Warum die Kultur für die Kirche wichtig ist

Über Wiederentdeckungen der Kultur im Protestantismus

Jörg Herrmann

1. Die Wiederentdeckung der Kultur in Theologie und Kirche

So ungefähr seit der Jahrtausendwende findet das Kulturthema auf fast allen Ebenen der evangelischen Kirche eine zunehmende Aufmerksamkeit. Neben der kirchenmusikalischen Arbeit, die ja immer schon eine zentrale Stellung in den Gemeinden hatte, findet man zunehmend auch kulturdialogische Angebote zu Literatur, Film, Theater, Kunst und Kunstgeschichte in den Gemeinden, auf der Kirchenkreisebene und bei verschiedenen übergemeindlichen Diensten und Werken. Beispiel Hamburg: Die Kulturkirche Altona inszeniert Kulturdialoge und vermietet an Kulturveranstalter, die Evangelische Akademie veranstaltet Filmreihen und Filmgespräche in Kooperation mit der Katholischen Akademie Hamburg und dem Abaton-Kino, in der Kunsthalle finden interreligiöse Kunstdialoge statt, ein Gemeindepastor in Hamburg-Lokstedt hat einen Evangelischen Literaturpreis für Kurzgeschichten ins Leben gerufen, die Christianskirche in Hamburg-Ottensen ist zu einem der wichtigsten Aufführungsorte für Neue Musik in Hamburg geworden, die Hauptkirche St. Katharinen kooperiert mit dem Harbourfront Literaturvestival, die Gemeindeakademie Blankenese kümmert sich kontinuierlich um das Thema Bildung und der Kirchenkreis Hamburg-Ost unterhält ein Kunsthaus, das u.a. in Zusammenarbeit mit der Hauptkirche St. Jacobi regelmäßig Ausstellungen realisiert. Ein ähnlicher Trend lässt sich im Überregionalen z.B. im Bereich der Evangelischen Akademien vermerken – man vergleiche einmal Programme aus den 70ern mit aktuellen Programmen!

Manchmal könnte man zwar meinen, die Kirche könnte auch wieder etwas mehr gesellschaftspolitisches Engagement à la 1968 vertragen, aber nun sind viele erst einmal sehr froh darüber, dass die lange im Zuge der Wort-Gottes-Theologie vernachlässigte Kulturthematik stärkere und angemessenere Beachtung auf vielen Ebenen der kirchlichen Arbeit findet. Das ist vermutlich nicht zuletzt mit ein Verdienst der Theologie als Wissenschaft, insbesondere der Praktischen Theologie, in deren Kontext seit Anfang der 1990er Jahre eine „empirisch-kultur­her­me­neu­tische Erweiterung“ propagiert wird, das heißt, dass man sich  verstärkt für die gelebte Religion der Menschen und die religiöse Dimension der Kultur interessiert.[1] Die Theologie steht übrigens mit diesem Interesse ganz und gar nicht alleine da, sondern findet sich im Kontext eines cultural turn vor, der im gesamten Feld der Geisteswissenschaften zu beobachten ist und mit dem eine neue Wahrnehmung der sinnstiftenden und handlungsorientierenden Bedeutung von Kultur einhergeht.

Deutlich zeichnet sich die neue Aufmerksamkeit für das Kulturthema auch auf der Ebene der EKD ab, die 2002 gemeinsam mit der Vereinigung Evangelischer Freikirchen die Denkschrift „Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive“ veröffentlichte, eine Einladung, „Räume zu gestalten, in denen Religion und Kultur mit einander ins Gespräch kommen“.[2]  Um dieses Gespräch systematisch und kontinuierlich zu fördern, richtete die EKD darüber hinaus ein Kulturbüro ein und berief 2006 mit Petra Bahr die erste Kulturbeauftragte der EKD mit Sitz in Berlin. Petra Bahr hat sich offensiv am öffentlichen Kulturdiskurs der Republik beteiligt (auch wenn man über ihre Positionierungen sicher streiten kann) und im Herbst 2011 zu einem ersten Kirchen-Kultur-Kongress nach Berlin eingeladen.[3] Nach zwei Amtszeiten hat sie im Herbst 2014 andere Aufgaben übernommen, ihr designierter Nachfolger ist der Hamburger Theologe Johann Hinrich Claussen.

Summa summarum: Von der Gemeindeebene über die übergemeindlichen Dienste bis in die EKD und die theologische Wissenschaft hinein findet die Kulturthematik eine neue Aufmerksamkeit.

