"Das Vortrefflichste erreicht, was in dieser Sphäre kann geleistet werden"

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Friedrich Hegel mit Studenten. Lithographie von Franz Theodor Kugler, 1828


In seinen „Vorlesungen zur Ästhetik“, die uns durch Nachschriften seiner Studenten überliefert sind, kommt Georg Friedrich Wilhelm Hegel verschiedentlich auch auf van Eyck und die frühe niederländische Malerei zu sprechen. Im Folgenden finden Sie eine Kompilation der entsprechenden Textstellen - zusammen mit passenden Werke van Eycks.


Im Kapitel über die Auflösung der romantischen Kunstform und dort im Unterabschnitt zur „subjektiven Kunstnachahmung des Vorhandenen“ führt Hegel aus:

“Wie nun hier das Scheinen als solches der Gegen­stän­de den eigentlichen Inhalt hergibt, so geht die Kunst, indem sie den vorübereilenden Schein statarisch macht, noch weiter. Abgesehen nämlich von den Gegenständen, werden auch die Mittel der Darstellung für sich selber Zweck, so dass sich die subjektive Geschicklichkeit und Anwendung der Kunstmittel zum objektiven Gegenstande der Kunstwerke heraufhebt. Schon die alten Niederländer haben das Physikalische der Farben aufs gründlichste studiert; van Eyck, Memling, Scorel wussten den Glanz des Goldes, Silbers, das Leuchten der Edelsteine, Seide, Samt, Pelzwerk usf. aufs Täuschendste nachzubilden. Diese Meisterschaft nun, durch die Magie der Farbe und die Geheimnisse ihres Zaubers die frappantesten Effekte zustande zu bringen, gibt sich jetzt eine selbständige Gültigkeit. Wie der Geist denkend, begreifend die Welt in Vorstellungen und Gedanken sich reproduziert, so wird die Hauptsache jetzt, unabhängig von dem Gegenstande selbst, das subjektive Wiederschaffen der Äußerlichkeit im sinnlichen Elemente der Farben und Beleuchtung. Es ist dies gleichsam eine objektive Musik, ein Tönen in Farben. Wenn nämlich in der Musik der einzelne Ton für sich nichts ist, sondern nur in seinem Verhältnis zu anderen, in seinem Entgegensetzen, Zusammenstimmen, Übergehen und Verschmelzen Wirkung hervorbringt, so ist es mit der Farbe hier dasselbe. Betrachten wir den Farbenschein, der wie Gold glänzt, wie beschienene Tressen glitzert, in der Nähe, so sehen wir nur etwa weißliche, gelbliche Striche, Punkte, gefärbte Flächen; die einzelne Farbe als solche hat nicht diesen Glanz, den sie hervorbringt; die Zusammenstellung erst macht dies Blinkern und Glinzern ... Und so geht es mit Samt, Spiel des Lichtes, Duft der Wolken, überhaupt mit allem, was dargestellt wird. Es ist nicht der Reflex des Gemüts, der sich an den Gegenständen, wie dies bei Landschaften z. B. häufig der Fall ist, darstellen will, sondern es ist die ganz subjektive Geschicklichkeit, welche sich auf diese objektive Weise als die Geschicklichkeit der Mittel selbst in ihrer Lebendigkeit und Wirkung durch sich selber eine Gegenständlichkeit erzeugen zu können kundtut.“


Umfassender ist die Auseinandersetzung im dritten Teil der Vorlesung, im Abschnitt über die „besondere Bestimmtheit der Malerei“. Hier geht es zunächst um das Zentrum aller Darstellungen auf dem Gebiet des Religiösen: um Gott. Dazu sagt Hegel:

