Think Again

Gedanken zu Restaurierung, Wahrnehmung und Zerstörung

Karin Wendt

Vergangene Gegenwart

Etwas zu restaurieren, heißt, einen Zustand (wieder-)herzustellen, den man aus Sicht der eigenen Gegenwart für den idealen hält. Das muss nach heutigem Verständnis nicht ein bestimmter, in der Vergangenheit existenter Status sein, sondern ein dem Gegenstand und seiner Geschichte, also auch seinem Gewordensein angemessener. So beschreibt der Begriff Restaurierung laut Definition des internationalen Museumsverbands ICOM „alle Handlungen, die die Wahrnehmung, Wertschätzung und das Verständnis für das Objekt fördern. Diese Maßnahmen werden nur dann ausgeführt, wenn ein Objekt durch vergangene Veränderungen oder Zerstörung Teile seiner Bedeutung oder Funktion verloren hat. Es gelten dabei die Grundsätze des Respekts für das Original und seine Geschichte sowie der Reversibilität.“ (Wikipedia) Dabei gibt es unterschiedliche Prioritäten, je nach Art des Objekts sowie dem Grat der Zerstörung, je nachdem, wo man das Objekt vorfindet und abhängig davon, aus welcher (fachlichen) Perspektive man sich ihm nähert. Restaurationen und ihre Ergebnisse werden heute nicht nur im Internet dokumentiert, sondern auch durch das Internet begleitet. Wie werden hierbei die Kriterien, die für eine Restaurierung angelegt werden, übersetzt und gedeutet? Gibt es unterschiedliche Konzepte der Sichtbarmachung?Ich möchte nachfolgend vier online Projekten noch einmal nachgehen, die im Zusammenhang mit Restaurierungen stehen. Welche Perspektiven eröffnen sie? Wie wird das Thema „Restaurierung“ jeweils von ihnen angegangen und erschlossen?

Die Fülle der Details

Das Projekt „Closer to van Eyck“, das auch den Anstoß für den Titel dieser Ausgabe des Magazins gab, ist groß angelegt und das Ergebnis beeindruckend: Über einen Zeitraum von mehreren Jahren arbeiteten Forscher interdisziplinär an der Restaurierung des Ghenter Altars der Brüder Hubertus und Jan van Eyck. Dass das Mammutprojekt finanziell überhaupt gestemmt werden konnte, verdankt sich der Entscheidung, die Ergebnisse im Internet zur Verfügung zu stellen. Die Präsentation der neuesten Bildtechniken vermochte allen voran das Getty als Sponsor zu interessieren und zu engagieren. Im Mittelpunkt der Projektvermittlung stehen also weniger die ausführlichen wissenschaftlichen Reports als vielmehr die Möglichkeit, spektakulär hochauflösende Details der Bildtafeln abrufen und studieren zu können.

Wie wird bei dieser Präsentation nun die Wahrnehmung, Wertschätzung und das Verständnis für das Werk gefördert? Wahrnehmung des Kunstwerks bedeutet hier die mikroskopisch genaue Beobachtung vieler Details, die bisher dem normalen Besucher des Altars vor Ort kaum möglich waren. So kann man Dinge entdecken, die den erzählerischen Reichtum des Bildes sichtbar machen. Der Blick kann aber nicht nur die komplette Horizontale abwandern, sondern auch in die Tiefe gehen. Neuesten Aufnahmeverfahren entgeht auch dort kein Detail. Der technische Aufwand zeugt von der hohen Wertschätzung des Werks als historisch bedeutende künstlerische Leistung. Wir verstehen, dass der Altar eine Wertschöpfung ist, die die Investition in Zeit, Knowhow und Budget lohnt. Zeichen für den Respekt gegenüber dem Objekt und seiner Geschichte ist die fast medizinische Vorsicht, mit der sich ganze Forscherteams darum gekümmert haben. Das Kriterium der Reversibilität wird dagegen nicht explizit; das technische Niveau der restauratorischen Handlungen suggeriert eher, dass Fehler in der Interpretation oder gar in der Ausführung der restauratorischen Handlungen hier ausgeschlossen sind.

Gegenstand des Projekts „Closer to van Eyck“ ist die Sichtbarmachung des gesamten Bild-Materials. So wird dem Betrachter ein Studium erleichtert und die Erweiterung des eigenen Kenntnisstandes ermöglicht. Es geht dabei in erster Linie um eine additive Wahrnehmung des Kunstwerks, dessen kulturgeschichtliche Bedeutung, mithin seine Lesbarkeit, vorausgesetzt wird. Die Berichte informieren zwar auch über die kunsthistorische Bedeutung und Funktion des Werks, sind aber vor allem für einen Einblick in die avancierte Technik interessant, für eine inhaltliche Erschließung dagegen nur bedingt hilfreich. In der Darstellung bleiben die Internetseiten weitgehend einem Fachpublikum verpflichtet.

