Abschiedsmusik und Antisemitismus

Zu Gast bei den Gustav Mahler Musik-Wochen in Toblach

Hans-Jürgen Benedict

„Mein Freund, mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold“, heißt es im letzten Satz von Mahlers Lied von der Erde, betitelt Der Abschied. In den letzten drei Sommern vor seinem Tod im Mai 1911 hat der schwer herzkranke Komponist und Dirigent Gustav Mahler in Toblach in Südtirol Urlaub gemacht. 100 Meter von seiner Sommerresidenz entfernt lag ein kleines Holzhäuschen, in das er sich zur Arbeit zurückzog und in dem die 9. Sinfonie,das Lied von der Erde und die unvollendete 10. Sinfonie entstanden. Das war Anlass genug, in Toblach im Jahr 1980 die Settimani musicali Gustav Mahler, auf Deutsch: Gustav Mahler Musikwochen ins Leben zu rufen. In diesem Jahr wurden sie zum 35. Mal begangen – vor imposanter Bergkulisse (wie in einem Naturtheater öffnet sich der Blick in das erhaben gezackte Dolomitengebirge) und in dem ehemals berühmten Grand Hotel Toblach, das heute neben dem Gustav Mahler-Konzertsaal und dem Infozentrum Weltnaturerbe Dolomiten - eine Jugendherberge beherbergt.

Das Komponierhäuschen Mahlers liegt heute mitten in einem Wildpark eine knappe halbe Stunde Fußmarsch vom Grandhotel entfernt. Vorbei an Hängebauchschweinen, Squirrels und Waschbären gelangt man zu der schlichten Hütte, die an ihren Wänden Faksimile-Dokumente von Mahlers letzter in die Zukunft weisender Schaffensphase enthält. Zwar heißt ein Satz von Malers 3. Sinfonie „Was mir die Tiere erzählen“, aber so direkt hat der Komponist es wohl nicht gemeint. Das Arbeitszimmer in der Sommerresidenz, heute eine Gastwirtschaft, in der wir sehr gute Käsepressknödel auf Sauerkraut gegessen haben, ist erhalten, aber nicht zu besichtigen.


Das Dorf Toblach um 1900

Dafür erklingt Mahlers Musik neben der anderer Komponisten während der Settimani musicali. Es ist ein eher kleines Festival, dessen Programm vornehmlich aus kammermusikalischen Darbietungen besteht, dazu gleich mehr. Daneben gibt es aber auch ein von Hubert Stuppner verantwortetes wissenschaftliches Beiprogramm, dessen Thema in diesem Jahr Der Antisemitismus in Wien zur Zeit Mahlers war. Während die Musikwochen mit Mahlers 1. Sinfonie eröffnet wurden, wartete das wissenschaftliche Programm zu Beginn prominent mit dem Philosophen Peter Sloterdijk auf, der von Manfred Osten zu dem Thema „Das jesuanische Christentum als radikaler Bruch mit dem Judentum“ befragt wurde. Sloterdijks These von Jesu antijüdischer Haltung (ausgearbeitet in seinem Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“) steht aber auf schwachen Füßen. Die ersten drei Evangelien zeigen eindeutig, dass Jesus auf dem Boden des Judentums seiner Zeit stand (im Markus-Evangelium Kap. 10 zitiert er sogar das Schemah Jisrael, das Glaubensbekenntnis Israels), von dem er sich zwar in einzelnen Punkten entfernte, etwa in der Kritik an der Verabsolutierung des Sabbat- und Speisegebote, das er aber andererseits in der Bergpredigt mit den Forderungen von Gewaltverzicht und Feindesliebe radikalisierte. Jesus hat sich keinen neuen Vater im Himmel erfunden, weil sein irdischer Vater Joseph so prekär war, wie Sloterdijk meint. Er hat vielmehr den Vateraspekt in der Gottesbeziehung intensiviert und das „Reich“ dieses Vaters in seinen Heilungen und Gleichnissen auf die Erde geholt. Jesus gehörte, wie Gerd Theissen es fasste, zwei Religionen an – dem Judentum und dem  neu entstehenden Christentum, das ihn als dann als Sohn Gottes und neuen Kultheros verehrte. Der Stifter dieses hellenistischen Christentums aber war Paulus, der sich von dem aus seiner Sicht gesetzlich verengten Judentum seiner Zeit radikal lossagte (und doch an seiner heilgeschichtlichen Rolle festhielt). Sloterdijk war immerhin so ehrlich darauf hinzuweisen, dass der von ihm und von Osten zitierte Satz „Ich und der Vater sind eins“ aus dem gnostisch inspirierten Johannesevangelium stammt, das 70 Jahre nach Jesu Tod entstanden ist und aus dem Munde Jesu, so ergänze ich, undenkbar gewesen wäre.

