Vor unseren Augen |
Vergebliche Liebe, gescheiterte Politik, verklärte ImpressionGustav Flauberts ‚Erziehung der Gefühle‘ wiedergelesenHans-Jürgen Benedict Ich habe den Roman Flauberts, der im Untertitel „Geschichte eines jungen Mannes“ heißt, nach meiner Erinnerung selber als junger Mann zum ersten Mal gelesen, vor bald 50 Jahren. Es ist die Geschichte Frederic Moreaus, des Jünglings aus der Provinz, der sich in Madame Arnoux, die Frau eines Kunsthändlers verliebt und über viele Jahre vergeblich versucht, mit ihr ein Liebesverhältnis anzufangen. Hängengeblieben war die Erinnerung an die vielen Versuche ihr näher zu treten, seine Enttäuschungen und sein doch immer schnell entflammbares Begehren, das ihn die wichtigeren Dinge, das eigene berufliche Fortkommen, die Liebe zu anderen Frauen, aber auch die gesellschaftliche Verantwortung in aufregenden Zeiten (die Revolution von 1848/49) vergessen ließ. In Erinnerung geblieben war mir ein manchmal peinigendes Gefühl des Mitempfindens mit diesem jungen Mann, der anstatt seinen Weg zu gehen, sich in einer unerfüllbaren Liebe verzettelt und damit eben jene „Erziehung der Gefühle“, die ihn zu einem im Arbeiten und Lieben reifen Mann machen würde, versäumt. Am Schluss erinnert er sich mit seinem Freund Deslauriers an den gemeinsamen Besuch bei einer Prostituierten ihres Heimatortes, ein Besuch, der fehlschlug, weil Frederic in seiner Verwirrung angesichts der vielen Frauen im Empfangsraum die Flucht ergriff (und er hatte das Geld). „Das ist doch das Beste, was wir erlebt haben“, sagt er lachend und der Freund stimmt ihm zu. Ein desillusionierender Schluss, ein ironisches Resümee eines großen Erziehungsromans. Das war meine grobe Erinnerung, alles Übrige hatte ich weitgehend vergessen. Warum nicht jetzt mit 74 Jahren diesen großen Roman, Flaubert hielt ihn für seinen besten, noch einmal wiederlesen?! Bestärkt wurde ich in diesem Vorhaben auch durch den Hinweis (in Rainer Stachs Die frühen Jahre), dass die Lektüre der Erziehung der Gefühle für Kafka ganz wichtig war, er hat den Roman immer wieder gelesen: „Wann und wo ich das Buch aufgeschlagen habe, hat es mich aufgeschreckt und hingenommen, und ich habe mich dann immer als ein geistiges Kind dieses Schriftstellers gefühlt, wenn auch als ein armes und unbeholfenes.“ Besonders bewunderte Kafka seine Schilderungen des öffentlichen Lebens in Paris (die Kutschenszene). Er hat bei seinem Paris-Besuch mit Max Brod die Flaubert-Orte aufgesucht, hier wohnten die Arnoux’s, hier traf Frederic Frau Arnoux usw. Schließlich war es eine Neuübersetzung des Romans von Cornelia Hasting, erschienen im Haffmanns Verlag bei Zweitausendeins, die mich motivierte. Und vielleicht spielte auch die Melancholie des Alters eine Rolle, die die eigene Geschichte im milden Licht des Rückblicks auf das eigene Leben so verklärt, wie Frederic und Deslauriers es am Ende tun. Allerdings hieß Flaubert noch mal zu lesen auch, andere ebenfalls wichtige Lektüren zurückzustellen. Lesezeit ist wie Lebenszeit begrenzt, und im vorgerückten Alter muss man sich genau überlegen, was man neu oder wieder lesen will. Ich zögerte also, fing an versuchsweise zu lesen, an einem schönen Spätsommertag an der Alster sitzend und las mich dann doch fest. Schon die erste Szene zeigt die große Kunst Flauberts die Dampferfahrt von Paris nach Nogent sur Seine, die Schilderung der Passagiere abwechselnd mit dem Blick auf die Flussufer, und dann: „Es war wie eine Erscheinung“ die Beschreibung des ersten Auftritts von Madame Arnoux. „Sie saß mitten auf der Bank, ganz allein; oder zumindest sah er niemand anders, so geblendet war er von ihren Augen. Als er vor ihr vorüberging, hob sie den Kopf; er duckte sich unwillkürlich; und nachdem er in derselben Richtung ein Stück weitergegangen war, betrachtete er sie.