Dezember 2015

Liebe Leserinnen und Leser,

vor unseren Augen geschieht zur Zeit schrecklich viel und viel Schreckliches – und noch viel mehr entzieht sich unserer Wahrnehmung. Wir hören und sehen nichts von dem, was der Da‘esch in Dura Europos anrichtet, dort, wo die älteste Hauskirche der Christenheit steht und wo eines der interessantesten Bildprogramme einer antiken Synagoge zu finden ist oder war. Wir können vermuten, dass viel von dem, was dort lange Zeit vor unseren Augen war, nicht mehr vorhanden ist. Die kulturelle Zerstörungswut der Islamisten ist grenzenlos. So wie Dschihadisten auch im April 2014 die 14.000 Jahre alten Felszeichnungen von Tadrart Acacus mit Waschbenzin zerstörten. Aber es ist billig, immer nur auf andere und andere Kulturen zu zeigen. Vor unseren Augen vollzieht sich ebenfalls Verstörendes, etwa die Rückkehr eines Teils der Christen zum Gedankengut der Deutschen Christen, die das Christentum völkisch bestimmten. Wer nur Christen als Flüchtlinge zulassen will, wer meint, man dürfe als Christ Menschen danach selektieren, ob sie zu unserer Kultur passen oder nicht, der hat sich dem völkischen Denken ausgeliefert. Hier ist der status confessionis erreicht und man wünschte sich, die eigene Kirche würde das viel deutlicher und öffentlichkeitswirksamer verurteilen.

Vor unseren Augen heißt deshalb auch, dass unsere Haltung zu dem, was aktuell geschieht, über uns selbst, unser Selbstbildnis, unsere „Werte“ Auskunft gibt. Unser Blick spiegelt nicht nur das Betrachtete, sondern charakterisiert uns selbst. Genau hinzu­schau­en ist ein Wert, den es zu verteidigen gilt. Bei Henning Luther kann man lernen, dass ethische Fragen immer auch ästhetisch grundiert sind, ja dass „Verantwortlichkeit allererst aus einer ästhetischen Einstellung hervorgehen kann“, denn „ästhetische Erfahrung, insbesondere die an Objekten der modernen Kunst geschulte Wahrnehmung, kann zu jener Wahrnehmung des Anderen anleiten die nach Levinas den Anderen als Anderen gelten lässt und die die egoistische Selbstbehauptung verlässt, um sich dem Anruf des Anderen zu öffnen. Insofern habe ich pointiert von der Geburt der Ethik aus der Ästhetik gesprochen. Darüber hinaus wohnt m.E. dem ästhetischen Blick bereits implizit eine ethische Dimension inne, insofern er wesentlich den Verzicht auf egoistische Vereinnahmung des Anderen bedeutet, der immer schon ein Stück Gewalt innewohnt.“


Zum aktuellen Heft:

Vor unseren Augen ist auch das Thema des aktuellen Heftes des Magazins für Theologie und Ästhetik. Das „vor Augen Liegende“ auch wirklich wahrzunehmen, es nicht sofort mit Deutungen und Heimholungen zu verunklären – das ist ein wichtiges Anliegen der Arbeit von Horst Schwebel als akademischer Lehrer.

Unter VIEW finden Sie einen einleitenden Text zur Konzeption des Textes von Ingrid Witzel und Andreas Mertin. Letzterer erläutert dann in einem zweiteiligen Text, warum ihm Medienkunst als Theologe wichtig ist und wie ihn die Begegnung mit Horst Schwebel zu dieser Einsicht geführt hat. Karin Wendt schließt sich an mit Reflexionen zu ihren gegenwärtigen Versuchen, die Geschichte der modernen Kunst anders zu erzählen. Jörg Herrmann skizziert die Geschichte der Wiederentdeckungen der Kultur im Protestantismus in den letzten 30 Jahren. Alle drei (Karin Wendt, Jörg Herrmann und Andreas Mertin) haben bei Horst Schwebel in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts studiert. Wolfgang Vögele geht in einer biographischen Spurensuche seinen Annäherungen auf dem Feld der Kultur nach. Veit Ruser benennt in seinem Beitrag Impulse aus den Diskussionen mit Horst Schwebel über Kirchenbau und Architektur. Und Hans Jürgen Benedict legt dar, warum ihm die Kultur des Theaters als Theologe wichtig ist.

In der Rubrik RE-VIEW gibt eine Ausstellungsbesprechung von Barbara Wucherer-Staar und zwei Buchbesprechungen bzw- Lektüren von Hans-Jürgen Benedict.

Unter POST finden Sie wie gewohnt die Notizen von Andreas Mertin zu Themen der letzten zwei Monate und seinen Hinweis auf einen wichtigen Kunstclip des Künstlers William Kentridge.


Wir wünschen eine angenehme und erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Jörg Herrmann und Wolfgang Vögele