago mundi. Sogar die private Wohnung erinnert letztlich an diesen ur-sprünglichen Akt. "Tempel, Basilika und Kathedrale" sind darüber hinaus nicht nur imago mundi, sondern "zugleich die irdische Nachbildung eines transzendenten Modells". Sie sind heiliger Ort par excellence. Schon an diesen Formulierungen von Eliade wird deutlich, dass er weniger religionswissenschaftliche Erkenntnisse beschreibt als vielmehr selbst einen Mythos erzählt: von der ursprünglich religiösen Welt, die nun in der Moderne entzaubert wird. Aber auch Eliade muss konstatieren, dass es keine zwingende Logik seines Modells gibt und dass "der religiöse Mensch den Raum auf verschiedene Weise erfahren kann“ [58]. Bedeutsam erscheint mir aber nicht die mythisierende Beschreibung des religiösen Menschen, sondern die Art und Weise, wie Eliade den modernen Menschen davon trennt. Wie immer der religiöse Mensch der Vergangenheit religiöse Räume, Orte und Gebäude bestimmt hat, die Erfahrungen des modernen Menschen weichen davon ab, so dass fraglich wird, ob er den Gedanken einer religiös determinierten Welt überhaupt noch nachvollziehen kann:

„Hier sei jedoch gleich gesagt, daß die in ihrer Totalität profane Welt, der gänzlich entsakralisierte Kosmos, eine neue Entdeckung in der Geschichte des menschlichen Geistes ist ... Uns genügt die Feststellung, daß die Entsakralisierung die totale Erfahrung des nicht religiösen Menschen der modernen Gesellschaften kennzeichnet und daß es für ihn infolgedessen immer schwieriger wird, die existentiellen Dimensionen des religiösen Menschen der archaischen Gesellschaften wiederzufinden.“ [16]

Man merkt schnell: Das Eigentliche ist für Eliade die religiöse Existenz, gegenüber der er die moderne nur als Abweichung und Bestreitung begreifen kann:

„der areligiöse Mensch lehnt die Transzendenz ab ... Auch die großen Kulturen der Vergangenheit kannten areligiöse Menschen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß es solche Menschen schon auf archaischen Kulturstufen gegeben hat, obwohl sich in den Quellen bis jetzt nichts darüber finden läßt. Doch erst in den modernen westlichen Gesellschaften hat der areligiöse Mensch sich voll entfaltet. Der moderne areligiöse Mensen nimmt eine neue existentielle Situation auf sich: er betrachtet sich nur als Subjekt und Agens der Geschichte, und er verweigert sich dem Transzendenten. Anders ausgedrückt: ... Der Mensch macht sich selbst, und er kann sich nur in dem Maß wirklich selbst machen, in dem er sich selbst und die Welt entsakralisiert. Das Sakrale steht zwischen ihm und seiner Freiheit. Er kann nicht er selbst werden, ehe er nicht von Grund aus entmystifiziert ist. Er kann nicht wirklich frei sein, ehe er den letzten Gott getötet hat.“

Das ist das konstitutive Modell, das ich bei Eliade und weiterhin bei vielen Zeitgenossen beobachte: dass es ursprünglich einen religiösen Zustand / Stand der Welt gegeben hat, der nun der Entsakralisierung und Säkularisierung unterliegt. Der säkulare Mensch, das ist eine weitere Implikation dieser These, kommt aber nicht von der ursprünglichen Form los, er kann mit ihr nur im Zustand der Bestreitung leben. Wenn das so ist, ist die Re-Sakralisierung der Welt ein Angebot an ihn, wieder in den religiösen Kosmos zurückzukehren. Dieses Modell kann nicht funktionieren, schlicht deshalb, weil seine Grundannahmen nicht stimmen. Die Welt, aus der Eliade seine Annahmen entnimmt, ist ja keinesfalls die Lebenswelt der Menschen, sondern vielmehr die Erzählwelt ihrer kulturellen Eliten. Alles, was er an Erfahrungen beschreibt, ist ein kultureller Code, den diese Eliten über Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende tradiert haben. Und sobald die kulturellen Eliten beginnen, diesen Code nicht weiter zu verbreiten und andere Erzählungen an seine Stelle setzen, wird er an Plausibilität einbüßen. Das impliziert natürlich, dass man auch wieder zur alten Erzählung (wenn auch transformiert) zurückkehren kann – die Renaissance oder der Historismus sind Beispiele dafür. Die zentrale Frage aber ist, ob der Sakralraummythos in der Gegenwart noch vernünftig und einsichtig ist. Das Dilemma derer, die am Mythos des Sakralraumes weiterarbeiten ist ja, dass es ihnen in der Gegenwart nicht mehr gelingt, diesen Mythos in die heutige Lebenswelt zu übersetzen. Die Menschen, die (z.B. als Touristen) heute den angeblichen Sakralraum aufsuchen, suchen diesen nun gerade nicht(!) als aktuellen Mythos auf, sondern als geronnenen – so wie man in Athen die Akropolis besucht.

Re-Aktualisierungen: Der Traum des Architekten

Was aber wäre, wenn man den Mythos früherer Architektur wieder lebendig werden lassen könnte? Das ist ein „Traum des Architekten“ der in der Postmoderne zum Teil Wirklichkeit werden sollte. Im gleichnamigen Gemälde von Thomas Cole aus dem Jahr 1840 sieht man einen Architekten, der entspannt über diversen Architekturtraktaten auf einer Mamorplatte liegt und über die gerade betrachteten Entwürfe nachsinnt. Er hat die Augen geschlossen und vor seinem inneren Auge entsteht die Vision einer Landschaft mit ägyptischer, griechischer, römischer und gotischer Phantasiearchitektur. Ein bisschen wie Las Vegas, nur etwas seriöser.

Und doch: es ist nur ein Traum, den man nur als „realisierter Traum“ realisieren kann. Er wird nie Wirklichkeit – wie etwa die Renaissance eine Wirklichkeit wurde -, sondern bleibt allenfalls „verwirklichte Phantasie“. Und das heißt eben: parasitär, sekundär, zweite Wirklichkeit, Abklatsch. Wir sind der Gegenwart aber etwas anderes, nämlich Zeitgenossenschaft schuldig.


Game of Thrones

https://vimeo.com/133433110

Der einzige Weg, auf dem die mittelalterliche Welt der Sakralarchitektur zurückkommen kann, ist also der fiktionale und der virtuelle. Wie im „Making of ...“ der fünften Staffel der Fernsehserie Game of Thrones wird das Bild einer scheinbar normalen Lebenswirklichkeit einfach (technisch oder eben imaginativ) mit dem Fehlenden aufgefüllt. Das geht auch historisch-rekonstruktiv. Man kann wie bei dem nachfolgenden Beispiel von Sebastian König vom Dom in Halle, das ich abschließend zeige, bis in die Zeit vor die Reformation zurückgehen und die „Sakralwelt“ zeigen, wie sie war, bevor der Protestantismus die Welt veränderte. Nur wirklich zurückgehen kann man nicht. Selbst wenn man die alte Inszenierung wiederherstellen würde, wäre es eben doch nur eine Welt des beginnenden 16. Jahrhunderts. Manche würden das als „sakral“ bezeichnen, manche als „spirituell“. Aber es ist und bleibt eine simulierte Spiritualität des 16. Jahrhunderts – aller Kirchenpädagogik zum Trotz.

https://vimeo.com/1507555

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/96/am517.htm
© Andreas Mertin, 2015