Vor unseren Augen

II - Erinnerungen

Andreas Mertin

Treffen der Generationen

"Zeit ist das Feuer in dem wir verbrennen" zitiert der Bösewicht Tolian Soran im 7. Star Trek Kinofilm „Treffen der Generationen“ den US-ame­ri­kanischen jüdischen Dichter Delmore Schwartz und er begründet so seinen Wunsch, auf Dauer im Nexus aufzugehen. Präziser heißt es in dem von ihm zitierten Gedicht von Schwartz in der letzten Strophe:

Each minute bursts in the burning room,
The great globe reels in the solar fire,
Spinning the trivial and unique away.
(How all things flash! How all things flare!)
What am I now that I was then?
May memory restore again and again
The smallest color of the smallest day:
Time is the school in which we learn,
Time is the fire in which we burn.

Sehr viel später im Film antwortet Captain Picard mit seiner Lesart von Geschichte:

"Mir hat mal wer gesagt, die Zeit ist das Feuer in dem wir verbrennen. Ich möchte viel lieber glauben, dass die Zeit unser Gefährte ist, der uns auf unserer Reise begleitet und uns daran erinnert, jeden Moment zu genießen. Denn er wird nicht wiederkommen. Was wir hinterlassen ist nicht so wichtig, wie die Art, wie wir gelebt haben."

In dieser Frage stehe ich freilich entschieden auf der Seite von Soran und Delmore Schwartz. Kultur heißt auch, Sorge zu tragen, was wir kommenden Generationen weitergeben wollen, nachzudenken was es wert ist, dass es das Feuer der Zeit übersteht, was in den Nexus der Kultur(geschichte) einfließt. Auch davon will ich im Folgenden schreiben.


Einstieg

Was zeigt mir die (zeitgenössische) Kunst vor meinen Augen? Und wie entwickelt sich dieser Blick auf die Kunst? Niemand begegnet unbefangen der Kunst seiner Zeit, so als ob man vorher noch nie einem Kunstwerk begegnet wäre. Man ist vielmehr immer schon geprägt vom Umgang mit der Welt der Kultur und der Kunst im Elternhaus, davon, dass man in Ausstellungen oder Museen mitgenommen oder von Erwachsenen auf Kunstwerke angesprochen wurde.

Theodor W. Adorno hat das in seinen Minima Moralia einmal bündig so zusammengefasst:

„Der von den Ästhetikern verbreitete Glaube, das Kunstwerk wäre, als Gegenstand unmittelbarer Anschauung, rein aus sich heraus zu verstehen, ist nicht stichhaltig. Er hat seine Grenze keineswegs bloß an den kulturellen Voraussetzungen eines Gebildes, seiner ‚Sprache‘, der nur der Eingeweihte folgen kann. Sondern selbst wo keine Schwierigkeiten solcher Art im Wege sind, verlangt das Kunstwerk mehr, als daß man ihm sich überläßt. Wer die Fledermaus schön finden will, der muß wissen, daß es die Fledermaus ist: ihm muß die Mutter erklärt haben, daß es nicht um das geflügelte Tier, sondern um ein Maskenkostüm sich handelt; er muß daran sich erinnern, daß ihm gesagt ward: morgen darfst du in die Fledermaus. In der Tradition stehen hieß: das Kunstwerk als ein bestätigtes, geltendes erfahren; in ihm teilhaben an den Reaktionen all derer, die zuvor es sahen.“

Darum geht es in der Begegnung mit der Welt der Kultur. Es ist nichts Objektives, nichts kulturgeschichtlich definitiv Zertifiziertes, sondern etwas, was am Fluss der Zeit teilhat und sich deshalb auch immer wieder verändert. In der Schule bekommt man dann viel später einen Rahmen dafür vermittelt, nicht nur im Kunstunterricht, sondern auch in anderen geisteswissenschaftlichen Fächern, in denen Kunstwerke als Zeitindex und Abbildung historischer Ereignisse genutzt werden. Wie Adorno schreibt: „In der Tradition stehen hieß: das Kunstwerk als ein bestätigtes, geltendes erfahren; in ihm teilhaben an den Reaktionen all derer, die zuvor es sahen.“