„Der erste Gegenstand ist das Objekt der Liebe selbst in einfacher Allgemeinheit und ungetrübter Einheit mit sich. Gott selbst in seinem erscheinungslosen Wesen - Gottvater. Hier hat die Malerei jedoch, wenn sie Gott, den Vater, wie die religiöse christliche Vorstellung ihn zu fassen hat, darstellen will, große Schwierigkeiten zu überwinden. Der Vater der Götter und Menschen als besonderes Individuum ist in der Kunst in Zeus erschöpft. Was dagegen dem christlichen Gottvater sogleich abgeht, ist die menschliche Individualität, in welcher die Malerei das Geistige allein wiederzugeben imstande ist. Denn für sich genommen, ist Gottvater zwar geistige Persönlichkeit und höchste Macht, Weisheit usf., aber als gestaltlos und als eine Abstraktion des Gedankens festgehalten. Die Malerei aber kann die Anthropomorphisierung nicht vermeiden und muss ihm deshalb eine menschliche Gestalt zuteilen. Wie allgemein nun, wie hoch, innerlich und machtvoll sie dieselbe auch halten möge, so wird daraus dennoch nur ein männliches, mehr oder weniger ernstes Individuum entstehen, das mit der Vorstellung von Gottvater nicht vollständig zusammenfällt. Von den alten Niederländern z. B. hat van Eyck in dem Gottvater des Altarbildes zu Gent das Vortrefflichste erreicht, was in dieser Sphäre kann geleistet werden; es ist dies ein Werk, das man dem olympischen Jupiter an die Seite stellen kann; aber wie vollendet es auch durch den Ausdruck der ewigen Ruhe, Hoheit, Macht, Würde usf. sein mag - und es ist in der Konzeption und Ausführung so tief und großartig als irgend möglich -, so bleibt doch darin für unsere Vorstellung etwas Unbefriedigendes. Denn das, als was Gottvater vorgestellt wird, ein zugleich menschliches Individuum, ist erst Christus der Sohn. In ihm erst schauen wir dies Moment der Individualität und des Menschseins als ein göttliches Moment, und zwar so an, dass sich dasselbe nicht als eine unbefangene Phantasiegestalt, wie bei den griechischen Göttern, sondern als die wesentliche Offenbarung, als die Hauptsache und Hauptbedeutung erweist.“


Unmittelbar im Anschluss an diesen ersten Abschnitt über die Gottesdarstellungen wendet sich Hegel den Darstellungen des Gottmenschen, also Jesu Christi zu. Hier muss seiner Meinung nach ein Ausgleich zwischen allgemeiner Vollkommenheit und realer Menschlichkeit gefunden werden. [So gesehen würde Hegel vermutlich im berühmten Streit zwischen Donatello und Brunelleschi für letzteren optieren.] Hegel sagt:

„Das wesentlichere Objekt der Liebe wird daher in den Darstellungen der Malerei Christus sein. Mit diesem Gegenstande nämlich tritt die Kunst zugleich ins Menschliche hinüber, das sich hier außer Christus noch zu einem weiteren Kreise ausbreitet, zur Darstellung der Maria, des Joseph, Johannes, der Jünger usf. sowie endlich des Volkes, das teils dem Heiland folgt, teils seine Kreuzigung verlangt und ihn in seinen Leiden verhöhnt. Hier kehrt nun aber die soeben erwähnte Schwierigkeit wieder, wenn Christus, wie dies in Brustbildern, Porträts gleichsam geschehen ist, in seiner Allgemeinheit soll gefasst und dargestellt werden.

Ich muss gestehen, dass für mich wenigstens die Christusköpfe, die ich gesehen habe, von Carracci z. B., vornehmlich der berühmte Kopf von van Eyck in der ehemaligen Sollyschen Sammlung, jetzt in dem Berliner Museum, und der von Memling bei den Gebrüdern Boisseree, jetzt in München, für mich nicht das Befriedigende haben, das sie gewähren sollen.





Der Eycksche ist zwar in der Form, der Stirn, Farbe, der ganzen Konzeption sehr großartig, aber der Mund und das Auge drücken nichts zugleich Übermenschliches aus. Der Eindruck ist mehr der eines starren Ernstes, welcher durch das Typische der Form, Scheitelung des Haars usf. noch vermehrt wird. Sind dergleichen Köpfe dagegen in Ausdruck und Gestalt gegen das individueller Menschliche hingewendet und damit zugleich in das Mildere, Weichere, Sanfte, so verlieren sie leicht an Tiefe und Macht der Wirkung; am wenigsten aber, wie ich schon früher anführte, passt für sie die Schönheit der griechischen Form.“







Hart wird Hegels Urteil dann im Blick auf die Darstellungen Jesu als Kind und dies vor allem im Vergleich mit Raffael (Es ist nicht ganz klar, auf welches Madonnenbild van Eycks er sich bezieht, vielleicht das des Marienaltars aus Dresden. Dann sollte man aber beachten, dass Raffaels Arbeit von 1512 256 × 196 cm groß ist und van Eycks Mittelbild des Triptychons von 1437 nur 28 x 22 cm):

    