Dass Gustav Mahler sich 1897 in Hamburg katholisch taufen ließ, kritisierte Sloterdijk ironisch mit dem Hinweis, intellektuelle Juden hätten sich eher wie Heinrich Heine protestantisch taufen lassen. Er übersah dabei nur, dass ein evangelisch-lutherisch getaufter jüdischer Dirigent im erzkatholischen Wien wahrscheinlich keine Chance gehabt hätte, Hofoperndirektor zu werden, galten doch in Österreich die „Lutherschen“ auch als anrüchige Minderheit. Insofern hatte Mahler schon in Hamburg die richtige Taufentscheidung vollzogen, wollte er in Wien Karriere machen.

Hilfreicher und weiterführender war hingegen der Vortrag von Jens Malte Fischer „Die Gesinnung der Canaille. Die Genese des österreichischen Antisemitismus und Gustav Mahler“. Er zeigte, dass das Anwachsen des Antisemitismus in Wien vor allem mit der Binnenwanderung der Ostjuden im Habsburgerreich zu tun hatte. Neben dem christlich-sozialen Antisemitismus, wie er in Berlin von dem Hofprediger Stoecker und in Wien klerikal-kleinbürgerlich von dem späteren Bürgermeister Lueger vertreten wurde, gab es einen Antisemitismus, der sich vor allem an der Erscheinung der armen und strenggläubigen Ostjuden in der Wiener Leopoldstadt entzündete. Hier wurde auch der von der Kunstakademie abgelehnte mittellose Adolf Hitler zum Judengegner. (Selbst von Mahler ist eine Äußerung überliefert, nach der er sich an dem schmutzigen Wesen der polnischen Juden störte.) Mahler war nicht erst in Wien, sondern bereits in seiner Kasseler Zeit antisemitischen Attacken ausgesetzt (allerdings nicht in Hamburg, wie Fischer auf meine Nachfrage versicherte). Sein hektischer Dirigierstil, seine Uminstrumentierung Beethovens, seine Personalpolitik an der Oper (der Jude Mahler entlässt arische Sänger!), schließlich seine Sinfonien wurden als „mauscheln und jüdeln“ verschrien. (Eine kleine Ausstellung mit gehässigen antijüdischen Karikaturen u.a. aus dem „humoristisch-politischen Wiener Volksblatt“ Kikeri unterstrich in Toblach diesen Wiener Antisemitismus.) Fischer konnte zeigen, dass Mahler erstaunlicherweise auch noch im österreichischen Ständestaat der dreißiger Jahre viel gespielt wurde; zu seinem 25. Todestag 1936 gab es sogar einen Staatsakt, bis dann der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland dem ein Ende setzte. In diesem war Mahler zwar nicht offiziell verboten, wurde aber nicht gespielt, mit der Ausnahme des jüdischen Kulturbundes in Berlin, der 1941 u.a. noch eine Aufführung des Lieds von der Erde zustande brachte. Die Sopranistin der Aufführung, Hildegard Huth, wurde kurz darauf nach Litzmannstadt deportiert, wo sie ermordet wurde.