“(13) Frederic tritt mit dem Autor zurück vor der Erscheinung und kann sie jetzt erst wahrnehmen - er nimmt wahr den Strohhut mit rosa Bändern, ihr dunkles Haar, das Oval ihres Gesichtes, das Kleid aus hellem Musselin und ihre Tätigkeit. „Sie war dabei etwas zu sticken; und ihre gerade Nase, ihre ganze Gestalt stand klar vor dem Hintergrund des blauen Himmels.“ Er nimmt wahr - ihre schimmernd dunkle Haut, ihre verführerische Taille, ihre zarten Finger, alles will er von ihr wissen, und das Überschießende dieser Epiphanie verdichtet der Autor schon hier bei der ersten Begegnung zu dem vierhundert lange Seiten währenden Widerspruch zwischen dem Begehren und der Unerreichbarkeit seines Ziels, dem Konflikt zwischen Erkennen und Besitzen „ja, die Begierde“, heißt es hier schon, „verschwand sogar in einem tieferen Verlangen, in einer brennenden grenzenlosen Neugier.“ (13) Mehrfach an den Peripatien des Romans taucht dieser Gegensatz auf die Nähe der ersehnten Erfüllung und dann doch wieder die Versagung. Etwa bei dem Besuch der Emaillierfabrik ihres Mannes, als das Gespräch auf die Liebe zu einer Frau kommt, die einem anderen gehört und Frederic Madame Arnoux auf ihre Gefühle anspricht. In einer solchen Situation sei sie taub, antwortet sie. „Sein erstes Gefühl war eine ungeheure Bestürzung. Diese Art ihm die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen zu verstehen zu geben, vernichtete ihn. Er fühlte sich wie ein Mann, der in die Tiefe des Abgrunds gestürzt ist und weiß, daß es keine Hilfe gibt.“(246) Lamartine verwehrt am 25. Februar 1848 Sozialrevolutionären der Roten Fahne das Eindringen in das Pariser Rathaus Ölgemälde von Henri Felix Emmanuel Philippoteaux Inzwischen hat sich die politische Situation verändert. Es kommt im Februar 1848 zur Revolution, Louis Philippe dankt ab, eine konstituierende Versammlung wird gebildet. Frederic aber, der in Paris ein oberflächliches Leben als reicher Dandy führt, an der Politik ein nur begrenztes Interesse hat, sich mit Rosanette eine Mätresse zulegen will, sucht trotz vieler Enttäuschungen weiter den Kontakt zu Madame Arnoux. Schließlich scheint der Konflikt zwischen Begehren und Zurückweisung sich aufzulösen. In dem Ferienhaus der Arnoux erreicht ihre Beziehung eine neue Intensität, ein Glück des Verstehens, der Annäherung, das seit Abälard und Heloise durch das gegenseitige Erzählen entsteht und bei dem es einen Punkt gibt, wo es heißt, hier lasen wir nicht weiter. Aber genau hier hapert es dann doch. Von Madame Arnoux wird gesagt: „Verloren in der Sorglosigkeit, die großes Glück bedeutet, tat sie nichts, um seine Liebe anzufachen.“(332) Frederic hingegen fürchtet, durch ein unbedachtes Wort alles zu verlieren: „Er wollte, dass sie sich hingab und sie nicht nehmen. Die Gewißheit der Liebe genoß er wie den Vorgeschmack des Besitzes, und dann erregte auch der Zauber ihres Wesens sein Herz mehr als seine Sinne. Es war eine namenlose Seligkeit, ein solcher Rausch, daß er sogar die Möglichkeit eines vollkommenen Glückes vergaß.“ Jedoch fern von ihr, kamen die wilden Begierden wieder. Schließlich kann er sie dazu bringen, sich in Paris zu einem Stelldichein mit ihm zu verabreden, obwohl ihr Sohn Anzeichen einer Erkrankung zeigt. „Dienstag? - Ja, zwischen zwei und drei Uhr! - Ich werde dort sein. Und in einer Regung von Scham wandte sie sich ab.“ (336) Die Schilderung dieser Verabredung mit Madame Arnoux zum Stelldichein in der Rue Tronchet, wo Frederic ein Zimmer gemietet hat und es vorbereitet, ist ein Höhepunkt des Romans: „Andächtiger als man Altäre errichtet, stellte er die Möbel um, drapierte selbst die Vorhänge, stellte Heidekraut auf den Boden, Veilchen auf die Kommode, am liebsten hätte er den Boden mit Gold ausgelegt.