„Besuch aus der Pfalz“

Ein meditativer Gang durch die Ausstellung „Befreite Moderne“ im Kunstmuseum Mülheim

Barbara Wucherer-Staar

Hermine Müller - „Der kleine Katzenhai“ – die Frau des Malers Rolf Müller-Landau (*1903 - †1956) schaut nachdenklich von der Ausstellungsfahne des Kunstmuseums Mülheim herunter auf den Platz. In Sachen Kunst ist sie, die von ihrem Mann immer wieder porträtiert wurde, viel gereist. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges steuerte sie ihren Ehemann über Schlaglöcher und unbefestigte Straßen durch die Grenzkontrollen der Besatzungszonen. Ihre Fahrtziele waren Ausstellungen der klassischen und zeitgenössischen Avantgarde, unter anderem in München, Freiburg, Baden-Baden. Sie besuchen Willi Baumeister (*1889 - †1955) in Stuttgart und Hanna Bekker vom Rath (*1893 - †1983) im Frankfurter Kunstkabinett.

Müller-Landau war Mitbegründer der Pfälzischen Sezession (erste Ausstellung 1946) und konnte in seinem Werk expressionistische Bildverfahren, die in der nationalsozialistischen Bilddoktrin als entartet gegolten hatten, ins Jahr 1947 transportieren. „Der kleine Katzenhai“ ist auch im künstlerischen Sinne Leitmotiv der Ausstellung. Das Porträt als Bild der selbstbewussten modernen Frau ist das Gegenbild zum blonden Frauenideal der NS-Zeit.

70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges versammelt eine intelligente, bemerkenswerte Schau im Kunstmuseum Mülheim rund 100 Bilder, Grafiken und Fotografien aus dieser Zeit. Heute bekannte und weniger bekannte Maler erprobten in der Nachkriegszeit, welche Art von Bildern verständlich war, als alles in Schutt und Asche lag, als alles aus den Fugen geraten war.


Rolf Müller-Landau, Der kleine Katzenhai, 1947
© 2015 Dr. Albrecht und Bärbel Müller, Nachlass Rolf Müller-Landau,
Foto: © 2015 Rolf Goosmann, Bad Bergzabern

Hermine erinnert sich an lebhafte Tischrunden im pfälzischen Heuchelheim. Nachdem Wohnhaus und Atelier in Landau zerbombt waren, war die Familie in das nahegelegene Heimatdorf gezogen. HAP Grieshaber, Werner Gilles, Edvard Frank, Jean Leppien, die Galeristin Hanna Bekker vom Rath und andere gingen dort ein und aus. Man diskutierte unbekümmert über neue Ausdrucksmöglichkeiten in Farbe und Schwarz-Weiß. An welche bildnerischen Traditionen wollte man anknüpfen, um die aktuelle äußere Realität und innere Befindlichkeit zu vermitteln? Im kulturellen Bildergedächtnis verankert waren Künstler der Vorkriegszeit: Paul Cézanne, die Kubisten, Picasso und seine Anklage „Guernica“ (1937), Matisse, Léger, die Expressionisten, die Surrealisten um André Breton, Kandinsky und Paul Klee.

1948 war Müller-Landau auf der Biennale in Venedig (zusammen mit Willi Baumeister, Otto Dix, Edgar Ende, Werner Gilles, Erich Heckel, Karl Hofer, Ernst Wilhelm Nay und Heinz Trökes) und 1949 war er auf der zweiten gesamtdeutschen Kunstausstellung in Dresden, als zum letzten Mal abstrakte und Figur gebundene, realistische Kunst nebeneinander hing.

1950 nahm er teil an der Darmstädter Schau “Das Menschenbild in unserer Zeit“, die die heftige Debatte um ein relevantes, tragfähiges „Bild vom Menschen“ begleitete. War eine figurative, realistische Malerei zeitgemäß, wie Karl Hofer forderte oder konnte Existentielles nur abstrakt erfahrbar werden, wie Willi Baumeister darlegte?