Vor diesem Hintergrund waren die kirchlichen Kulturarbeiter_innen natürlich sehr erfreut darüber, dass der Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ (2008)[4] so deutlich aufzeigte, wie bedeutsam das weit gefächerte, qualitätsvolle und dazu zumeist noch frei zugängliche oder jedenfalls erschwingliche kulturelle Angebot der beiden großen Kirchen für unsere kulturelle Infrastruktur ist und was uns im Land fehlen würde, wenn es, gerade in ländlichen Räumen, die kirchenmusikalischen Angebote, die Bibliotheken, die Kunst in den Kirchen und die Kirchengebäude selbst – um nur einen Ausschnitt zu nennen – nicht gäbe. Es wird u.a. festgestellt, dass die Kirchen „mit ihren Aufwendungen für Kultur im Vergleich der öffentlichen Ebenen gleichauf mit den Kommunen und Ländern“ liegen.[5] Es wird hervorgehoben, dass die Einbeziehung des Ehrenamtes und die Förderung der Jugend (hier ist vor allem an die Musikangebote zu denken!) besondere Charakteristika des kirchlichen Engagements seien, das als „öffentlich-nichtstaatlich“ eingeordnet wird. Angemahnt wird die Notwendigkeit der staatlichen Mithilfe und gerade nicht des Rückzuges bei der Pflege der vielen Baudenkmäler und historischen Orgeln in kirchlichem Besitz. Hier sind die Länder gefordert. Insgesamt betont der Bericht das hohe Eigeninteresse des Staates an der Fortsetzung der kirchlichen Kulturarbeit im Interesse des Gemeinwohls.

Summa summarum: Die Bedeutung der kulturellen Dimension kirchlicher Arbeit ist in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts auf verschiedenen Ebenen innerhalb der Kirche wieder neu entdeckt worden und findet auch von staatlicher Seite Wertschätzung und Anerkennung. Kulturprotestanten starten also mit Rückenwind ins 21. Jahrhundert, jedenfalls in religionskulturpraktischer Hinsicht und wenn man vom beklagenswerten Rückbau wichtiger regionaler Strukturen absieht (ich denke z.B. an die Kunstdienste in den Landeskirchen). Wie aber steht es um die Kulturtheologie? Profitiert sie von der Renaissance des Kulturbegriffs in den Sozial- und Kulturwissenschaften?

2. Die Renaissance des Kulturbegriffs

Wer systematisch darüber nachdenken will, was die Auseinandersetzung mit Kultur für das theologische Denken bedeutet und austrägt, kommt an einer Klärung des Kulturbegriffs m.E. nicht vorbei. Ausgehen lässt sich dabei von einer nach wie vor gültigen grundlegenden Formulierung Paul Tillichs. Sie lautet: „Kultur ist das, was der menschliche Geist über das Gegebene hinaus schafft. (...) Das heißt, Kultur umschließt das gesamte geistige Leben des Menschen, und nichts kann davon ausgeschlossen sein, (...) auch nicht Religion.”[6]

Tillichs Formulierung stammt aus den 1950er Jahren.[7] Damals war er einer der wenigen Theologen, die sich überhaupt für Kulturtheorie interessierten. Die Schlüsselstellung des Kulturbegriffs in den aktuellen vor allem praktisch-theologischen Diskursen verdankt sich nicht zuletzt einem cultural turn, der in den späten 60er und frühen 70er Jahren seinen Anfang nahm.[8] Seitdem sind kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Perspektiven vor allem in der sozialwissenschaftlich orientierten angelsächsischen Wissenschaftskultur auf dem Vormarsch, so dass heute von einem cultural turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften die Rede ist.[9] Konzeptioneller Kern dieses Wandels ist die Entdeckung der handlungskonstitutiven Bedeutung kultureller Sinnmuster oder symbolischer Ordnungen.[10]

Zum realhistorischen Kontext dieser Entwicklung gehört die Transformation der Industriegesellschaft in eine nachindustrielle Gesellschaft, in der die Produktion und Konsumption von symbolischen Gütern – vorzugsweise Medien – erheblich an Bedeutung gewonnen hat, dazu gehört weiterhin die Pluralisierung der kulturellen Kontexte und das damit einhergehende gesteigerte Kontingenzbewusstsein im Blick auf die Gültigkeit von Sinnsystemen. Innertheoretischer und gesellschaftlicher Wandel arbeiten also Hand in Hand.