Delete

Dass es 2001 aus Rom erstmals die online-Übertragung einer Restaurierung gab, scheint im Gedächtnis des Internets nahezu gelöscht. Über einen Zeitraum von zwei Jahren konnte man damals Restaurierungsarbeiten an der Moses-Statue von Michelangelo in der Kirche S. Pietro in Vincoli live verfolgen. Drei Webcams waren auf unterschiedliche Teilbereiche gerichtet: nahe an den Skulpturen, etwas weiter entfernt, so dass man das gesamte Ensemble sah, und auf Höhe der Figur des Papstes Julius II. Man konnte dann wie ein Regisseur Kameraeinstellungen wie Schärfe, Helligkeit oder Zoom auswählen und über eine Link-Funktion sogar eigene Aufnahmen machen, die im Netz archiviert wurden. Es gab einen virtuellen Rundgang durch die Kirche und ein ausführliches Archiv mit Hintergrundinformationen zu den problematischen Restaurierungsmethoden im 18. Jahrhundert und den Herausforderungen für die gegenwärtige Arbeit. Der Kontext war extrem weit gefasst und schloss mit einer weiteren Webcam im Pariser Louvre die sogenannten „Gefangenen“ mit ein, zwei Skulpturen, die ursprünglich Teil der Anlage waren, bevor sie Michelangelo wieder herausnahm.

All das ist nicht mehr verfügbar. Das angekündigte Forum ist offenbar nie eröffnet worden. Ob die Mittel der Lottogesellschaft dafür nicht mehr reichten oder ob es andere Gründe hat, weiß ich nicht. Vielleicht gibt es auch einen Zusammenhang mit einem anderen Projekt gleichen Namens: Das Progetto Mosè zur Rettung Venedigs, das seit über zwanzig Jahren nicht vorankommt, in der Sache umstritten ist und von Korruptionsvorwürfen begleitet wird.

Natürlich wäre es unsinnig, weiter Webcams vor der Skulpturengruppe zu installieren. Aber die kontextuelle Erschließung, die thematische Vertiefung über Aufsätze und Bibliographien zur Rezeptionsgeschichte durch Kunst, Philosophie und Theologie, die erarbeitet wurde und auch nachfolgende kulturelle Reflexe auf diese neue Form der Vermittlung – all das wäre im Internet ideal platziert. Man findet jedoch nur spärliche Hinweise, etwa auf ein Konzert von Michel Nymann aus Anlass der Restaurierung und auf die Fotografien von Helmut Newton. Es ist unverständlich und schade, dass nichts davon verfügbar gemacht wird.

Vor allem aber ist es schade, dass so eine nachfolgende Auseinandersetzung mit dieser neuen Form der medialen Vermittlung ausgebremst wurde. Es ginge dabei um die Bedeutung der Verbindung von Kunst und öffentlichem Raum als Ort der Erfahrung und Erinnerung. Die Wiederöffnung dieser Plattform und des Archivs wäre eine Möglichkeit, über Kunstwerke im öffentlichen Raum in ihrer Funktion für unser kulturelles Gedächtnis weiter nachzudenken. Es könnte gehen um eine erneute Wertschätzung des besonderen Skulpturenschatzes der italienischen Renaissance. Es würde erhellen, dass Kunst so wahrgenommen wird, wie wir sie wahrnehmen, dass das Medium also unser Sehen und damit auch unser Reflektieren und Verstehen beeinflusst. Welches Potenzial in der Idee der medialen Inszenierung einer Restaurierung lag, reflektiert eine Szene in dem Film „Lo sguardo di Michelangelo“ von Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 2004. Antonioni, der seit seinem Unfall an den Rollstuhl gebunden ist, geht darin – mittels digitaler Montage – zu Fuß in die Kirche S. Pietro in Vincoli, hin zur Skulptur des Moses, um sie anzuschauen und ihre restaurierten Teile zu berühren. Jonathan Rosenbaum schreibt dazu: „Conceptually it might be described as one restoration interacting with another restoration – a spectacle that, like all of Antonionis's greatest films, pointedly raises more questions than it dares to answer, and preserves more mysterious that it can dream of resolving.“[1]