Das alles geschieht, bevor man selbst die Kunstfrage stellt, bevor man zum ersten Mal alleine, sozusagen erwachsen eine Ausstellung oder eine Galerie betritt. Vermutlich würde man nie eine Ausstellung besuchen, wenn es nicht ein selbstverständlicher und selbstverständlich tradierter Teil des kulturellen Lebens (nicht nur in der Großstadt) wäre. Wobei die Metropolen einem einen ganz anderen, wesentlich vielfältigeren Umgang mit der Kultur ermöglichen.

Als ich zu Beginn der 80er-Jahre in Berlin studierte, war das schier unendliche Kulturangebot eine Herausforderung, die erst einmal bewältigt werden wollte. Man konnte tagelang von Museum zu Museum laufen, konnte Galerien ganz unterschiedlicher Schwerpunktsetzung besuchen. Eindrücklich war für mich 1980 eine Ausstellung in der Nationalgalerie, nahezu vollständig gefüllt mit schwarzen Übermalungen von Arnulf Rainer, die mich fast zur Verzweiflung brachten und mir den Sinn der Kunst (noch) nicht erschlossen.

Verständlicher war der Besuch der Galerie Nierendorf, in der man Werken des Expressionismus und der klassischen Moderne begegnete und wo Florian Karsch auch junge Studenten zu überzeugen suchte, mit dem Sammeln von Kunst zu beginnen, und seien es zunächst nur Grafiken. Einem Gespräch mit ihm verdanke ich meine ersten Grafiken, Bilder von Otto Dix. Ich erinnere mich, dass mein Bruder dort auch eine Grafik von Paul Klee aus dem Jahr 1920 erstand, die Riesenblattlaus aus dem Buch „Deutsche Graphiker der Gegenwart“.

Das war alles noch kein intensives Zwiegespräch mit der Kunst, eher eine Art bürgerliche Annäherung. Der Lernprozess, was es bedeutet, Kunst zu begegnen, Kunst wirklich vor Augen zu haben, begann erst einige Zeit später.


Lernen

Er verband sich mit einem Wechsel des Studienortes nach Marburg, sicher auf den ersten Blick kein naheliegender Ort für die Begegnung mit zeitgenössischer Kunst. Aber die Seminare am Marburger Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart brachten dann schnell eine andere Herangehensweise an die Kunst und gerade auch an die zeitgenössische Kunst. Meine bis heute fortdauernde Neigung, im Zuge der Wahrnehmung schnell die Deutung einzubauen, wurde in den Seminaren und auf Exkursionen korrigiert. Der von der Phänomenologie geprägte Horst Schwebel forderte, das vor Augen liegende zu beschreiben, es für wahr zu nehmen, Wahrnehmung und Deutung zu differenzieren, die Vielfalt der möglichen Deutungen zuzulassen, m.a.W. Kunst als Kunst wahrzunehmen (s. dazu H. Schwebel, Wahrheit der Kunst - Wahrheit des Evangeliums. Einer Anregung Eberhard Jüngels folgend und widersprechend, https://www.theomag.de/56/hs9b.htm).

Horst Schwebel machte mich dann mit Paul Gräb in Wehr-Öflingen bekannt, dem protestantischen Nestor der Begegnung von Kunst und Kirche in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Begegnung mit ihm war sicher eine der prägendsten Begegnungen meines Lebens. Seine unbedingte Offenheit für die Bewegungen der Kunst, seine Konsequenz, auf jede theologische Rahmensetzung zu verzichten, weil ihm der Erkenntnisgewinn der Kunst wichtiger war als jeder Reduktionismus auf eventuelle religiöse Gehalte der Kunst, haben meine spätere Arbeit entscheidend geprägt (Vgl. Paul Gräb, Kunst und Kirche. Getrennte Wege – Gemeinsame Wege, https://www.theomag.de/09/pg1.htm in diesem Magazin).