Ernst Cassirers Charakterisierung des Menschen als animal symbolicum hat sich vor dem Hintergrund dieser Theorieentwicklung einmal mehr als treffend erwiesen.[11] Auch darüber hinaus bilden Grundorientierungen seiner Kulturphilosophie nach wie vor das Fundament heutiger Kulturtheorien, dazu gehört nicht zuletzt die zentrale Stellung des Sinnbegriffes. Konzeptionalisiert Cassirer das Subjekt als symbolisierende und damit sinnzuschreibende Instanz, so hat sich in der weiteren Entwicklung der Kulturtheorien ein Antagonismus zwischen strukturalistischen und interpretativen Theorien herausgebildet, zwischen solchen Optionen, die die Sinnkonstruktion wie Cassirer als subjektive Interpretationsleistung fassen, und solchen, die sie als das Ergebnis übersubjektiver Strukturen beschreiben. Dieser Antagonismus ist, so die plausible These von Andreas Reckwitz, im Begriff, sich aufzulösen: der strukturalistische Diskurs integriert Elemente der interpretativen, subjektzentrierten Strömung und der interpretative Theoriestrang umgekehrt Elemente der strukturalistischen Sichtweise – er lässt sich somit auf eine Dezentrierung des von ihm so hoch geschätzten Subjekts (das ist etwas anderes als der Tod des Subjekts!) ein, die sich schon bei Alfred Schütz als Wendung zur Lebenswelt andeutet.[12] Beide Bewegungen übernehmen also Stärken der jeweils anderen Seite und stellen zunehmend das Konzept der Praktiken in den Mittelpunkt.[13] Die dabei schrittweise emergierende praxistheoretische Orientierung ist daran interessiert, den Dualismus von Innen und Außen, von Körper und Geist, von Subjekt und Objekt aufzulösen und diejenigen Prozesse zum Gegenstand der Kulturanalyse zu machen, in denen Kultur konkret realisiert wird: die körperlichen Praktiken sinnverstehender Akteure.[14]

Vor dem Hintergrund dieser Theorieentwicklung geht der Trend in den Kulturwissenschaften schon seit einiger Zeit eindeutig dahin, die konkret gelebte Kultur im Modus ihrer Aufführung zu beobachten und zu analysieren.[15] Dabei geht es immer auch um das Verhältnis von Textualität und Performativität. Kulturhermeneutik als Werkhermeneutik bleibt also im Blick. Die Gewichte haben sich jedoch verschoben: die kulturelle Praxis hat mehr Beachtung gefunden. Beide Orientierungen, sowohl die zentrale Stellung des Kulturbegriffes als auch das Interesse an der Analyse konkreter Praxis, finden sich nun auch in der Praktischen Theologie.[16] Die kulturwissenschaftliche Akzentuierung kommt vielleicht am deutlichsten in den Arbeiten Wilhelm Gräbs zum Ausdruck. Er konzipiert die Praktische Theologie dezidiert als „Hermeneutik der gelebten Religion“ und ihrer „kulturellen Ausdrucksgestalten“.[17] Praktische Theologie ist für Gräb „kulturhermeneutisch verfahrende Religionstheologie“.[18] Kulturtheoretisch referiert Gräb dabei auf einen semiotischen Kulturbegriff, wie ihn Clifford Geertz im Anschluss an Ernst Cassirer, Max Weber und Susanne Langer ausgearbeitet hat.[19] So kann Gräb formulieren: „Kultur ist die von Menschen geschaffene, sinnbestimmt gestaltete und in ihren Sinnbestimmungen bzw. Symbolen erschlossene und bezeichnete Welt.“[20]

Zusammenfassend lässt sich sagen: Kultur ist das Korrelat der Unbestimmtheit des „Mängelwesens” (Arnold Gehlen) Mensch. Der Mensch steht somit zum einen unter dem Zwang, sich kulturelle Orientierungssysteme schaffen bzw. anzueignen zu müssen. Kultur ist so gesehen notwendig. Der Mensch ist andererseits als Kulturschaffender zugleich frei. Kultur ist darum von Friedrich Wilhelm Graf und Klaus Tanner treffend als „Gestaltungsraum menschlicher Freiheit” beschrieben worden.[21] Im Prozess der Kultur geht es darum um nichts weniger als um die Menschwerdung des Menschen.

3. Kulturtheologie heute

Paul Tillich hat die Fragestellung der methodischen Verhältnisbestimmung von Kultur und Theologie mit seiner „Methode der Korrelation” aufgegriffen.[22] In ihr sind Theologie und Kultur nach dem Schema von „existentiellen Fragen und theologischen Antworten” aufeinander bezogen.[23] Dieses einseitige und hierarchische Modell berücksichtigt m.E. zu wenig, dass auch kulturelle Deutungen existenzielle Sinnfragen beantworten.[24] Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis ist Tillichs Modell im Sinne einer dialogischen Beziehung zwischen Theologie und Kultur abzuwandeln. In diesem Modell sind in beiden Bereichen Fragen und Antworten vorhanden, die aufeinander bezogen werden können.