Hermine in Mülheim

Gleich am Eingang der Schau zeigt der Berliner Karl Hofer (*1878 - †1955) realistisch-pragmatisch, wie die Karten in einer kahlen, düsteren Kammer von drei abgemagerten Skatspielern neu gemischt werden (Kartenspieler, 1945). Wer gewinnt? Wer verliert? Im oberen Stockwerk stellt Willi Baumeister eine amorph-abstrakte, heitere „Bunte Figur“ (1946) vor, eine Formulierung des „Unbekannten“, die immer mehr eine westliche „Abstrakte Kunst als Weltsprache“ gegenüber einer sozialistisch-realistischen „Ost-Kunst“ vertreten wird.

Baumeister war einer der ersten, die nach Öffnung der Grenzen 1949 in der Galerie Jeanne Buchers in der Kunstmetropole Paris ausstellten. Im schwäbischen Exil hatte er seine oft zitierten Überlegungen zu einem zeitgemäßen, „beweglichen Sehen“ notiert - im Sinne einer Kunst, die nicht mehr abbilde, sondern sich mit dem Unbekannten „naturhaft“ (das heißt absichtslos) in Beziehung setze. Sie sei Ausdruck einer universalen „Ur-Kraft“, die nicht das Bekannte wiederhole, sondern sich ins Unbekannte vorwage; eine Kunst, die den Menschen zu sich selbst zurückführe, eine freie, heilsame, humane Kunst. (1)

Zwischen Baumeister und Hofer entdeckt Hermine überraschende Facetten der damaligen Erinnerungskultur (Zeit der Nürnberger Prozesse).

Dazu zählen die surrealen, demontierten „gespenster des III. reiches (himmler)“ (= SS-Reichsführer Heinrich Himmler), Kannibalismus und alltägliche Ruinen aus den „Barbaropa-Studien“ von Erich Müller-Kraus. Schon 1932 laufen in Hanna Höchs „Die schönen Reusen“ (1932) kleine Figuren in einer Fischreuse eingefangen in eine ungewisse Zukunft. 1943 warnt ein „Trompetender Hahn“ der Berliner Malerin Jeanne Mammen.

Sie schmunzelt über Hans Thiemanns „Empörte Besucher in der Ausstellung ‚Revolutionäre Malerei‘, März 2048“ (gemalt 1948). Denn die Gäste - Figuren aus den Bildern de Chiricos, Picassos und Miros - sind erbost über realistische Bilder.

Fenster nach drinnen und draußen

Immer wieder finden sich Bilder mit Fenstern. Peter Herkenraths „Frau am Fensterkreuz“ hält eine Faust vors Gesicht, Carl Barth legt den abgebrochenen Kopf einer antiken Statue auf einen Fenstersims, draußen steht eine Kirchenruine. Karl Kunz versperrt den Blick aus einem Zimmer mit zerbrochenen Statuen durch ein „schwarzes Fenster“. Rolf Müller-Landau nutzt Gliederungselemente eines halb geöffneten Fensters für „Drei Mädchen im Raum“ (1949). Wie auf einem Triptychon oder einer irrealen Großbaustelle finden sich darin Figuren von Oskar Schlemmer, ein Abakus und andere Objekte. Im rechten Bildteil, außerhalb des Raumes, lehnt eine (Jakobs-)leiter vor einem antiken Tempel. Hans Thiemanns „Raum des Magiers“ zeigt ein Zimmer mit einem Tisch, auf dem eine Hand liegt, dem Schattenriss einer menschlichen Figur und den Blick auf oder durch ein Fenster auf eine Mondsichel. Die Bauerntochter Hermine muss lachen, als sie in Georg Meistermanns „Blick aus dem Atelier mit Hühnern“ (1943) das Federvieh unter den vielfach zerlegten Objekten in kräftig leuchtenden Farben entdeckt. (2)

Sur-real

Heinz Trökes´ heiteres „Spiel der Sandmänner“ mit einem bunten Ball könnte an einem Meeresstrand stattfinden. Eine Scheibe am Himmel könnte ebenso Sonne wie Mond, auf- oder untergehend sein. Paul Klees „Seiltänzer“ (1923) balanciert in einem geometrisch skizzierten, leeren Raum quasi im Nichts. In “Die Fesseln“ (um 1938/39) steckt der nach Frankreich emigrierte Wols skurrile, madenähnliche Figuren in eine Tonne. Die zart getönte, undefinierte Landschaft ist eines seiner „Protokolle“ aus einem französischen Internierungslager.