“ „Morgen, sagte er sich, ja morgen, ich träume nicht.“ (336) Doch am nächsten Tag bahnt sich die Revolution an, ausgehend von dem Wunsch einer Wahlrechtsreform am Ort der Verabredung nähert sich ein Zug der Studenten, man ruft: es lebe die Reform, nieder mit Guizot. Immer mehr Menschen versammeln sich an der Place de la Concorde. Es kommt zu Festnahmen, Truppen marschieren auf, Frederic versteckt sich jedoch, denn er wartet auf Madame Arnoux, die Stunden verstreichen, unruhig geht er auf und ab, er schickt Boten aus, die Revolution eskaliert, ohne dass es Frederic interessiert, er wartet weiter, doch Madame Arnoux kommt nicht. Szenenwechsel: in der Wohnung der Arnoux erfahren wir die Ursache ihr kleiner Sohn ist schwer erkrankt, mit den Ärzten kämpft Madame Arnoux um sein Leben. Das Rendezvous ist vergessen. Als das Kind gerettet ist, interpretiert sie das Ganze als „eine Warnung der Vorsehung. Aber der Herr hatte sie in seiner Barmherzigkeit nicht vernichten wollen“ (343) Frederic aber landet im Bett der Kurtisane Rosanette, die nun seine Geliebte wird. Als sie zum Dinieren ausgehen, geraten sie auf dem Rückweg zwischen das revolutionäre Gewehrfeuer vom Boulevard des Capucines. „Ah, da werden ein paar Bourgeois erledigt, sagte Frederic ruhig, denn es gibt Momente, in denen auch der friedfertigste Mensch so weit von den anderen entfernt ist, daß er getrost zusehen könnte, wie die Menschheit untergeht.“ (346) Er führt Rosanette in das Miethotel in der Rue Tronchet, und zwar in genau das Zimmer, das er für die andere hergerichtet hatte. „Gegen ein Uhr wurden sie von einem fernen Geschützdonner geweckt; und sie sah ihn schluchzen, das Gesicht im Kissen vergraben. Was hast du denn, Liebster? Das Glück ist zu groß, sagte Frederic. Ich hatte mich zu lange nach dir gesehnt.“ Eine glatte Lüge, aber so pointiert erzählt, dass es einen graust. Auch ist die Schilderung des liebeskranken Frederic ein exzellentes Beispiel für die Unvereinbarkeit von Liebe und Politik die Liebe ist, wie Hannah Arendt einmal bemerkte, eigentümlich apolitisch-weltlos. „In der Erziehung der Gefühle ist die Revolution vollendet. Was bis zu Flaubert Aktion war, wird Impression.“ Dieses Diktum Marcel Prousts (wobei das vollendet im Sinne Hegels zu verstehen wäre als erfüllt und aufgehoben) ist nirgends besser zu beobachten als an der auf das missglückte Liebeserlebnis folgenden Schilderung der revolutionären Ereignisse in Paris. Mit Hussonett bewegt sich Frederic zwischen den Kämpfenden. „Gellende Schreie, triumphierendes Hurra stiegen auf. Ein fortwährendes Gedränge ließ die Menge hin und herschwappen.“ Frederic steht dazwischen, „gebannt und auf höchste unterhalten. Die niederstürzenden Verletzten, die hingestreckten Toten sahen nicht aus wie wirkliche Verletzte, wirkliche Tote. Ihm war, als sei er im Theater.“ Und dann jene ungeheure emblematische Szene: „Mitten in dem Gewoge sah man über den Köpfen einen Greis in einem Frack auf einem Schimmel mit Samtsattel. In der einen Hand hielt er einen grünen Zweig, in der anderen ein Blatt Papier und schwenkte beides wie besessen.“ (351) Am Palais Royal kommt es zu einem Feuergefecht, in das auch Frederic hineingezogen wird. „Ein Mann mit einer Kugel im Rücken fiel röchelnd gegen seine Schulter.“ Zwischen tödlichen Kugeln und einem heulenden Hund, zwischen Feuerpausen in Weinschenken, wo man einen Tropfen trank und Plünderungen vollzieht sich das Geschehen. Das Volk stürmt den Louvre, wirft den Thronsessel aus dem Fenster, „nun brach lauter Jubel aus, als ob anstelle des Thrones eine Zukunft von grenzenlosem Glück erschienen wäre, und weniger aus Rache denn um seinen Besitz zu bestätigen“ zerstört das Volk das Mobiliar. „Man hatte gesiegt, sollte man sich da nicht freuen!“ (354) Der Erzähler beschreibt die Zerstörungen mit sarkastischer Präzision. „Galeerensträflinge streckten ihre Arme in die Betten von Prinzessinnen und wälzten sich darin, als Trost, sie nicht vergewaltigen können.“[1]