Immer noch plausible Anregungen für die konzeptionelle Ausgestaltung des Vermittlungsmodells finden sich in Tillichs frühem Aufsatz „Über die Idee einer Theologie der Kultur” von 1919.[25] Darin versteht Tillich die Theologie als normative Kulturwissenschaft. Als Vermittlungsbegriff zwischen Theologie und Kultur etabliert er den Begriff der Religion. Weiterhin unterscheidet er zwischen dem „Kirchentheologen” und dem „Kulturtheologen”. Aufgabe des Kulturtheologen sei es, die religiöse Substanz der Kultur herauszuarbeiten.

Beide Aspekte, sowohl die zentrale Stellung des Religionsbegriffes wie auch die Unterscheidung von mehr innenorientierter und mehr außenorientierter theologischer Arbeit, sind nach wie vor aktuell. Die Schlüsselstellung des Religionsbegriffs verweist dabei auch auf einen zentralen Ausgangspunkt gegenwärtiger Kulturtheologie.

Heutige Kulturtheologie findet sich vor allem im Umkreis der Praktischen Theologie und ihrer schon erwähnten „empirisch-hermeneutischen Wende”.[26] Im Zuge dieser Orientierung hat sich die Praktische Theologie zunehmend für die heute gelebte Religion interessiert und sich darum auch dem Phänomen der Religion außerhalb der Institution Kirche zugewandt.[27] Seither beteiligt sich die Praktische Theologie „selbst daran, das Phänomen der Religion in seiner expliziten und oft auch impliziten - also hermeneutisch erst zu erschließenden - Vielfalt verstehen zu lernen”.[28] Im Verlauf dieser Entwicklung hat sich die Praktische Theologie immer mehr als eigenständige Disziplin definiert, die an der Schnittstelle von Theorie und Praxis operiert und eine Dialogfunktion hat, die nicht darin aufgeht, Theoriekonzepte der Systematik oder der biblischen Fächer im Blick auf kirchliche Praxisfelder umzusetzen, sondern vor allem auch darin besteht, einen produktiven Austausch zwischen Gegenwartskultur und Religionskultur zu ermöglichen. Es hat also eine „kulturhermeneutische Neubestimmung und Erweiterung der Praktischen Theologie” stattgefunden.[29] Ihr besonderes Anliegen ist der Aufbau einer „religiösen Gegenwartskunde“.[30] Im Zentrum einer sich so verstehenden Praktischen Theologie steht ein funktionaler Religionsbegriff, der dabei hilft, die religiösen Dimensionen der Gegenwartskultur hermeneutisch zu erschließen, die gelebte Religion, die sich in kulturellen Gestaltungen artikuliert. Kulturtheologie bringt die religiösen Sinnhorizonte der Gegenwartskultur mit den Sinnhorizonten der Tradition ins Gespräch. Dadurch kann wechselseitige Erschließung und Erhellung geschehen, wechselseitige Kritik und Herausforderung. Ohne dieses Gespräch würde sich die kirchliche Religionskultur immer mehr in einer Sonderwelt abkapseln, die nur noch Eingeweihten verständlich ist. Ohne diesen Dialog würde aber auch die religiöse Dimension der Gegenwartskultur unerkannt und verdeckt bleiben.

Daneben und darüber hinaus artikuliert die Kultur generell Gegenwartserfahrungen. Erfahrungen, die in ihrer jeweiligen individuellen Konkretion neu sind. Auch darum ist Kulturtheologie notwendig: Um die Gegenwart zu verstehen. Auch darum sollten TheologInnen sich mit Kultur befassen. Denn Kultur ist Ausdruck von Gegenwartserfahrung. Sie spiegelt die Realitäten und Probleme, die Träume und Alpträume und nicht zuletzt die gelebte Religion der Gesellschaft.

Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Skizze wollen die folgenden Hinweise auf die Evidenz und Vielfalt kulturtheologischer Anknüpfungspunkte im Kino und in der bildenden Kunst aufmerksam machen.