Argumente pro und contra

„Palermo Restore“ ist eine Internetseite, die ein europäisches Projekt dauerhaft dokumentiert, das sich am Beispiel einer Installation des Künstlers Blinky Palermo mit dem Problem der Restauration temporärer künstlerischer Interventionen auseinandersetzte. Mehrere Kunstinstitutionen, das Visual Arts Research Institute Edinburgh, die Demarco European Art Foundation sowie das Kunstmuseum und das Kunsthistorische Institut der Universität Bonn, hatten sich 2005 zur Konferenz „Vier Farben genügen: Palermo, Kunst und Architektur“ zusammengefunden, um Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Wiederherstellung eines solchen Werks zu diskutieren. Es ging um eine Arbeit, die Palermo 1970 zur Ausstellung "Strategy: Get Arts“ in der Kunstakademie in Edinburgh beisteuerte: Rund um den Architrav im klassizistischen Treppenhaus des Hauptgebäudes hatte er ein horizontales Farbband gemalt. In der Höhe des Balkens verlief es an der nördlichen Wand in Blau, an der östlichen in Gelb, an der südlichen in Weiß und an der westlichen in Rot. Es war eine seiner vielen Interventionen in Treppenhäusern, bei denen er die Architektur durch Farben und Formen oder isolierte Maßeinheiten isolierte, um sie an andere Stellen im Raum sichtbar zu verschieben. Diese Malereien wurden später übermalt und haben auch chemisch kaum Spuren hinterlassen, da der Künstler mit wasserlöslichen Farben arbeitete.

Zur Ausgangsfrage der Forscher hielt ich damals fest: „Die Entwicklung der 90er Jahre hin zu einer immer stärkeren Reflexion der kontextuellen Möglichkeiten von Kunst rückt heute diese Anfänge des Ringens um sichtbare und unsichtbare Bedeutung als Pionierleistung in den Blick. An diesem Punkt wird nun paradoxerweise gerade die Tatsache, dass die konkrete Arbeit nicht mehr sichtbar ist, zu einem Problem. Ist es sinnvoll, sie zurückzugewinnen und sie, möglicherweise auch gegen die ursprüngliche Absicht, dauerhaft zu installieren?“

Man entschied sich 2005 in Edinburgh für eine Restaurierung der Wandmalerei „Blue / Yellow / White / Red“. Vor allem entschied man sich aber für die parallele Reflexion dieser Rekonstruktion. Für die Wiederherstellung sprach damals meines Erachtens vor allem die konzeptuelle Reichweite, also die historische Bedeutung seiner Idee: „Palermos Wandmalerei hat insofern konzeptuellen Charakter, als sie die Tradition [der Wandmalerei] als solche erneut ins Bewusstsein ruft: früheste Zeugnisse von vorgeschichtlichen Höhlenmalereien, bedeutende Reste der ägyptischen, der kretisch-mykenischen und der römischen Wandmalerei, die Malereien der christlichen Katakomben, die Blüte der strengen Wandmalerei in romanischer Zeit und die ersten Entwürfe einer autonomen Malerei auf den berühmten Fresken von Cimabue und Giotto. Das Medium Wandmalerei nutzten auch Künstler des 19. Jahrhunderts wie Delacroix und Hans von Marées, und Vertreter der Moderne wie Ferdinand Hodler, Oskar Schlemmer oder Henri Matisse. Immer liegt darin nicht nur die Idee einer Infragestellung des bürgerlichen Kunstwerks, sondern auch der Versuch, die Genese der Malerei und ihr vielfältiges technisches Handwerk zu reaktivieren. Nicht zuletzt die Entscheidung zwischen einer flächenbewahrenden oder einer nach dreidimensionaler Illusion strebenden Wandmalerei gilt es zu treffen. Palermos Arbeit lässt sich so vielleicht auch als Zitat dieser kulturellen Scheidewege lesen.“ Heute noch mehr als damals denke ich jedoch, dass die temporäre Anlage vielleicht doch weit mehr Teil des Kunstwerks ist und ihre strategische Funktion im Rahmen der von Richard Demarco kuratierten Ausstellung eigentlich gegen eine Rekonstruktion sprach. Künstlerische Interventionen entfalten ihre eigentliche bildnerische Kraft meist erst, nachdem sie wieder verschwunden sind. Das ist eine Erfahrung, die ich selbst besonders intensiv bei der Ausstellung „Der freie Blick“[2] in der Martinskirche in Kassel gemacht habe, nachdem drei künstlerische Interventionen, das Projekt „Red Loom“ von Thom Barth, die „Lightline“ von Nicola Stäglich und die Videoinstallation „The Oral Thing“ von Bjørn Melhus wieder aus der Kirche verschwunden waren. Kunstwerke der Moderne sind vielleicht zuletzt immer Medienkunstwerke, weil sie die Erfahrung zum Gegenstand haben.