Wie eine Karikatur des berühmten Bildes von Eugene Delacroix (Die Freiheit führt das Volk) mutet folgende Szene an: „Im Vorzimmer stand ein Freudenmädchen als Freiheitsstaue aufrecht auf einem Kleiderhaufen, reglos, mit weitaufgerissenen Augen, erschreckend“ (355), als ahnte sie die künftige Niederlage vom Juni. Dussadier begegnet ihnen und ruft: „Die Republik ist ausgerufen: wir werden glücklich sein. Keine Könige mehr, versteht ihr, die ganze Welt frei.“ (357) Wie distanziert hingegen schildert Karl Marx in Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852) die Februarrevolution: „Als das Volk auf die Barrikaden stieg, die Nationalgarde sich passiv verhielt, die Armee keinen ernstlichen Widerstand leistete und das Königtum davonlief, schien sich die Republik von selbst zu verstehen.“ Heine bemerkt ganz im ernüchternden Stile Flauberts: „Die Republik ist nichts weiter als Namenswechsel, ein revolutionärer Titel. Geld machen, Aemter erhaschen, vierspännig fahren, eine Theaterloge besitzen, aus einem Vergnügen ins andere jagen, das war bisher ihr Ideal. Wie könnte sich diese corrupte, weichliche Gesellschaft so schnell verwandeln(…) verzichten Sie auf die Republik, denn es gibt keine Republikaner.“ (zit. Chr. Liedtke, Heinrich Heine, Reinbek 2006, 153) Die ständige Überlappung von privatem und historischem Geschehen, von persönlicher Enttäuschung und politischem Scheitern ist typisch für die Education Sentimentale. Flaubert kann das zeigen, obwohl die beiden Hauptfiguren keine politisch engagierten Charaktere sind. Das gilt erst recht für Frederics Ersatz-Beziehung zur ebenso hübschen wie oberflächlichen Rosanette, die am Vorabend der Revolution beginnt. In Paris finden sich die Massen zusammen, ein gewaltiges Gewimmel, eine Masse, die ein blasses vom Hunger ausgezehrtes, durch das Unrecht erhitztes Gesicht hat. Der Autor greift zu einem metereologischen Vergleich: „Indessen ballten sich die Wolken zusammen, der Gewitterhimmel steigerte die elektrische Spannung der Menge, sie kreiste um sich selbst, wogte mal hierhin, mal dorthin, und in ihren Tiefen spürte man die unberechenbare Macht, gleichsam die Kraft eines Elements.“ (389) In dieser Zuspitzung des revolutionären Konflikte haben die beiden Liebenden nichts Besseres zu tun, als einen Ausflug nach Fontainebleau zu unternehmen. Merkwürdig, dass Flaubert ausgerechnet jetzt den Mythos königlichen Glanzes beschwört und eine geradezu mythische Darstellung herrschaftlicher Jagd nach antiken Vorbildern inszeniert.[2] Die „Bogenfenster des Festsaals standen weit offen, die Sonne ließ die Gemälde glänzen, der blaue Himmel setzte das Marineblau der Bögen bis ins Unendliche fort, und aus der Tiefe der Wälder, deren verschwommenen Wipfel den Horizont füllten, schien das Echo der in Elfenbeinhörner gegossenen Halalis zu dringen und mythologische Balletts, die unter den Laubkronen als Nymphen und Sylvanen verkleidet Prinzessinnen und Edelleute zusammenriefen.“ Ja, mehr noch, es war eine Zeit, „als das Ideal darin bestand, die Welt in einem Hesperidentraum davonzutragen und die Mätressen der Könige sich mit den Sternen vereinigten.