Die antisemitische Ausgrenzung Mahlers aus dem Musikgeschehen wurde nach dem Krieg in der Bundesrepublik in der Weise fortgesetzt, dass die Musikschriftsteller, die im Dritten Reich Mahler verdammt hatten, ihre Standardwerke unter Eliminierung der schlimmsten Antisemitismen wiederauflegten – so konnte man bei Baur und Schnoor in ihren in den 50- und 60er Jahren vielgelesenen Konzertführern die alten Argumente von der Eklektizität, Trivialität, Effekthascherei und Seichtheit der Sinfonien Mahlers finden. Eine Trouvaille war Fischers Mitteilung, dass Hitler 1906 eine von Gustav Mahler inszenierte und dirigierte Aufführung von Wagners Tristan und Isolde in der Wiener Hofoper erlebt hatte, die zu seinen prägendsten Musikerlebnissen gehörte. Den damaligen Ausstatter des Tristan, Professor Roller, empfahl Hitler 1934 gebieterisch Winifred Wagner als Bühnenbilder für den Parsifal.

Bekanntlich änderte sich die Ausgrenzung Mahlers deutlich erst ab 1960 (ich hörte meine erste Mahler-Sinfonie 1964, es war die 4. mit dem „himmlischen Leben“ und las im gleichen Jahr Adornos Mahler-Buch), doch Sybille Werner aus New York konnte zeigen, dass es eine interessante „Mahler-Rezeption vor Bernstein“ gab. Mahlers in Toblach komponierte 10. Sinfonie blieb bekanntlich unvollendet. Derek Cooke hat schon vor 40 Jahren eine Komplettierung vorgelegt, die unter Mahler-Kennern umstritten war. Jetzt hat der junge Komponist und Dirigent des „Internationalen Gustav Mahler-Orchesters Berlin“ Yoel Gamzou aus Berlin, eine neue Rekonstruktion der 10. Sinfonie unternommen, über deren Entstehung er berichtete und die er mit Musikbeispielen illustrierte. Es war eindrucksvoll zu erleben, wie dieser junge Komponist das Vermächtnis Mahlers als Ruf zu einer Musik der Zukunft angenommen und ihm eine hörbare Gestalt gegeben hat. Schließlich sei noch erwähnt, dass der italienische Musikwissenschaftler Enzo Restagno in einem Vortrag über das Jüdische in der Musik Schönbergs herausarbeitete, dass Schönberg sowohl in seiner Oper Moses und Aaron wie in der Kantate Ein Überlebender aus Warschau sich eindeutig zu seinem Judentum und seinem Monotheismus bekannte (während es bei Mahler sehr versteckt ist). Der einzige Gott wird angerufen, auch noch im Angesicht der Vernichtung. Schönberg setzt das in der Kantate musikalisch erschütternd um – gegen die Befehlsschreie der deutschen Soldaten ertönt das Schemah Jisrael, eben das Bekenntnis, das der Jude Jesus sprach, auch wenn er am Kreuz sich von diesem Gott verlassen glaubte.

Und was geschah musikalisch in Toblach? Istvan Vardai, Cello und Nelson Goerner am Klavier trugen neben Cellosonaten von Schostakowitsch und Cesar Franck eine Bearbeitung der Lieder eines fahrenden Gesellen vor, die durchaus etwas von Mahlers Klangfarbenkomposition verdeutlichte – das singende Cello ließ Leidenschaft, Schmerz und Trost der von Mahler in romantischer Haltung gedichteten Gesänge aufleuchten – auch ohne die Worte, die der Kenner der Lieder innerlich mit hörte, war das Gefühl dieser Lieder präsent, die Morgenwanderung übers Feld, „das glühend Messer in der Brust“, „die zwei Augen von meinem Schatz“, die herabschneienden Blüten des Lindenbaums mit ihrem Anklang an Schuberts Winterreise-Lied - „war alles wieder gut, ach alles wieder gut, alles, Lieb und Leid und Welt und Traum!“ Das Prometeo-Quartett aus Italien spielte Streichquartette von Zemlinsky und dem frühen Schönberg. Das Leipziger Streichquartett brachte mit der jungen und sehr schön verständlich singenden litauischen Sopranistin Viktorija Kaminskaite Mahlers Kindertotenlieder in einer Bearbeitung von Ivo Bauer zu Gehör. Auch ohne großes Orchester war die Tragik des Verlusts und der mehrfache Ansatz einer tröstlichen Deutung sofort zu spüren – das letzte „ sie ruh’n als wie in der Mutter Haus, von keinem Sturm erschrecket, von Gottes Hand bedecket“ kam so still begütigend herüber, dass ihm Wahrheit über alle Maßen zuwuchs und die innerliche Anteilnahme der Zuhörenden geradezu körperlich spürbar war.