Auch bei der Realisierung von „Palermo Restore“ spielten die technischen Möglichkeiten eine große Rolle. Es wurde dabei deutlich, dass die Rekonstruktion von Verlorenem bereits mit der technischen Untersuchung beginnt, da mit ihr die Basisdaten zusammengetragen werden: der ursprüngliche Ort eines Werks sowie die Art und Verwendung des ursprünglichen Materials. Die Internetseite zu „Palermo Restore“ erlaubt es heute aber außerdem, weiter über die Problematik der Restauration an sich nachzudenken, sie an einem besonders sensiblen Beispiel zu überdenken, nämlich an einem temporären Kunstwerk. Es geht dabei um die Frage nach dem Sinn bzw. den Grenzen der Restaurierung. Kunst wird wahrnehmbar als ein prinzipiell offenes Werk. Zugleich wird deutlich, dass der Wert einer einzelnen Arbeit auch darin liegen kann, das künstlerische Gesamtwerk besser zu verstehen und sie von daher beispielhaft wieder sichtbar gemacht werden sollte. Verständnis wird erzielt für das besondere Konzept der künstlerischen Intervention, für seine Bedeutung innerhalb der Kunstgeschichte nach 1945 und seine Einflussnahme auf spätere Entwicklungen. Im Fall dieser Rekonstruktion kommt Respekt gegenüber dem Kunstwerk besonders zum Ausdruck durch die klare Benennung des Konflikts zwischen künstlerischer Intention, ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Bildung. „Palermo Restore“ thematisiert die Frage nach der Sichtbarkeit (in) der Kunst und ermöglicht damit eine vergleichende Wahrnehmung zur Analyse des restauratorischen Kernproblems.

Ästhetisch gesehen

Als ich vor einigen Jahren die Internetarbeit „About: Der hl. Lukas malt die Jungfrau Maria“ vorstellte, fand ich die digitale Ästhetik und Rhetorik der Arbeit faszinierend. Die Arbeit besteht aus drei Schritten: Ein Gemälde wurde zur Ablage in einer Datenbank reproduziert und komprimiert; die datenreduzierte Abbildung des Gemäldes wird der Datenbank entnommen und auf ihre Ausgangsgröße reskaliert; die reskalierte Abbildung des Gemäldes kann dann mit Hilfe eines Viewers am Rechner ausschnittweise in Originalgröße betrachtet und ausgedruckt werden. Der Künstler erläutert seine Arbeit so: "Within the context of digital visual media my work critically reflects the status of the traditional media of painting. I focus in particular on the relation between digital representations and the classical panel." Bei meinem ersten Besuch habe ich darin vor allem eine zeitgenössische Reflexion der technischen, ikonografischen und ästhetischen Innovationen der altniederländischen Malerei gesehen: Eine Einladung, ihren erzählerischen Reichtum zu entdecken, die Beherrschung der Perspektive und der Ölmalerei, die weite Farbenskala zu bewundern, die vielen bildnerischen Einzelheiten zu studieren, die Analogie zwischen Beten und Schauen als Vergegenwärtigung der Kunst zu verstehen. Es war für mich zudem ein Kommentar zum ästhetischen Konzept vom Raum als Anschauungsraum, den die Niederländer entwickelten: „Seine Arbeit macht die Verselbstständigung der Anschauung sichtbar, indem sie uns mit der Bewegung der Maus die Vielfalt der Teilanschauungen vor Augen führt. So ist es auch ein Versuch zur Re-Visualisierung ästhetischer Neuerungen aus der Perspektive ihres möglichen Verschwindens.“

Jetzt sehe ich den Fokus der Arbeit stärker auf die Möglichkeiten der technischen Untersuchung gerichtet, die ja nicht zuletzt für einen angemessenen konservatorischen und restauratorischen Umgang entwickelt wurden, also als Errungenschaften verstanden werden. Ich erkenne darin auch einen formalen Reflex auf die neuen Formen der Wissensbildung im Internet, die Clouds, die ein Bild, sobald es im Netz auftaucht, sofort kommentieren, rahmen, erläutern, einordnen, aber auch kopieren, verfälschen, missbrauchen. Ich schätze seinen künstlerischen Kommentar daher als weitaus kritischeren ein. Fragt Kleine-Vehn nicht auch: Wie nahe kommt man bei Unternehmen wie “Closer to van Eyck” dem Gemälde wirklich? Wie nähert man sich ihm? Wie sieht unser Umgang mit Kunst in Zeiten ihrer digitalen Reproduzierbarkeit aus?