Parallel dazu wurden im Marburger Institut – auch mit Hilfe von Paul Gräb - die großen Ausstellungen vorbereitet: 1985 die Ausstellung „Die andere Eva“, 1987 die documenta-Begleit­aus­stellung „Ecce homo“ und 1992 die documenta-Begleit­aus­stellung „Liebe und Eros“.

Mitte der 80er Jahre war aber auch die Zeit, in der sich die ästhetische Kehre in der Praktischen Theologie abzeichnete. Albrecht Grözinger publizierte 1987 seine Habilitation „Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der praktischen Theologie“, Henning Luther – der seit 1986 an der Marburger Fakultät lehrte – zeigte, wie sich Ästhetik, Theologie, Lebenspraxis und der Sinn für das Fragmentarische miteinander verbinden lassen. Mit der ästhetischen Kehre veränderte sich aber paradoxerweise die zu bearbeitende Fragestellung. Nicht mehr die In-Beziehung-Setzung von Kunst und Kirche stand nun im Vordergrund, sondern die ästhetischen Grundlagen der Theologie, der pastoraltheologischen Arbeit und grundsätzlich der Gesellschaft überhaupt. Denn nicht nur in der Theologie, sondern in der gesamten Gesellschaft wurde Mitte und Ende der 80er-Jahre über Ästhetik diskutiert und reflektiert.

Im Bereich der Theologie gründete sich Anfang 1990 der Arbeitskreis „Theologie und Ästhetik“, der acht Jahre lang Fragen des Ästhetischen kontrovers diskutierte. Möglich wurde das, weil mit Eveline Valtink und Dietrich Neuhaus zwei Studienleiter der Akademien Hofgeismar und Arnoldshain bereit waren, Gäste zu theo-ästhetisch interessanten Fragen einzuladen und so eine kontinuierliche Arbeit zu ermöglichen. Fast jeder, der bis heute in diesem Themenspektrum arbeitet, hat einmal an einer dieser Tagungen teilgenommen. Als sich dann abzeichnete, dass dieses Modell eines von den Akademien getragenen Arbeitskreises zu Theologie und Ästhetik nicht dauerhaft erhalten werden könnte, wurde mit etwas Verzögerung Ende 1998, tà katoptrizómena, die Zeitschrift für Theologie und Ästhetik (mit den Studienleitern Eveline Valtink und Dietrich Neuhaus als Mitherausgebern) gegründet, die bis heute an dem Projekt einer differenzierten Verhältnisbestimmung von Theologie und Ästhetik weiterarbeitet. [Nicht zufällig trägt die Zeitschrift denselben Titel wie der Dokumentationsband der Akademietagungen: Neuhaus, Dietrich; Mertin, Andreas (Hg.) (1999): Wie in einem Spiegel. Begegnungen von Kunst, Religion, Theologie und Ästhetik: Haag + Herchen GmbH.]

Aber auch die Arbeit im Bereich von Kunst und Kirche wurde in dieser Zeit fortgeführt. Neben die Ausstellungsarbeit traten Reflexionen darüber, was die konkrete Arbeit mit Bildender Kunst im Handlungsbereich der Kirchen konkret bedeuten könnte (Schwebel, Horst; Mertin, Andreas (Hg.) (1989): Bilder und ihre Macht. Zum Verhältnis von Kunst und christlicher Religion. Stuttgart: Verl. Kath. Bibelwerk).