5. Beispiele
5.1. Beispiel Kino

Filme setzen sich wie religiöse Symbolisierungen mit existenziellen Lebensfragen auseinander und geben Antworten auf Sinnfragen – auch ohne, dass sie religiöse Traditionen und Motive aufgreifen. Auf der Basis eines weiten funktionalen Begriffes von Religion kann man im Blick auf solche Filme von der unsichtbaren Religion des Kinos sprechen. Filme, die sich selbst nicht als religiös verstehen, lassen sich in der Perspektive einer funktionalen Religionsbestimmung religiös lesen, sie haben wichtige Funktionen im Bereich narrativer Lebensdeutung übernommen, die in früheren Zeiten in weitaus stärkerem Maße von den Narrationen der kirchlichen Religionskultur erfüllt wurden. Die unsichtbare Religion des Kinos kommt dabei weithin ohne Gott aus. An seine Stelle sind andere Sinnquellen getreten: die Liebe etwa oder das Ideal des authentischen Lebens. Oft finden sich in diesen Filmen, die sich mit der Sinn- und Kontingenzproblematik auseinandersetzen, mit der Fragestellung also, die in der religionstheoretischen Diskussion als das zentrale Bezugsproblem der Religion gilt, jedoch noch Spuren der religiösen Traditionen. Die implizite Religion im Sinne funktionaler Äquivalenz steht im Vordergrund, Reste der Tradition zeugen jedoch wie ein Nachhall noch von explizit religiösen Bearbeitungen der jeweiligen Problemstellungen.

Ein gutes Beispiel ist der seit „Avatar“ (2009) nun weltweit zweiterfolgreichste Film „Titanic“ (1997), der von einer Liebe erzählt, die stärker ist als der Tod, und in dem an einer Schlüsselstelle der Konfrontation mit Ereignissen sinnverwirrender Kontingenz aus der Offenbarung des Johannes zitiert wird. Das filmische Evangelium der Liebe führt Elemente der christlichen Tradition mit sich und baut sie an geeigneter Stelle in die eigene Dramaturgie ein.

Eine Zeit lang sah es so aus, als müsste sich die theologische Filmanalyse in Zukunft vor allem mit der unsichtbaren Religion des Kinos befassen. Bis auf Ausnahmen schien sich das westliche Kino für religiöse Themen und Motive immer weniger zu interessieren. Seit einiger Zeit lässt sich jedoch ein Gegentrend beobachten. Religiöse Motive sind zu Beginn des 3. Jahrtausends wieder präsenter geworden.

Ich denke dabei u.a. an Lars von Triers umstrittenen Film „Antichrist“ (2009), an Michael Hanekes „Das weiße Band“, ebenfalls aus dem Jahr 2009, wie auch Jessica Hausners Wundergeschichte „Lourdes“, das Endzeitdrama „The Road“, die Hiob-Geschichte „A Serious Man“ der Coen-Brüder und James Camerons Blockbuster „Avatar – Aufbruch nach Pandora“, mit dem er seinen eigenen 1997er Kassenschlager „Titanic“ auf den zweiten Platz der weltweit an der Kinokasse erfolgreichsten Filme verwiesen hat.

2010 folgten dann der schöne Dokumentarfilm „Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen“ über das Mit- und Gegeneinander der christlichen Konfessionen in der Jerusalemer Grabeskirche, Susanne Biers „In einer besseren Welt“ und Xavier Beauvois „Von Göttern und Menschen“, der die wahre Geschichte einer 1996 von Islamisten ermordeten Gruppe von Mönchen in einem Trappistenkloster in Algerien als Spielfilm nacherzählt. 2011 ist Terrence Malicks „The Tree of Life“ hinzugekommen, der den Hauptpreis der Festspiele in Cannes erhalten hat. Aber auch Lars von Triers „Melancholia“ (2011) und Ang Lees „Life of Pi. Schiffbruch mit Tiger“ (2012) sind Schwergewichte, die religiöse Motive aufgreifen und verarbeiten. Und natürlich sind in den letzten Jahren auch weiterhin Filme entstanden und in diesem Zusammenhang zu nennen, die zwar keine Spuren expliziter Religion aufweisen, sich aber mit existenziellen Lebensfragen auseinandersetzen und darum in einem weiten Sinne auch religiöse Themen verhandeln. Ich denke etwa an Andreas Dresens „Halt auf freier Strecke“ (2012), Aki Kaurismäkis „Le Havre“ (2011) und Michael Hanekes „Liebe“ (2012). Auf je ihre Weise verkünden diese Filme ein Evangelium der Liebe, repräsentieren Aspekte einer unsichtbaren Religion des Kinos: „Le Havre“, indem der Film erzählt, wie der Schuhputzer Marcel Marx dem Flüchtlingsjungen Idrissa begegnet, ihn versteckt und zu seinem Fluchthelfer wird. „Halt auf freier Strecke“ zeigt, wie eine Familie es schafft, den an einem Hirntumor sterbenden Vater nicht allein zu lassen. Ebenfalls von Liebe und Tod handelt Hanekes „Liebe“, in dem ein Ehemann zum Sterbehelfer seiner Frau wird. Weitere Beispiele: „Esmas Geheimnis“ (2006), der zeigt, wie die Liebe zwischen einer Mutter und einer Tochter ein Trauma überwinden kann. Oder auch „Gran Torino“ (2008), der davon erzählt, dass nur durch ein Selbstopfer aus Liebe der Ausstieg aus der Eskalation der Gewalt gelingt. Und aktueller: „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ (2013), ein Film über die Würde der Toten und ihre Bedeutung für die Lebenden und „Das Salz der Erde“ (2014), Wim Wenders eindrucksvolles Portrait des brasilianischen Fotografen Sebastiao Salgado, dessen Künstlerbiographie sich zugleich als eine Art Passionsgeschichte darstellt, in der Spuren einer schwachen messianischen Kraft aufleuchten.