Das Leipziger Quartett hatte mit Wagners Siegfried-Idyll, der Gabe Wagners für Cosima zur Geburt des gemeinsamen Sohnes Siegfried, begonnen. Es sollte nach den Kindertotenliedern mit Beethovens Quartett op.132, dem Heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit enden – eine klug zusammengestellte existentielle Trias. Doch dann spielten die Leipziger stattdessen das cis moll-Quartett op.131. Mit dessen traumhaften Adagio und seinen sieben Variationen, die durch alle Höhen und Tiefen des Lebens führten, indem sie verschiedenste musikalische Formen ausprobierten, wurde diese existentielle Zuspitzung auch erreicht. Anspruchsvoll war das Programm, dass der israelische Pianist Matan Porat spielte – von Janacek über Debussys Suite Bergamasque, Bartoks Bagatellen bis zu Schuberts großer A-Dur-Sonate und einer verhaltenen Klavierfassung von Mahlers Adagietto aus der 5. Sinfonie (bekannt eher aus dem Film Tod in Venedig).

Das letzte Musikstück, das ich in Toblach hörte, war nach zwei Mozartschen Konzertarien eine Zugabe – Rezitativ und Arie der Susanna aus Mozarts Figaros Hochzeit: „Es kommt endlich die Stunde“, das in der schönsten Beschreibung einer den Liebenden geneigten Sommernacht kulminiert, vorgetragen von Johanna Winkel und der Streicherakademie Bozen. Sie endet mit „dass ich mit Rosen kränze dein Haupt.“ Ich liebe diese Arie mit ihrem delikaten Bläser-Satz, sie besang ein Glück in Erwartung, das zu den schönsten Zeugnissen Mozartscher Humanität gehört, das Doppelglück der Liebe und der Töne in versöhnter Natur beschwörend.


„Komponierhäuschen Toblach“ von Renate007 - Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

Leider mussten wir nach fünf Tagen abreisen und unser schönes Ferienritual beenden, das so aussah: Morgens ins Gebirge fahren, dort drei bis vier Stunden wandern, dann irgendwo jausen, wieder ins Tal, duschen, ausruhen, zum wissenschaftlichen Vortrag, danach ins Konzert und abends ins Restaurant zum Nachtmahl. Sie war so angenehm und bereichernd, diese schöne Mischung von Natur- und Kunsterfahrung, von Freizeit, Theorie und Musik, dass der Abschied melancholisch ausfiel. Doch nicht so endgültig und traurig wie der Schluss des Lieds von der Erde, wo der Sänger die Erde fast wie ein Kosmonaut aus den Weiten des Alls sieht – „die liebe Erde allüberall blüht auf im Lenz und grünt aufs neu! Allüberall und ewig blauen die Fernen! Ewig ... Ewig ...“ Lang ist die Kunst, kurz unser Leben – mit diesem Gefühl und dem Dank an den wunderbaren Komponisten Mahler und seine Interpreten stiegen wir in den Zug, der uns nach Franzensfeste, von dort über Innsbruck nach München und schließlich nach Hamburg brachte.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/97/hjb40.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2015