Eine Position gewinnen

Wenn eine nachgeborene Generation die Pflicht hat bzw. vor der Herausforderung steht, über die vorhergehende Generation hinauszugehen, das Feld zu erweitern, auf dem Erkundungen und Begegnungen möglich sind, dann kann man nicht dort bleiben, wo die akademischen Lehrer einen entlassen haben. Dass man „Autonome Kunst im Raum der Kirche“ zeigen kann und muss, erscheint mir seit der Mitte der 80er-Jahre als eine durchgesetzte Selbstverständlichkeit (auch wenn einige das bis heute nicht wahrhaben wollen oder es gerne revozieren möchten, s. dazu den abschließenden Abschnitt Retardation dieses Textes). Niemand kann im Ernst an den Errungenschaften der Debatte um die autonome Kunst vorbeigehen, will er nicht reaktionär werden. Ich habe keine Zweifel am Modell der autonomen Kunst im Raum der Kirche (Vgl. dazu Horst Schwebel, Öflinger Thesen. Zur Verteidigung der autonomen Kunst in der Kirche, https://www.theomag.de/56/hs9a.htm in diesem Magazin).

Aber dieses grundsätzliche Modell, in Anerkenntnis der Entwicklung der Eigengesetzlichkeiten der modernen Kunst die Begegnung von Kunst und Kirche zu gestalten, lässt ja noch sehr viele Handlungsmöglichkeiten. Man kann versuchen, in Zusammenarbeit mit der autonomen Kunst dennoch nach weiter fortbestehenden Schnittmengen zu suchen. Dieses Modell, das Horst Schwebel einmal höchst paradoxer Weise als „Archäologie der Gegenwartskultur“ bezeichnet hat, vermag bis in die Gegenwart Gemeinden und ihre Pfarrerinnen und Pfarrer zu überzeugen. Auch wenn der Bereich der autonomen Kunst, die sich weiterhin mit explizit ikonographischen religiösen Fragestellungen beschäftigt, kleiner geworden ist, so gibt es ihn doch weiterhin. Das begründet die fortdauernde Attraktivität von Ausstellungen unter dem Stichwort „Das Kreuz in der Kunst“, „Das Christusbild in der Kunst“ oder „Die Schöpfung in der Kunst“. Das Risiko, das in meinen Augen dieses Modell in sich trägt, ist, dass man unter der Hand, sozusagen unversehens Künstler mit der Bearbeitung religiös interessierender Fragestellungen beauftragt - unter Vernachlässigung der Autonomie der Künste. Das führt dann zu Ausstellungen wie „Paul Gerhard in der Kunst“ oder „Martin Luther und die Reformation in der Kunst“ oder zu Tendenzen der „Site Specific Art“ bei der der Kontext und nicht die Kunst die Richtung vorgibt. Man kann auch alle Kunst als „Sprache der Religion“ bezeichnen. Das könnte ein sehr avantgardistisches Konzept sein, wäre auch hier nicht die elementare Gefahr gegeben, dass man der Religion die Richtungssetzung überlässt und die Kunst nur noch als Ausdruck dessen versteht. Man kann Kunst als Problemexplikationsfeld begreifen, das uns die Themen und Fragestellungen vorgibt, auf die Theologie und Kirche zu reagieren und zu antworten haben. Das würde aber bedeuten, dass die Kunst die angemessenen Antworten nicht aus sich heraus entwickeln kann. Daran habe ich meine Zweifel (s. dazu auch H. Schwebels bereits erwähnten Text „Wahrheit der Kunst – Wahrheit des Evangeliums). Alle diese gerade benannten Modelle zielen in der einen oder anderen Form auf eine ideale Einheit von Kunst und Religion. Der Weg der Moderne schien mir aber ein grundsätzlich anderer zu seiner: einer der Ausdifferenzierung der Diskurse, die in ihrer Vertiefung den Gewinn für die Menschheit bzw. die Gesellschaft sieht.


Gemeindebildung durch Differenzerzeugung

Ende der 80er-Jahre entwickelte ich dann mein eigenes Modell der Begegnung von Kunst und Kirche, Theologie und Ästhetik: Ein Modell der Differenz.