Doch auch religiöse Motive finden sich, wie gesagt, wieder häufiger. Selbst der monumentale Bibelfilm erlebt mit „Noah“ (2014), „Exodus“ (2014) und „Last Days in the Desert“ (2015) ein Comeback. Im Arthousebereich ist Terrence Malicks „The Tree of Life“ zu nennen, ein Film, der das Thema Schöpfung in einer so noch nicht gesehenen Weise aufgreift und sich zugleich an der Frage Hiobs abarbeitet. Seine Antwort, wenn man denn davon überhaupt sprechen kann, ist die Erfahrung von Schönheit, im Übrigen ein im Protestantismus vernachlässigtes Thema. Sehr überzeugend wird diese Thematik auch in dem schon etwas älteren „American Beauty“ (1999) aufgegriffen. Darin findet der in Konventionen erstarrte Lester Burnham zu einem anderen Blick auf das Leben, zu einer mystischen Religion der Schönheit. Inspiriert wird er dazu von Ricky, dem Freund seiner Tochter, der immer eine digitale Kamera dabei hat, um die Augenblicke der Erscheinung des Schönen festzuhalten.

Und zu guter Letzt: Das Kino hilft, die eigene Gegenwart zu verstehen. Ich denke dabei zum Beispiel an einen Film wie „Matrix“ (1999), der von kultureller und religiöser Hybridität handelt, an „Walk with Bashir“ (2008), der zeigt, was ein junger israelischer Soldat erlebt, der mit 19 Jahren in den Krieg gegen den Libanon ziehen muss. Unterschiedlich Perspektiven und Einblicke in Fragen des Naturverhältnisses gaben mir der Dokumentarfilm „More than Honey“ (2012) über das Aussterben der Bienen und James Camerons „Avatar – Aufbruch nach Pandora“, der instrumentelle und mimetische Naturverhältnisse kontrastiert. Die Gegenwart ist immer auch das Produkt von Vergangenheit. Ein Schlaglicht auf diese, mit Bildern, die sich wie „grelle Blitze“ (so 1987 die Jury der Evangelischen Filmarbeit) ins Gedächtnis einbrennen, wirft Elem Klimovs „Komm und sieh“ (1985), der von einem Jungen handelt, der sich den Partisanen anschließt, die im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen kämpfen.

Ich habe versucht anzudeuten, dass ich vielfältige Kontinuitäten, Schnittstellen und Übergänge zwischen der christlichen Tradition und der Filmkultur sehe. Die Arbeit an diesen Schnittstellen und damit der Dialog zwischen Filmkultur und Religionskultur ist nicht auf eine Synthese gerichtet. Es geht um eine offene Interpretationsarbeit. Fünf Perspektiven dieser Arbeit scheinen mir besonders relevant, Perspektiven, die in ähnlicher Weise auch auf andere Kulturbereiche übertragbar sind:

Der Dialog von Film und Religion liefert einen Beitrag zum Sinnorientierungsdiskurs, der sowohl für die Sinnarbeit der Individuen als auch für den öffentlichen Sinndiskurs von Bedeutung ist.

Inszenierungen des Dialogs von Film und Religion können dazu beitragen, Brücken zwischen Filmkultur und kirchlicher Religionskultur zu bauen und so zur wechselseitigen Erschließung von Filmkultur und Religionskultur beitragen. Filmdialoge machen die Kirche anschlussfähig.

Theologie und Kirche können durch die Filmanalyse etwas über die gelebte Religion der Gesellschaft erfahren. Denn Kinobilder sind immer Ausdruck von Gegenwartserfahrungen. Sie zeigen seismographisch, wie die Erfahrungen von letzter Bedeutung, wie also die gelebte Religion der Gesellschaft sich entwickelt.