„Dass Christus Kind ist, drückt einerseits bestimmt seine Bedeutung, die er in der Religion hat, aus: er ist Gott, der Mensch wird und deshalb auch den natürlichen Stufengang des Menschlichen durchmacht; andererseits liegt zugleich darin, dass er als Kind vorgestellt wird, die sachliche Unmöglichkeit, das schon alles klar zeigen zu können, was er an sich ist. Hier hat nun die Malerei den unberechenbaren Vorteil, dass sie aus der Naivität und Unschuld des Kindes eine Hoheit und Erhabenheit des Geistes hervorleuchten lässt, welche teils durch diesen Kontrast schon an Macht gewinnt, teils, eben weil sie einem Kinde angehört, in dieser Tiefe und Herrlichkeit in einem unendlich geringeren Grade zu fordern ist als in Christus dem Manne, Lehrer, Weltrichter usf. So sind Raffaels Christuskinder, besonders das der Sixtinischen Madonna in Dresden, vom schönsten Ausdruck der Kindlichkeit, und doch zeigt sich in ihnen ein Hinausgehen über die bloß kindliche Unschuld, welches ebensosehr das Göttliche in der jungen Hülle gegenwärtig sehen als auch die Erweiterung dieser Göttlichkeit zur unendlichen Offenbarung ahnen lässt und zugleich wieder im Kindlichen die Rechtfertigung enthält, dass solche Offenbarung noch nicht vollendet dasteht. Bei van Eyckschen Madonnenbildern dagegen sind die Kinder jedesmal das am wenigsten Gelungene, meist steif und in der mangelhaften Gestalt neugeborener Kinder. Man will darin etwas Absichtliches, Allegorisches sehen: sie seien nicht schön, weil nicht die Schönheit des Christuskindes das ausmache, was verehrt werde, sondern Christus als Christus. Bei der Kunst aber darf solche Betrachtung nicht hereinkommen, und Raffaels Kinder stehen als Kunstwerke in dieser Rücksicht weit höher.“


Im Kapitel über die nähere Bestimmung des sinnlichen Materials kommt Hegel im Abschnitt über die mannigfaltigen Farben noch einmal kurz auf van Eyck und die niederländische Malerei zu sprechen:

„In der Malerei aber ist nur die Farbe vorhanden, die als bloße Farbe dasjenige beeinträchtigen kann, was das Hell und Dunkel für sich fordert. Hier besteht nun die Kunst des Malers darin, solch einen Widerspruch aufzulösen und die Farben so zusammenzustellen, dass sie weder in ihrer Lokaltinte der Modellierung noch in ihrem sonstigen Verhältnis einander Schaden tun. Erst durch die Berücksichtigung beider Punkte kann die wirkliche Gestalt und Färbung der Gegenstände bis zur Vollendung zum Vorschein kommen. Mit welcher Kunst haben z.B. die Holländer den Glanz von Atlasgewändern mit allen den mannigfaltigen Reflexen und Abstufungen des Schattens in Falten usf., den Schein des Silbers, Goldes, Kupfers, glasierter Gefäße, Samt usf. und ebenso van Eyck schon das Leuchten der Edelsteine, Goldborten, Geschmeide usf. gemalt.

Die Farben, durch welche z. B. der Goldglanz hervorgebracht ist, haben für sich nichts Metallisches; sieht man sie in der Nähe, so ist es einfaches Gelb, das für sich betrachtet nur wenig leuchtet; die ganze Wirkung hängt einerseits von dem Herausheben der Form, andererseits von der Nachbarschaft ab, in welche jede einzelne Farbnuance gebracht ist.“


Abschließend kommt Hegel im Abschnitt über die historische Entwicklung der Malerei auf van Eyck zu sprechen. Zunächst setzt er die deutsche und niederländische Malerei gegen die italienische ab und notiert:

„Der allgemeine Unterschied gegen die Italiener besteht hier darin, dass weder die Deutschen noch die Niederländer aus sich selbst zu jenen freien idealen Formen und Ausdrucksweisen hingelangen wollen oder können, denen es ganz entspricht, in die geistige verklärte Schönheit übergegangen zu sein. Dafür bilden sie aber auf der einen Seite den Ausdruck für die Tiefe der Empfindung und die subjektive Beschlossenheit des Gemüts aus; auf der anderen Seite bringen sie zu dieser Innigkeit des Glaubens die ausgebreitetere Partikularität des individuellen Charakters hinzu, der nun nicht nur die alleinige innere Beschäftigung mit den Interessen des Glaubens und Seelenheils kundgibt, sondern auch zeigt, wie sich die dargestellten Individuen auch um die Weltlichkeit bemüht, sich mit den Sorgen des Lebens herumgeschlagen und in dieser schweren Arbeit weltliche Tugenden, Treue, Beständigkeit, Geradheit, ritterliche Festigkeit und bürgerliche Tüchtigkeit erworben haben.“