In der Arbeit an einem Text für das gemeinsam mit Horst Schwebel herausgegebene Buch „Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation“ wurde mir deutlich, wie sehr gerade Modelle, die auf die Einheit von Kunst und Religion zielten oder ihre grundsätzliche Übereinstimmung betonen, letztlich ikonoklastische Modelle sind.

Dagegen war der Ikonoklasmus der differenzorientierten reformatorischen Aufbrüche, die wir heute als reformierte Theologie bezeichnen, harmlos. Sie nahmen die Kunst als Kunst wenigstens ernst und suchten sie nicht zugunsten einer vorgeblich anzustrebenden Einheit zu assimilieren.

Den Stand der damaligen Debatte habe ich seinerzeit in einer Übersicht so zusammengefasst:

Abstrakt-univer­sale Modelle

Untersuchungs-
feld

Fragestellung

These

Korrelation

(P. Tillich)

Kunst und Religion

Wie lassen sich autonome Welterkenntnis und theologischer Wahrheitsanspruch vereinen?

Aus der Kunst lassen sich existentielle Fragen erheben, die in der christlichen Botschaft Antwort finden

Utopie
(K. Barth)

Kunst als Vorschein und Eschaton

Wie transzendiert Kunst die Wirklichkeit?

Im ästhetischen Schein wird die Welt als Vorletztes, der Transzendierung bedürftig, erkennbar

Invarianten

Schnittstellen von Kunst und Religion

Welche Gemeinsamkeiten weisen Kunst und Religion auf, was ist ihr gemeinsames Wesen?

Kunst und Religion weisen elementare und notwendige Gemeinsamkeiten auf (Transzendenz, Geschichte, Sinn etc.)

Kompensation
(O. Marquard)

Gesellschaft

Wie können gesellschaftliche Defizite, Entfremdung etc. ausgeglichen werden?

Die Kunst bietet einen Ausgleich für Sinnverlust und Rechtfertigungszwang in der Moderne und ersetzt Religion

Sprache
(R. Volp)

Bild als Text, Zeichen, Sprache, Bedeutung

Welche Sprachleistung besitzt Kunst für Religion, Theologie, Christentum?

Kunst ist (kann sein) eine/die Sprache der Religion; Kunst ist die sprachliche Gestalt der Religion

Konkret-partiku­lare Modelle

Untersuchungs-
feld

Fragestellung

These

Komplementarität
(H. Schwebel)

Kunststil / Theologie

Wo finden sich in Kunst und Theologie analoge unterschiedlich benannte Phänomene?

Bestimmte ästhetische Phänomene lassen sich als eschatologische Vorwegnahme religiöser Glaubenssätze verstehen

Konkordanz

Kunstwerke mit religiöser Symbolik, Ikonographie

Welche religiösen Symbole tauchen in der aktuellen Kunst auf und warum?

Der ästhetische Raum entspricht dem Wesentlichen der Religion; es gibt eine aktuelle Relevanz religiöser Symbole

Archäologie der Gegenwartskultur
(H. Schwebel)

Religiöses Thema

Welche Relevanz hat ein religiöses Thema in der Gegenwartskultur?

Zur Prüfung der aktuellen Gültigkeit von religiösen Sätzen und Symbolen sind wir auf die Künstler angewiesen

Modelle der
Differenz

Untersuchungs-
feld

Fragestellung

These

Autonomie
(Th. W. Adorno)

Kunst und nicht­ästhetische Diskurse

Wie grenzt sich der ästhetische Diskurs von den nichtästhetischen Diskursen ab?

Kunst ist eigengesetzlich und verortet sich neben den nichtästhetischen Diskursen im pluralen Gefüge der Vernunft

Souveränität
(Chr. Menke)

Ästhetische Erfahrung und nichtästhetische Diskurse

Welche nichtästhetischen Wirkungen hat die ästhetische Erfahrung?