Sur-reale Bilder, erläutert der Maler und Kunstschriftsteller Trökes, stellen die Welt der Wirklichkeit in Frage. Es seien nicht nur Vergleiche möglich mit Dingen der sichtbaren Welt, mit außerbildlichen Gegenständen, „ … sondern die Surrealisten operieren frei mit den Dingen, den Objekten, den Gegenständen der faktischen Welt. Indem sie die wesensfremdesten Dinge in einem Bilde zusammenbringen, erreichen sie, oft durch Schockwirkung, neue Gefühle beim Betrachter.“(3)

Apokalypse und Religion

Zwischen Zerstörung und Aufbau - zertrümmerten Figuren und Räumen - finden sich Bernard Schultzes rätselhafte „Sphinx“ (1948), Werner Gilles´ „Der heilige Antonius“, „Orpheus in der Unterwelt“ und drei müde Clowns. Für „Licht und Dunkel“ zerlegt Hann Trier 1949 den Bildraum, eine „Verkündigung“ stellt Ernst Wilhelm Nay sich als kubistisches Farb-Formerlebnis vor. Meistermanns „Bäume“ erinnern an menschliche Figuren und Kreuze. Bruno Gollers „Altar im Gefangenlager“ reduziert das Entsetzen auf gedämpfte Farben und Figuren, die aus Särgen blicken. Über dem Altar in ihrer Mitte schwebt ein Engel. Ein positives Gegenbild findet Müller-Landau: Sein Liebespaar im „Traum vom Leben“ ist real.

Elementares

Hermine entdeckt unterschiedliche Eindrücke von Spannung und Bewegung, von Farbe, Form und Raum hin zum informellen, offenen Bild. Etwa in den elementaren Zeichen, den „Variationen mit einer Faktur“ (1948) von Karl Otto Götz, in der gestischen „Komposition“ (1948) von Hans Hartung und bei Theodor Werner oder in amorphen, zarten Aquarellen von Petra Petitpierre und Julius Bissier („Bedrohte Frucht“, 1947). Scheinbare Ordnung bemerkt sie in geometrisch organisierten Farbräumen und -schichtungen von Jean Leppien, Levedag und Faßbender und in abstrakten Fotoarbeiten von Elsa Thiemann und der Baumeisterschülerin Marta Hoepffner („Hommage à Kandinsky“, 1937).

Kunst im deutschen Südwesten.

In der Kunstgeschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es bald einen länderübergreifenden Schwerpunkt: Im Südwesten war es die französische Kulturpolitik („Umerziehungsprogramm“), die zum alleinigen Vorbild wurde und die Entwicklung vieler Künstler hin zur Abstraktion förderte. Hermine erinnert sich, wie gespannt man auf die neue Zeitschrift „Das Kunstwerk“ wartete, die überall kursierte. Sie erschien seit 1946 in Baden-Baden und berichtete über das aktuelle Kunstgeschehen, vor allem in Deutschland und Frankreich. In einer der ersten Ausgaben fand sich unter den Beiträgen eine knappe Übersicht über aktuelle deutsche Kunst („Lexikon moderner Malerei“). 1949 publizierte der Kunsthistoriker Anton Henze das Sonderheft „Fibel der modernen Malerei“.

Hermine in Landau / Pfalz

Im Sommer 2015 zeigte eine konzentrierte Retrospektive mit ausgewählten Werken der heute nur mehr wenig bekannten SüWeGa-Schau von 1949, (4) wie breit angelegt Kunstausstellungen damals sein konnten. Hermine erinnert sich daran, wie gut sich die Entwicklung in Richtung Gegenstand und Abstraktion in Deutschland damals an rund 350 Werken von etwa 100 Künstlern nachvollziehen ließ.