Im Dialog mit dem Film ist die Kirche im Gespräch mit der Gegenwart.

Die Bildermaschine Kino kann heilsame ästhetische Irritationen theologischer Allgemeinbegriffe bewirken. Überhaupt kann das kritische Wechselgespräch zwischen Film und Religion (Religionskritik aus filmischer Perspektive und Filmkritik aus theologischer Perspektive) einen Beitrag zur Film- wie zur Religionskompetenz leisten.

Die theologische Filmanalyse kann die Filmwissenschaft bereichern, weil sie ein für die Erschließung von religionshaltigen Filmen relevantes Wissen einbringen kann.

5.2. Beispiel Kunst

Klar ist, dass wir es heute mit einer autonomen Kunst zu tun haben, die bei „Mutter Kirche“ ausgezogen ist und sich auch nicht wieder als Magd der Theologie in den Dienst nehmen lässt. Gefordert ist ein Dialog auf Augenhöhe. Im Rahmen eines solchen Dialogs können, ähnlich wie beim Film, religiöse Bezüge auch manchmal dort sichtbar werden, wo man sie auf den ersten Blick gar nicht vermutet. Ein klassisches Beispiel dafür ist die abstrakte Malerei des 20. Jahrhunderts. Sie hat auf den ersten Blick nichts mehr mit Religion zu tun, denn sie verarbeitet keine religiösen Motive. Auf den zweiten Blick entdeckt man jedoch auch hier Parallelen und Bezüge, vor allem zur Mystik.

Verschiedene Ausstellungen und Publikationen haben in den 1980er Jahren erstmals auf diese Nähe aufmerksam gemacht, vor allem die große Ausstellung „The Spiritual in Art: Abstract Painting 1890-1985“ 1986 in Los Angeles. Parallelen zur Mystik finden sich danach zum Beispiel bei Barnett Newman und Mark Rothko.[31]

Rothkos Bilder haben vor allem eine Nähe zum mystischen Motiv der Einheit, der Verschmelzung: der Unio mystica. Ebenfalls großformatig wie Newmans Werke arbeiten die Bilder Rothkos zumeist mit zwei Farben, die nahe beieinander liegen und ineinander übergehen. Der Betrachter wird in diese vagen Übergänge hineingezogen, in denen sich Abgrenzungen auflösen, Entgrenzungen stattfinden. Die religiöse Rezeption von Rothkos Bildern hat dazu geführt, dass private Sponsoren den Architekten Philip Johnson damit beauftragten, in Houston in Texas eine Kapelle für Rothkos Bilder zu errichten. Die 1971 erbaute Kapelle sollte ein Meditationsraum für Menschen verschiedener Religionen und Konfessionen sein. Es geht dabei um eine mystische Meditation ohne spezifische Ikonographie, ohne bestimmte Dogmen oder personale Gottesvorstellungen.

Auch für die Kunst gilt: Kunst und Religion miteinander ins Gespräch zu bringen, kann zur Erschließung beider Bereiche beitragen.

Im Blick auf die konkrete Praxis ist vieles denkbar. Das Spektrum reicht von Ausstellungen im Kirchenraum über Bezugnahmen auf alte und zeitgenössische Kunst im Religionsunterreicht und in der Predigt bis hin zu Kooperationen mit Museen und Bildungsreisen in die Welt der Kunst. Zu den Pionieren exponierterer Ausstellungstätigkeiten gehört im evangelischen Bereich der Pfarrer Paul Gräb, Vater des Praktischen Theologen Wilhelm Gräb, der schon in den sechziger Jahren begann, mit Kunst zu arbeiten, sie auszustellen und zugunsten eines Diakonieprojektes zu verkaufen. Später hat Horst Schwebel als Leiter des Marburger Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart sich als Kurator thematischer Ausstellungen z.B. zum Abendmahl einen Namen gemacht. Wichtig waren in jüngerer Zeit auch die über Jahre von Andreas Mertin kuratierten Parallelausstellungen der hessischen Kirche zur Documenta in der Kasseler Brüderkirche. In der Kunst lässt sich im Übrigen eine ähnliche Rückkehr religiöse Motive und Themen beobachten wie im Kino der letzten Jahre. Andreas Mertin hat die vielfältigen Bezugnahmen der Gegenwartskunst auf die christliche Religionskultur am Beispiel der documenta 13 aufgezeigt.[32]