“ (391) Höher kann man nicht greifen. Dass die schönste dieser Berühmtheiten, Diane von Poitiers, sich mit dem Antlitz Dianas, der Jagdgöttin und sogar als Diana der Unterwelt hatte malen lassen, um ihre Macht auch über das Grab hinaus erkennen zu geben, ist eine Assoziation, die Rosanette nicht begreift, als Frederic sie fragt, ob sie diese Frau hätte sein mögen. Die Bewunderung königlicher Residenzen wird noch emphatischer; ihre Melancholie wird beschworen, ihre reglose Pracht, die vom „ewigen Elend aller Dinge“ zeugt. (393) Die Ausflugsfahrt der beiden Verliebten in den Wald von Fontainebleau ist auf andere Weise ein Meisterstück der Verbindung von Naturerfahrung und Liebeserleben. Frederic empfindet das Erlebnis des Waldes an der Seite der ihn sinnlich erregenden Frau intensiver als sonst, während sie eher unbeeindruckt bliebt. Der Wald gilt ja gemeinhin als Symbol der Deutschen, und wie Stifter den Wald beschreibt, das scheint unübertroffen. Doch Flaubert erreicht hier eine dichte Beschreibung des Waldes von Fontainebleau, deren Genauigkeit und Poetik ihresgleichen sucht: „Das Licht erhellte den Waldesrand an einzelnen Stellen und ließ das Innere im Dunkeln; oder es entfaltete im Vordergrund durch eine Art Dämmerung vermindert, im violetten Dunst der Ferne einen weißen Schein. Zur Tagesmitte fiel die Sonne senkrecht auf die langen Gräser, überzog sie mit Licht(…); legte man den Kopf zurück, sah man den Himmel zwischen den Wipfeln der Bäume. Einige glichen mit ihrer gigantischen Höhe Patriarchen und Kaisern oder bildeten mit ihren ungeheuren Stämmen Triumphbögen; andere, von unten an windschief, wirkten wie Säulen kurz vor dem Umfallen.“ (395) Etwas von dieser Impression ist in dem Gemälde Claude Monets aus dem Jahr 1865 eingefangen, „Die Straße von Chailly durch den Wald von Fontainebleau“, auf dem eine Lichtung im Kontrast zum dunklen Wald aufstrahlt und ein spitz zulaufender Himmelsauschnitt den Blick in die Ferne lenkt, während ein Baum am rechten Rand ihn wieder zurück auf die Lichtung führt. (Museum Städel Frankfurt, Monet und die Geburt des Impressionismus 2015) „Der Ernst des Waldes nahm sie gefangen“ heißt es einmal.[3] Und dann in impressionistischer Synästhesie weiter: „Und es gab verschwiegene Stunden, in denen sie gleichsam benommen, in einem stillen Rausch verharrten. Den Arm um ihre Taille, hörte er sie plaudern, sah fast zugleich die dunklen Trauben auf ihrem Kapotthut und die Wacholderbeeren, den Faltenwurf ihres Schleiers und die Wolkenberge; und wenn er sich zu ihr neigte, vermischte sich der frische Duft ihrer Haut mit der freien Waldluft.“ (397) Frederic scheint ein wirkliches Glück mit Rosanette empfinden, „er entdeckte an ihr eine ganz neue Schönheit, die vielleicht nur der Widerschein der Dinge ringsum war, wenn nicht gar deren heimliche Wirkung sie aufblühen ließ.“ (399) Manchmal vernahmen sie ganz entfernt Trommelwirbel von dem Generalmarsch, zu dem man in den Dörfern auf rief um Paris zu verteidigen. Frederic hat dafür nur Verachtung übrig, „neben ihrer Liebe und der ewigen Natur kam ihm der ganze Aufruhr erbärmlich vor.“ Doch das Glück dauert nicht lange, er liest in der Verletztenliste des Aufstands (gemeint ist der Juni-Aufstand, als das Proletariat von Paris zu den Waffen greift), den Namen seines Freundes Dussardier, er macht sich Vorwürfe, dass er nicht bei den anderen war. „Seine Liebe lastete plötzlich auf ihm wie ein Verbrechen“ und trotz des Widerstands Rosanettes bricht er nach Paris auf. Wie Flaubert dann die Auswirkungen des Juni-Aufstands des Pariser Proletariats, das Leiden der Besiegten, die Brutalität der Sieger in einzelne Impressionen schildert, das hat etwas Erschütterndes. Es ertönt der Ruf „Wache! Habt acht! und dieser mitten in die Stille gebrüllte Schrei hallte wie der Aufprall eines Steines, der in einen Abgrund fällt.“ Oder: „Rollende Kanonen verursachten in der Ferne auf dem Pflaster ein furchtbares dumpfes Grollen; das Herz zog sich einem zusammen bei diesem Geräusch, das so anders war als alle übrigen.“(406) Geradezu emblematisch folgende Szene. „An einem offenen Fenster stand ein Greis in Hemdsärmeln und weinte mit erhobenen Augen. Die Seine floß friedlich dahin. Der Himmel war ganz blau; in den Bäumen der Tuilerien sangen die Vögel.