In dieser Bestandsaufnahme war ein Bogen gespannt von den gegenständlich-impressioni­sti­schen Anfängen der Moderne eines Max Slevogt, Hans Purrmann, bis hin zur Abstraktion von Max Ackermann, Willi Baumeister und Julius Bissier. Darunter fanden sich Werke von Dix und Heckel, der Maler August, Eugen und Hermann Croissant, Bilder der Gruppe „Pfälzische Sezession“ mit Rolf Müller-Landau, Werner Gilles, Edvard Frank u.a., zu den Werken der Bildhauer zählten Emy Roeder, Michael Croissant, Gustav Seitz.

Hermine blickt zurück

Ein Blick auf 70 Jahre Kriegsende ist auch ein Blick auf 70 Jahre Kunstgeschichte: Auf internationalen Messen wie der Art Basel, der Art Cologne und auch auf der Art Karlsruhe finden sich - das zeigen die Messekataloge in den letzten Jahren - Informel, geometrische Abstraktion, Expressionismus, selten jedoch jüngere Künstler der „verschollenen Generation“, die assoziativ Figur-gebunden malten. Die kunsthistorische Aufarbeitung scheint gerade wieder neu zu beginnen.

Hermine blickt zurück auf die Nachkriegszeit und freut sich: Künstler, die befreit waren vom Terror der nationalsozialistischen Ideologie und von Tod und Verderben des Weltkrieges, haben heute noch etwas zu sagen.


BEFREITE MODERNE. Kunst in Deutschland 1945 bis 1949, Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, bis 10. Januar 2016, danach: Städtisches Museum Hofheim am Taunus, 14.2. - 8.5.2016, www.kunstmuseum-mh.de /

Begleitbuch zur Ausstellung: Beate Reese (Hrsg.), Befreite Moderne, Kunst in Deutschland, 1945-1949, mit Texten von Beate Reese, Dirk Steimann, Barbara Wucherer-Staar, Berlin, München: Deutscher Kunstverlag, 2015

Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung u. a.: Carl Barth, Heinz Battke, Willi Baumeister, Max Beckmann, Hubert Berke, Julius Bissier, Constant, Joseph Fassbender, Gerhard Fietz, Adolf Richard Fleischmann, Edvard Frank, Werner Gilles, K. O. Götz, Bruno Goller, Thomas Grochowiak, Hans Hartung, Werner Heldt, Peter Herkenrath, Hannah Höch, Marta Hoepffner, Karl Hofer, Otto Hofmann, Karl Kunz, Jean Leppien, Fritz Levedag, Jeanne Mammen, Georg Meistermann, Oskar Moll, Erich Mueller-Kraus, Rolf Müller-Landau, Ernst Wilhelm Nay, Emil Nolde, Petra Petitpierre, Marie-Louise von Rogister, Ludwig Gabriel Schrieber, Bernard Schultze, Heinrich Siepmann, Elsa und Hans Thiemann, Hann Trier, Heinz Trökes, Theodor Werner, Fritz Winter und Wols.

Zum Werk von Rolf Müller-Landau s.: http://www.rolf-mueller-landau.de/

Anmerkungen

1)      Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart 1947, s.a. http://willi-baumeister.org/ (Recherche 20.11.2015).

2)      Die (bisher nur mündlich überlieferten) Erinnerungen ihres Sohnes Albrecht bringen einen weiteren Farbtupfer in das bunte Treiben.

3)      Heinz Trökes, Der Surrealismus, in: Das Kunstwerk, 1 1946/47, Doppelheft 8-9, S. 30-38, (Zitat: S. 31).

4)      SüWeGa – Kunst im Südwesten. Im Rahmen der südwestdeutschen Gartenbau-Ausstellung, 24. Juli - 24. August 1949, Landau in der Pfalz; Retrospektive mit ausgewählten Werken im Strieffler-Haus, Landau, Sommer 2015.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/98/bws13.htm
© Barbara Wucher-Staar, 2015