Es ist in jedem Fall ein ironischer Kommentar zu unserem Glauben, ein Kunstwerk besser zu verstehen, wenn wir nur nahe genug herankommen, wenn wir es auszudrucken können, um uns zu vergewissern, dass es existiert. Man denke nur an die Prints berühmter Kunstwerke auf Leinwand, die inzwischen Teil vieler Museumsshops und Galerien sind; und es ist eine Frage der Zeit, bis die 3D Drucker noch mehr ermöglichen. Was sind das aber für Formen der Aneignung? Suchen wir den Ersatz oder das Eigene? So denken wir nochmal anders über sogenannte epochale Meisterwerke nach. Was hat sie dazu gemacht, und was machen wir heute daraus? Es ist also auf den zweiten Blick eher eine kritische Auseinandersetzung mit der Nivellierung unserer Wahrnehmung. Die Analyse von Wolfgang Kemp, dass „die Figuren im Raumtyp des 15. Jahrhunderts „weniger mit der Handlung als vielmehr mit dem Schauen beschäftigt sind“[3], erhält durch Kleine-Vehns Arbeit nochmal eine andere Drift: Von der Anschauungs-Kunst der Niederländer zu lernen, hieße zu erkennen, dass es heute mehr denn je darum geht, nicht die Sicht, sondern unser Sehen zu schärfen.

Das Ende der Vergangenheit

Wenn es nicht nur den mehr oder minder natürlichen Verfall im Laufe der Zeit gibt, sondern wenn die zerstörerische Kraft von Krieg und Terror wütet, ist eine Restaurierung und selbst die Rekonstruktion oft kaum mehr möglich. Die Trauma- und Erinnerungsarbeit beginnt dann erst, wenn tiefer greifende Umschichtungen noch weiter Zurückliegendes nach oben katapultieren.

Was es heißt, wenn das Gesicht einer Kultur in situ nach und nach zur Unkenntlichkeit zerstört wird, erfährt man gegenwärtig im Nahen Osten auf dramatische Weise. Das Ideal der Forderung nach Unberührtheit in der modernen Archäologie erscheint da wie Hohn. Auch wenn aus dem Museum von Mossul zunächst noch berichtet wurde, dass dort nicht Originale sondern Gipsrepliken zerstört wurden[4], überwiegen spätestens heute die Zweifel, ob dies nicht nur eine Schutzbehauptung war, in der Hoffnung, den Propaganda-Apparat des IS zu irritieren. Sofort klar war aber natürlich auch, dass selbst die Repliken große archäologische Bedeutung haben, vor allem dann, wenn es seit langem gar keine Originale mehr gibt. Die gesamte Antike Welt ist ja überhaupt nur zu erschließen, wenn man die Nachbildungen der letzten Jahrhunderte mit einbezieht. Hinzu kommt, dass nicht nur zerstört, sondern auch geplündert und ins Ausland verkauft wurde und wird. Dass sich die Gewalt noch einmal steigern konnte und offenbar weiter steigert, spiegeln auch Internetpräsenzen wie die Plattform „Baghdad Museum Project“ des irakischen Nationalmuseums. Projekte, die dort vorgestellt wurden, etwa die Ausstellung 'One year before the Iraq Museum' oder 'The Secret of Nimrud ', sind zwar nach wie vor abrufbar, man erreicht sie jedoch nur noch über ihre direkten Links. Die letzte Bearbeitung erfolgte, wenn ich richtig sehe, 2003. Als ich mir jetzt auch noch einmal die künstlerische Arbeit „Iraqi Home“ von Wafaa Bilal anschaue, ist es, als sei sie in ihrer Bedeutung ästhetisch noch einmal stärker geworden. Über die offizielle Startseite www.baghdadmuseum.org kommt man derzeit man nur einen Klick weit. Auf schwarzem Hintergrund steht dort mittig unter der Jahreszahl 2015 ein einziger Satz: „ISIS destroys what is left of ancient history“; hinter dem Link dann eine archäologische Karte vom Irak aus dem Jahr 1967. Das ist mehr als ein Zeichen für kulturellen Rückzug. Es scheint ein Aufgeben der Kultur.

Anmerkungen

[1]    Jonathan Rosenbaum: The Gaze of Antonioni, In: rouge 2004

[2]    Der freie Blick. Künstlerische Interventionen in den religiösen Raum. Thom Barth, Bjørn Melhus, Nicola Stäglich, hrsg. v. Andreas Mertin / Karin Wendt, Kassel 2002

[3]    Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996

[4]    Birgit Svensson: Nur Nachbildungen von Kulturgütern zerstört? In: Deutsche Welle, 11.03.2015

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/97/kw70.htm
© Karin Wendt, 2015