“ (407) Die Auswirkung dieser in ihrer Knappheit ungeheuren Szene ist bis hin zu Kafkas Schlusssätzen in Der Prozeß[4] und Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen zu beobachten, wenn er in der XV. These die gleichzeitigen Schüsse auf die Turmuhren im Paris der Juli-Revolution erwähnt. Flauberts Einfühlung in die Unterlegenen findet ihren Höhepunkt in der Schilderung der zusammen gepferchten 900 Gefangenen in den Tuilerien. Man bekommt die kalte Wut, wenn man das liest, man möchte eingreifen angesichts der Brutalität, mit der die Nationalgardisten „ihre Bajonette aufs Geratewohl in den Haufen der an den Gittern rüttelnden Gefangenen stießen.“ Der Erzähler ist als unparteiischer Chronist aber doch in der jeweiligen Situation parteiisch mit den Unterlegenen, kritisiert scharf die Strafjustiz der Sieger. „Es war eine Welle von Angst. Man rächte sich an Zeitungen, Klubs, Menschenaufläufen und Doktrinen zugleich, an allem , was seit drei Monaten Anlaß zur Empörung gegeben hatte; und trotz des Sieges triumphierte die Gleichheit, eine Gleichheit viehischer Bestien, ein und dieselbe Ebene blutiger Schandtaten; denn der Fanatismus der Interessen war das Gegengewicht zum Delirium der Not, die Aristokratie raste wie der Pöbel, und die Stoffkappe zeigte sich nicht weniger gemein als die rote Mütze.“ (410) Man vergleiche diese Schilderung mit der von Karl Marx in seiner fulminanten Abrechnung mit Louis Napoleon Bonaparte in Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. (Frankfurt/M. 1965) Auf die Erklärung der konstituierenden Nationalversammlung, die nur die Herrschaft der Bourgeoisie sichern wollte, „antwortet das Pariser Proletariat mit der Juni-Insurrektion, dem kolossalsten Ereignis der Geschichte der europäischen Bürgerkriege. Die bürgerliche Republik siegt. Auf ihrer Seite stand die Finanzaristokratie, die industriellen Bourgeoisie, der Mittelstand, die Kleinbürger, die Armee, das als Mobilgarde organisierte Lumpenproletariat .Auf der Seite des Pariser Proletariats stand niemand als es selbst. Über 3000 Insurgenten wurden niedergemetzelt, 15000 ohne Urteil transportiert. Mit dieser Niederlage tritt das Proletariat in den Hintergrund der politischen Bühne (…) Aber wenigstens erliegt es mit den Ehren des großen weltgeschichtlichen Kampfes, nicht nur Frankreich, ganz Europa zittert vor dem Juni-Erdbeben.“ (18f) Hier spricht mit verhaltener Empörung der kühle Analyst der Klassenkämpfe und der Theoretiker politischer Machtveränderungen, der postum Orden verteilt (erlegen „mit Ehren“) und Geschichtsschau auf höherer Warte betreibt, wie es sein berühmter Einleitungssatz bereits verraten hatte: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine mal als große Tragödie, das andere mal als lumpige Farce.“ Diese will er schildern und dabei seine theoretischen Kenntnisse über die Klassenverhältnisse an geschichtlichen Ereignissen in Frankreich demonstrieren. Der kranke in Paris lebende Heinrich Heine hingegen ist angesichts des Juni-Aufstands konsterniert und verstummt. „Ueber die Zeitereignisse sage ich nichts, das ist Universalanarchie, Weltkuddelmuddel, sichtbar gewordener Gotteswahnsinn! Der Alte muß eingesperrt werden, wenn das so weitergeht“, schreibt er an Julius Campe am 9.7.1848.