Kunst überschreitet das ausdifferenzierte Gefüge der Vernunft und bringt nichtästhetische Diskurse in die Krise

Differenz
(A. Mertin)

Kunst / Religion

Wie verhalten sich die Wertsphären/ Sprachspiele Kunst und Religion zuein­ander?

Ästhetische Erfahrung bewirkt eine Krise der Theologie; Theologie negiert die Absolutheitsanspruche der Kunst

In zwei Bereichen fand ich die vorherigen Bemühungen der Begegnung von Kunst und Kirche unbefriedigend, weil nicht konsequent zu Ende gedacht und zu Ende entwickelt.

I - Raum

Ich glaube zum einen, dass wir die Stärken der neuzeitlichen Diskursdifferenzierung von Kunst und Kirche nur dann bewusst machen können, wenn beide Bereiche ihre Argumente in einem Raum zur Geltung bringen können. Meines Erachtens krankte das Ausstellungsmodell in der Kirche daran, dass man autonome Kunst in City-Kirchen, Kultur-Kirchen und nicht mehr genutzten Kirchen zeigte. Kultur wurde so zu einem Fluchtpunkt einer Theologie, die in der Sache selbst nicht mehr gebraucht wurde. Wenn schon die Menschen die Kirchen nicht mehr nutzten, kann man wenigstens Kultur darin veranstalten. Das erinnert mich an Calvins Kritik in der Institutio, dass die Bilder in die Kirchen gebracht wurden, weil die Prediger nichts mehr zu sagen hatten. Diese Kritik hat bis in die Gegenwart nichts an Bedeutung eingebüßt. Wenn also Kunst mit Kirche ins Gespräch kommen soll, dann muss, dann kann es nur so laufen, dass beide ohne jede Restriktion jeweils ihr Bestes in einem gemeinsamen Raum einbringen können. Da das Interesse in meinem Fall zunächst von der theologisch-kirchlichen Perspektive ausging, hieß das, die Kunst als Gast in die religiös genutzten Räume einzuladen und zugleich diese Räume weiterhin religiös zu nutzen. Die Differenz beider Bereiche sollte vor Ort produktiv werden.

Die Kulturkirchen, auf die die Evangelische Kirche so stolz ist, scheinen mir daher nur ein Notnagel zu sein, Klientelpolitik, Speck für ästhetische Mäuse – im schlimmsten Fall nur für ästhetische Kirchenmäuse und nicht wirklich aus dem Interesse daran geboren zu sein, was uns die Kunst der Gegenwart (oder der Vergangenheit) zu sagen hat. Wenn es nämlich darum ginge, die Botschaft der Kunst zu hören, dürfte dies nicht in separierten und dann auch noch zur Galerie umgewandelten Räumen passieren.

1997 habe ich das zunächst im Rahmen der documenta-Begleitausstellung so versucht, dass die Kunst klassische Schwerpunkte des religiösen Raumes „besetzte“ und künstlerisch-ästhe­tisch bearbeitete. Orte im Raum wurden nun kontrovers. Ist der Altar ein religiöses oder ein ästhetisch-künstlerisches Objekt? Ist der Weg zum Altar liturgisch besetzt oder ein Freiraum für Interventionen im wörtlichen Sinne? Welche Sprache spricht die kirchliche Toten- und Trauerkultur und was passiert, wenn Künstlerinnen hier eingreifen und minimalistisch und sensualistisch zugleich den Gedankenfluss unterbrechen? Was heißt es, wenn Künstlerinnen im Kirchenschiff verkünden „Den, den ihr sucht, der ist nicht hier“ und zugleich in Aufnahme der Bildtraditionen seit Albrecht Dürer sich an die Stelle Christi setzen?