Und dann bezieht er sich konkret auf die Arbeiten der van Eycks:

„Unter den älteren Niederländern ragen besonders die Gebrüder van Eyck, Hubert und Johann, schon im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts hervor, deren Meisterschaft man erst in neuerer Zeit wieder hat schätzen lernen. Sie werden bekanntlich als die Erfinder oder wenigstens als die eigentlichen ersten Vollender der Ölmalerei genannt. Bei dem großen Schritte, den sie vorwärts taten, könnte man nun glauben, dass sich hier von früheren Anfängen her eine Stufenleiter der Vervollkommnung müsste nachweisen lassen. Von solch einem allmählichen Fortschreiten aber sind uns keine geschichtlichen Kunstdenkmäler aufbewahrt. Anfang und Vollendung steht bis jetzt für uns mit einem Male da. Denn vortrefflicher, als diese Brüder es taten, kann fast nicht gemalt werden. Außerdem beweisen die übriggebliebenen Werke, in welchen das Typische bereits beiseite gestellt und überwunden ist, nicht nur eine große Meisterschaft in Zeichnung, Stellung, Gruppierung, innerer und äußerer Charakteristik, Wärme, Klarheit, Harmonie und Feinheit der Färbung, Großartigkeit und Abgeschlossenheit der Komposition; sondern auch der ganze Reichtum der Malerei in betreff auf Naturumgebung, architektonisches Beiwerk, Hintergründe, Horizont, Pracht und Mannigfaltigkeit der Stoffe, Kleidung, Art der Waffen, des Schmuckes usf. ist bereits mit solcher Treue, mit so viel Empfindung für das Malerische und solch einer Virtuosität behandelt, dass selbst die späteren Jahrhunderte, wenigstens von selten der Gründlichkeit und Wahrheit, nichts Vollendeteres aufzuzeigen haben.“


Aber dann fährt Hegel fort, ein schon zuvor geäußertes Argument zu den Christuskind-Darstellungen aufgreifend:

„Dennoch werden wir durch die Meisterwerke der italienischen Malerei, wenn wir sie diesen niederländischen gegenüberstellen, mehr angezogen werden, weil die Italiener bei voller Innigkeit und Religiosität die geistreiche Freiheit und Schönheit der Phantasie voraushaben. Die niederländischen Figuren erfreuen zwar auch durch Unschuld, Naivität und Frömmigkeit, ja in Tiefe des Gemüts übertreffen sie zum Teil die besten Italiener, aber zu der gleichen Schönheit der Form und Freiheit der Seele haben sich die niederländischen Meister nicht zu erheben vermocht; und besonders sind ihre Christkinder übel gestaltet, und ihre übrigen Charaktere, Männer und Frauen, wie sehr sie auch innerhalb des religiösen Ausdrucks zugleich eine durch die Tiefe des Glaubens geheiligte Tüchtigkeit in weltlichen Interessen kundgeben, würden doch über dies Frommsein hinaus oder vielmehr unter demselben unbedeutend und gleichsam unfähig erscheinen, in sich frei, phantasievoll und höchst geistreich zu sein.“


Trotzdem steht am Abschluss des Kapitels über die Malerei ein emphatisches Lob Hegels für die niederländische Kunst:

„Das, was zu jedem Kunstwerk gehört, gehört auch zur Malerei: die Anschauung, was überhaupt am Menschen, am menschlichen Geist und Charakter, was der Mensch und was dieser Mensch ist. Diese Auffassung der inneren menschlichen Natur und ihrer äußeren lebendigen Formen und Erscheinungsweisen, diese unbefangene Lust und künstlerische Freiheit, diese Frische und Heiterkeit der Phantasie und sichere Keckheit der Ausführung macht hier den poetischen Grundzug aus, der durch die meisten holländischen Meister dieses Kreises geht. In ihren Kunstwerken kann man menschliche Natur und Menschen studieren und kennenlernen.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/97/gwfh1.htm
© Georg Friedrich Wilhelm Hegel, 2015