[5] Allein Flaubert gelingt es, mit schriftstellerischer Kraft das Ungeheure in Worte zu fassen und als blutgetränkte Impression der Nachwelt weiterzugeben. Scheiternde Liebe und misslingende Revolution, Tragödie und Farce in einem, das Banale der Amouren und das Erhabene der politischen Niederlage. Großartig sind Flauberts impressionistisch-poetischen und zugleich detailgenauen Szenen, in denen das gesellschaftliche Leben wie in einem Brennglas eingefangen erscheint. So der Tod und die Beerdigung Monsieur Dambreuses, des Finanz-Kapitalisten. Obwohl die Reaktion siegte, hatten ihn die revolutionären Ereignisse furchtbar aufgeregt, er erkrankt und stirbt ziemlich schnell, was Flaubert teilnahmslos schildert. Der Beerdigungsgottesdienst („Frederic lauschte dem Dies Irae, um sich zu zerstreuen“), die Fahrt zum Friedhof Pere Lachaise, die Gespräche der Trauergesellschaft („alle nutzten die Gelegenheit gegen den Sozialismus zu wettern, als dessen Opfer Monsieur Dambreuse gestorben war“), die Schilderung der Gräber, Säulen, Tempel und Grüfte auf dem Friedhof sind von einer ernüchternden Distanziertheit. Großartig auch die Szene mit der Versammlung der Kutschen der besseren Gesellschaft auf den Champs Elysees, die alle zum Pferde-Rennen fahren, zu dem auch Frederic und Rosanette wolle. Es kommt zu einem Stau während die Wagen in dichten Ketten in mehreren Reihen nebeneinander stehen, schildert Flaubert das Verhalten der Passagiere in ihren Blicken Gleichgültigkeit, Neid, Verachtung, Bewunderung. „Dann setzte sich alles wieder in Bewegung, die Kruppen und feuchten Geschirre dampften in dem von der untergehenden Sonne gebrochenen Dunst. Als sie durch den Arc de Triomphe fuhren, verbreitete sie in Mannshöhe einen langen rötlichen Schein, der Radnaben, Türgriffe, Deichselspitzen und Geschirrringe aufblinken ließ; und zu beiden Seiten der großen Avenue gleich einem Fluß, wo Mähnen, Kleider und Menschenhäupter wogten - erhoben sich regennaß die glitzernden Bäume wie zwei grüne Wände. Darüber glänzte, matt wie Atlas, an einzelnen Stellen wieder das Blau des Himmels.“ (256) Mir scheint, dass die wiederholte Erwähnung des Himmelblaus, bei der ersten Begegnung mit Madame Arnoux im Wald von Fontainebleau und an anderen Stellen, mehr als ein formales impressionistisches Detail ist; man könnte darin auch einen Rest von Hoffnung in Zeiten der Desillusionierung sehen. Das ständige Vergehen der Zeit wird dem Leser durch die Technik des Überspringens, die Lücken in der Romanhandlung lässt, bewusst gemacht. Die Zeit vergeht, die 20 Jahre der erzählten Zeit scheinen wie im Fluge zu verstreichen, aber es entsteht kein großer Fortschritt in der Entwicklung Frederics. Seine Liebe für Madame Arnoux bleibt bestehen - trotz der Liaison mit Rosanette, trotz des gemeinsamen Kindes (das bald stirbt) und schließlich sogar trotz der Affäre zu Madame Dambreuse, die seine Geliebte wird und die ihn nach dem Tod ihres Mannes sogar heiraten will. Immer wieder ist er bereitet, seine finanzielle Sicherheit für den in wirtschaftliche Not geratenen Arnoux und seine Familie zu opfern. Bei seinem letzten Versuch den Bankrott zu verhindern, kommt er aber zu spät, die Arnoux‘s haben sich aus dem Staube gemacht. Die Revolution scheitert endgültig, die Restauration siegt, zusammengefasst in einer elegischen Bemerkung Dussardiers: „Jetzt bringen sie sie um, unsere Republik, wie sie die andere umgebracht haben, die römische! und das arme Venedig, das arme Polen, das arme Ungarn. Was für Greuel!“ (481) Frederic nimmt an den öffentlichen Ereignissen nicht mehr teil, denn erdachte nur noch an sich, „verloren in den Trümmern seiner Träume, krank, elend und entmutigt.“ (502) Er sehnt sich nach der Provinz und der, wie er hofft, immer noch auf ihn wartenden Jugendfreundin Louise. Als er enttäuscht zurückkommt (sie hat Deslauriers geheiratet), bricht der Aufstand endgültig zusammen. Dussardier wird erschossen. Es kommt 1851, der Staatstreich von Louis Napoleon und das 2. Kaiserreich, was der Erzähler aber nicht mehr erwähnt. Die Liebenden treffen sich erst nach 20 Jahren wieder, es ist Ende März 1867. Sie führen ein melancholisches Gespräch über ihre vergangene Beziehung. „Nun ja, wir haben uns eben sehr geliebt. Doch ohne uns anzugehören! - Das ist vielleicht besser so, erwiderte sie.