Dieses Modell ist – so sehe ich es heute – noch nicht wirklich frei. Es greift – zumindest interpretatorisch – religiöse bzw. kirchliche Fragestellungen auf, die nicht unbedingt Fragestellungen der Künstlerinnen und Künstler sind. Zwar kommt die erwünschte Begegnung zweier vitaler Diskurse – von Kunst und Religion – in einem Raum zustande, aber die Rahmensetzung erfolgt weiterhin von den Vorgaben der Religion her.

Die Frage, die sich aus der 97er Ausstellung für die documenta-Folgeausstellung im Jahr 2002 ergab, war also, ob man der Kunst nicht eine viel größere Souveränität geben muss, damit sie viel mehr Spiel-Raum hat. Zusammen mit Karin Wendt, Mitherausgeberin des Magazins für Theologie und Ästhetik, entwickelten wir ein Ausstellungskonzept, das erstmalig die Gestaltungssouveränität des Raumes den Künstlern überließ. Das heißt nicht, dass es keine Gespräche gegeben hätte, sondern dass im Vorhinein nur der Raum als gemeinsam interessierendes Thema benannt wurde und die Künstler eigenständig – autonom – damit umgingen. Das Ergebnis war die Durchdringung des Raumes im Rahmen der großen Installation von Thom Barth, der ein Kirchenfenster entfernen ließ und den Menschen den höchst unkonventionellen Zugang zur Kirche in etwa 6 Meter Höhe durch die Kirchenwand ermöglichte. Das war eine Raumintervention, die nicht Ausdruck irgendwelcher religiöser Ideen war (auch wenn man sie durchaus so deuten konnte: Der Einbruch in den Leib Christi), sondern ein Spiel mit dem Raum und der Wahrnehmung.

Viel deutlicher als vorher wurde nun der Raum als Kontrastfeld unterschiedlicher Erfahrungsformen erkennbar. Man konnte ihn nun dezidiert ästhetisch begehen (und nicht nur im Sinne des Baedecker-Christentums auf der Suche nach kulturgeschichtlich zertifizierten Objekten). Man konnte den gesamten Raum als künstlerische Installation von Thom Barth ansehen, die den Baukorpus als Material der künstlerischen Gestaltung verwendet hatte. Man konnte aber auch in religiöser Perspektive nach den Verletzungen der ursprünglichen Raumgestalt, nach den Wunden fragen, die sich gegenüber der bisherigen religiösen Raumkonzeption ergaben.

Auch das gelbe Band der Künstlerin Nicola Stäglich war in diesem Sinne eine eigenständige künstlerische Intervention in den bisher als religiös verstandenen Raum, der das tradierte religiöse Raumkonzept (die Sogwirkung des Raumes, der den Blick nach oben zieht) in Frage stellte.

II - Medienkunst

Ich meinte zum zweiten, dass die theologische Reflexion nicht bei den tradierten Kunstformen stehenbleiben kann, sondern auch die neuen Kunstformen mit ihren anders gearteten Herausforderungen berücksichtigen muss. Dabei meine ich nicht eine Erweiterung des Kunstbegriffs auf die technologisch neuen Unterhaltungsformen wie Film oder Fernsehen oder Internet, sondern die kunstimmanenten Entwicklungen von der Videokunst über die Computerkunst bis zur virtuellen Kunst. Und auch hier ist und war der Raum der Kontrastpunkt. Es geht also nicht um das Aufstellen eines Bildschirms in einer Kirche analog zur Platzierung in der Galerie oder im Museum. Es geht um ein Beziehungsfeld, eine Textur von aufgeladenem Raum, autonomer Medienkunst und religiösem Leben bzw. theologischem Wort. Es geht in einem gewissen Sinne – wie bei der schon vorgestellten Arbeit von Thom Barth – um einen Riss im Gefüge der Welt. 2007 bei der vorerst letzten Begleitausstellung der Evangelischen Kirche zur documenta, stand deshalb die Medienkunst – in ganz unterschiedlichen Schattierungen – im Zentrum der Wahrnehmung. Der Schweizer Künstler Yves Netzhammer platzierte einen Keil im Versammlungsraum der ursprünglich hugenottischen Gemeinde der Karlskirche und schuf zugleich eine virtuelle Brücke zu einer parallelen Installation von ihm im Schweizer Pavillon auf der Biennale in Venedig: Die Subjektivierung der Wiederholung – Projekt A (Venedig) – Projekt B (Kassel).

