Oktober 2015

Liebe Leserinnen und Leser,

dass im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert vehement um Jan van Eyck und die altniederländische Malerei gestritten wurde und dass eines der zentralen Motive dabei das des Verhältnisses von Kunst und Religion war, mag man heute kaum glauben. Aber für die junge romantische Bewegung in Gestalt von Friedrich Schlegel war die Malerei van Eycks (zusammen mit der Malerei Holbeins und Dürers) ein herausragendes Vorbild religiöser Malerei, dem nachzueifern sei. Dagegen setzten andere auf die nach formaler Perfektion strebende italienische Malerei und protestierten gegen den neuerdings erhobenen religiös-patriotischen Ton in der Diskussion. Heute dagegen will einem die Malerei van Eycks weniger als Neubelebung des Religiösen als vielmehr als genaue Wahrnehmung der Wirklichkeit erscheinen. Während einem Raffael fast schon verkitscht vorkommt, scheint van Eyck weiter unser Verständnis der Welt zu befruchten. Die Annäherung der deutschen Intellektuellen an das Phänomen van Eyck dokumentiert dieses Heft mit einer Zusammenstellung entsprechender Texte. Für die an der Diskussion Beteiligten war van Eyck so wichtig, dass sie die Werke vor Ort aufsuchten – ob diese nun infolge der Napoleonischen Raubzüge gerade in Paris waren oder wegen der finanziellen Not der Stadt Gent über London nach Berlin verkauft worden waren. Andere reisten aber direkt nach Gent. Kaum einer der Beteiligten urteilte also ohne direkte Anschauung. Faszinierend sind das Diskussionsniveau und die Selbstverständlichkeit, mit der über Kunst unter den Beteiligten gesprochen und gestritten wurde. Kann man sich analoge Diskussionen heutzutage über Bill Viola, Gerhard Richter oder Matthew Barney vorstellen?

Der zweite Schwerpunkt des Heftes ist die Auseinandersetzung mit Fernando Pessaos radikaler Anthropologie, die sich Wolfgang Vögele anlässlich seines Besuchs in Lissabon genauer angeschaut hat.

Das Jahr „Bild und Bibel“ geht allmählich zu Ende und es hat in der Sache kaum Fortschritte in der Begegnung von Kunst und Evangelischer Kirche gebracht. Dazu hat sicher auch beigetragen, dass die Position des/der Kulturbeauftragten ausgerechnet in diesem Jahr vakant war.

Mit dem kommenden Jahr ist die Stelle wieder besetzt und wir sind gespannt darauf, wie Johann Hinrich Claussen Akzente im Verhältnis von Protestantismus und Kultur setzen wird. Im Augenblick ist dieses Arbeitsfeld ja eher eine Baustelle, was aber auch impliziert, dass etwas Sinnvolles gebaut werden kann. Und mit dem Kunstjahr 2017 wartet ja eine große Herausforderung auf die Kirche.


Zum aktuellen Heft:

Unter VIEW finden Sie zunächst einen Essay von Wolfgang Vögele zu Fernando Pessoa. Es schließen sich an Überlegungen von Andreas Mertin und Karin Wendt rund um das Thema van Eyck. Es folgt die Kompilation verschiedener historischer Texte aus dem 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu van Eyck: Texte von Johann Georg Sulzer, Georg Forster, Friedrich Schlegel, Carl Gustav Carus, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Alexander von Humboldt, Paul Weber und Johan Huizinga. Anschließend finden Sie noch eine kurze Zusammenstellung einschlägiger Literatur zum Thema.

In der Rubrik RE-VIEW gibt es drei Texte von Hans-Jürgen Benedict über Antisemitismus im Christentum, in der Kultur und über Goethes Kunst des Briefeschreibens.

Unter POST finden Sie wie gewohnt die Notizen von Andreas Mertin zu Themen der letzten zwei Monate und eine Glosse über fromme Genderkritik.