“ Noch einmal gesteht sie ihm die Entdeckung seiner Liebe. Und Frederic empfindet dies Geständnis als Vergeltung für seine Leiden von einst. Er kniet vor ihr nieder und sagt ihr schönste Zärtlichkeiten. „Mit Verzückung genoß sie die Anbetung einer Frau, die sie nicht mehr war.“ (509) Sie umarmen sich und stoßen sich doch zurück. „Ich hätte Sie gerne glücklich gemacht“, sagt Madame Arnoux. Frederic aber ergreift ein Widerwillen gegen sein eigenes Begehren, „so etwas wie das Entsetzen vor einem Inzest.“ (510) Wie eine Mutter küsst sie ihn auf die Stirn und geht. Es folgt die bereits erwähnte resignative Schlussszene. Die Negativität des Helden, dessen Leben weder eine „Schule der Empfindsamkeit“(so der Titel der ersten Übersetzung 1904) noch eine „Erziehung des Herzens“ (Übersetzung von Rheinhardt 1926) war, ist die Folie, vor der der Zeitroman, der seine Zeit in exemplarischen Ereignissen schildert, sich eindrücklich abheben kann. Als Zeitroman sucht Erziehung der Gefühle seinesgleichen. Und vielleicht muss man älter geworden sein, selber politische Zeiten erlebt (60er, 70er und 80er Jahre), vergangene Zeiten des 19. Jahrhunderts besser verstanden haben, um diesen Roman richtig würdigen zu können. Zum Schluss gestehe ich, wie die Lektüre die Erinnerung an eigene ein wenig denen des Romanhelden vergleichbare Erlebnisse hervorgerufen hat. Es war zur Zeit der Studentenunruhen. Obwohl selber schon Assistent an der Ruhr Universität Bochum, war ich doch von dem studentischen Aktionismus ergriffen. Kurz vor Ostern 1968 war ich mit meiner Verlobten in Hamburg, die Eltern zu besuchen. Ich hörte von der Belagerung des Springer-Hauses, ging alleine dorthin, Rufe ertönten „Enteignet Springer“. Doch als die Situation sich zuspitzte, Barrikaden wurden aufgebaut, Steine geworfen, ging ich nach Hause, um in den Armen meiner Verlobten die Nacht zu verbringen. Denn nach Zeiten langer sexueller Abstinenz als Theologiestudent konnte ich mit ihr endlich die Freuden der sinnlichen Liebe genießen. Ich hatte mich also nicht besser als Frederic verhalten, dessen Liebesverwirrungen immer die Priorität vor dem politischen Handeln hatten. Am Osterdienstag hielt ich dann auf einer Demonstration zu den Osterunruhen eine kernige Rede auf dem Husemannplatz in Bochum, in der ich die staatlichen Ordnungskräfte und den Springer-Verlag anklagte. Anmerkungen[1] Das klingt wie ein entfernter Reflex auf die Schändung der Prinzessin von Lamballe bei den Septemberunruhen 1792. [2] Man kann sie vergleichen mit der Szene „Königliche Jagd und Gewitter“ in Hector Berlioz ungefähr gleichzeitig komponierter großer Oper Les Troyens,die gerade an der Hamburger Staatsoper unter Kent Nagano Premiere feierte. [3] Und man meint, Flaubert hätte Eichendorffs „O Täler weit o Höhen, o schöner deutscher Wald, du meiner Lust und Wehen andächtger Aufenthalt“ gelesen, in dem vom „stillen ernsten Wort“ die Rede ist, das im Wald „geschrieben steht“ und von seines „Ernst‘s Gewalt“ [4] „Seine (Josef K.s)Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn dort in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es?“(Franz Kafka,Der Prozess,1956,194) [5] Zit. Chr. Liedtke, Heinrich Heine,Reinbek,2006,153. An seine Mutter hatte er kurz vorher geschrieben.“Da wieder in Paris ein großes Blutbad angerichtet worden ist, so bist du gewiß meinetwegen in Sorgen, und ich eile daher Dir zu melden, daß wir hier in großer Sicherheit die drey schrecklichen Tage verlebt und ich auch vor der Hand in behaglichster Ruhe das Ende der Dinge abwarte.“(H.Heine, „…und grüßen Sie mir die Welt.“ Ein Leben in Briefen, Hamburg 2005,369) |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/98/hjb43.htm |