In der Martinskirche gestaltete die Medienkünstlerin Julia Oschatz ihre eigene Kunst-Höhle mit Video. Das Video ging der Verortung des Eremiten in der abgeschiedenen Existenz nach, spielt mit Assoziationen der Höhlenexistenz. Was findet sich unter der Oberfläche der Zivilisation, was unter dem Boden unserer Existenz?

Retardation

Seit 2007 hat es keine documenta-Begleitausstellung gegeben, eine beinahe 30jährige Tradition brach einfach ab. Das lag vielleicht an unglücklichen Zusammenhängen und widrigen Umständen, dürfte aber auch und nicht zuletzt einem nachlassenden binnenkirchlichen Interesse an der „autonomen Kunst im Raum der Kirche“ geschuldet sein. Was sich ja ohne größere Probleme beobachten lässt, dass im Gegenzug zur ästhetischen Kehre in der Praktischen Theologie in der Mitte der 80er-Jahre nun im beginnenden neuen Jahrtausend sich eine zunehmende Funktionalisierung in der Kirche abzeichnete, eine kalte Sprache der Funktionäre, die von notwendiger Mission in der Kulturarbeit sprachen und Kulturkirchen als Leuchttürme begriffen, die die säkularen Schiffe wieder in den Hafen der Kirchen bugsieren sollten. Mit anderen Worten: die Kirche litt kulturell unter einem massiven Rollback.

Kulturtheologie im emphatischen Sinne ist am Ende. Man zählt nun kulturpolitische Erbsen, wobei noch die Einrichtung jedes Kindergartens als kulturpolitische Pioniertat hervorgehoben wird. Gleichzeitig erodiert das Verständnis der kirchenleitenden Gremien für das, was Kultur in der Sache ausmacht. Heute werden Musicals zu den Zehn Geboten oder zu Martin Luther für Meilensteine der kulturellen Entwicklung und nicht der kulturellen Regression gehalten. Man spielt den Schlager gegen die Hochkultur aus und meint, mit der Verdummung der Menschen kirchenpolitische Geschäfte machen zu können. Vor unseren Augen implodiert die Kultur des Protestantismus, während so viele kulturelle Erbsen gezählt werden (können), wie lange nicht mehr. Die Devise lautet: Machen wir uns größer, verkleinern wir das Metermaß. Man kann sich heute nicht mit Meriten schmücken, die man in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts errungen hat. Die Bilanz geht immer auf das aktuelle Jahr, das in diesem Falle „Bild und Bibel“ hieß und kulturell ein absolutes Desaster zeigte. Nichts, aber auch gar nichts vermochte die Evangelische Kirche auf der Habenseite zu platzieren. Vor einigen Wochen rief mich eine WDR-Journalistin an, um mit mir über die ausbleibenden Aktivitäten der Protestanten zum Themenjahr Bild und Bibel zu sprechen. Sie habe zwar eine Cranach-Ausstellung besucht, aber ansonsten sei ihr in dem ganzen Jahr nichts Berichtenswertes unter die Augen gekommen. Und ich konnte ihr nur zustimmen. Vor meinen Augen wird das Gespräch mit der zeitgenössischen Kultur zur Anbiederung an die Unterhaltungsindustrie.

Das muss aber nicht das letzte Wort sein. Wir können jederzeit zurückkehren zu den Begegnungen auf Augenhöhe mit „autonomer Kunst im Raum der Kirche“. Man muss es nur wollen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/98/am525.htm
© Andreas Mertin, 2015