Die Möglichkeiten von Kunst und Kultur, ihre Nähe zur Religion, aber auch die Differenzen beider Bereiche seien abschließend mit einem Zitat aus einem Gespräch mit dem Theologen und Künstler Thomas Lehnerer noch einmal vergegenwärtigt und verdeutlicht – die Filmkunst lässt sich dabei mitdenken. Lehnerer vertritt in diesem Interview die Überzeugung, „dass die Kirche kein Monopol auf die Religion hat, sondern die Kunst – auf ihre Weise, in ihrer Logik, in ihrer absoluten Freiheit – mit religiösen und existenziellen Problemen zu tun hat und diese zum Teil sinnfälliger und eindringlicher an den Menschen bringen kann, als es die Kirche tut. Die Kirche sehe ich als eine Organisation, in der bestimmte Aussagen und Bekenntnisse, die Betonung auf ‚bestimmte‘ festgeschrieben werden. Nur so kann sich eine kirchliche Gemeinschaft orientieren und jeweils ihre Spezifik haben. Die Kunst dagegen besteht gerade darin, alle möglichen und verschiedenen, eben nicht nur bestimmte, Überzeugungen in ihre Bilder und Werke hineinzunehmen. Man muss mit aller Radikalität sehen, dass Kunst und Kirche ganz verschiedenen Prinzipien und Methoden folgen. Auf der anderen Seite will ich durch meine Arbeit zeigen, dass beide das gleiche Thema haben können. Die Religion gehört der Kirche nicht, will sagen: die Religion gehört ‚auch‘ der Kunst. Themen wie Liebe, Tod, Leid, Leben, alles, was im Begriff des Homo pauper verborgen liegt, sind Fragen von so grundsätzlicher Natur, dass sie nicht in der Kirche allein behandelt werden können, sondern wieder Themen der Kunst werden müssen. Darin liegt mein Impetus. Man muss alle religiösen Fragen – und das sind die zutiefst existenziellen, menschlichen – in die Kunst einbeziehen. Ich nehme mir die Freiheit, diese Ideen durchzuspielen und mit ihnen zu spielen. Diese Freiheit hat die Kirche nicht. Sie muss immer eine bestimmte Idee oder einen Ideenzusammenhang sanktionieren und muss sagen, das ist das, was wir bekennen, andere Kirchen bekennen anders.“[33]

Anmerkungen

[1]    Wilhelm Gräb und Richard R. Osmer, Editorial, International Journal of Practical Theology, Volume 1, 1997, 6-10, 7; vgl. dazu und zum Folgenden auch: Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten, a.a.O., 23ff.

[2]    Kirchenamt der EKD (Hg.), Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, Gütersloh 2002, 9.

[3]    Vgl. Kulturbüro des Rates der EKD (Hg.), Kirchen-Kultur-Kongress 2011. Ein Nachlesebuch, Berlin 2011.

[4]    Deutscher Bundestag (Hg.), Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Regensburg 2008.

[5]    A.a.O., 208.

[6]    Paul Tillich, Über die Grenzen von Religion und Kultur, in: Gesammelte Werke Bd. IX, hrsg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959ff., 94-99, 94.

[7]    Im Folgenden greife ich Überlegungen auf, die ich im Rahmen meiner Habilitationsschrift vorgetragen haben, Verf., Medienerfahrung und Religion. Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion, Göttingen 2007, 17ff.

[8]    Vgl. Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000, 16ff.

[9]    Vgl. Reckwitz, Transformation, 15ff.

[10]   So das treffende Resümee von Reckwitz, Transformation, 16ff.

[11]   Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, 51.

[12]   Vgl. Reckwitz, Transformation, 47ff u. 173ff.

[13]   Um das zu zeigen, greift Reckwitz die gewichtigsten und repräsentativsten Autoren der beiden Stränge heraus und macht seine These anhand von Einzelinterpretationen plausibel. Dabei beginnt die transdiziplinäre Rekonstruktion (Reckwitz bezieht sich auf Soziologen, Philosophen und Anthropologen) im neostrukturalistischen Bereich mit Claude Levi-Strauss und schreitet über den frühen Foucault, Ulrich Oevermann und den späten Foucault voran bis hin zu Pierre Bourdieu. Im interpretativen Lager geht Reckwitz von Alfred Schütz aus, rekonstruiert dessen Spätwerk und verfolgt seine Interpretationslinie weiter über Erving Goffmann hin zu Charles Taylor – eine Seitenlinie bildet Clifford Geertz mit seinem Textualismus (vgl. auch das Schaubild in: Andreas Reckwitz, Transformation, 190).

[14]   Die Endpunkte der praxistheoretischen Konvergenzbewegung bilden im neostrukturalistischen Diskurs Bourdieu und im interpretativen Taylor. Ihrer beiden Praxistheorien stimmten, so Reckwitz, in den Grundzügen überein. Zu diesen Übereinstimmungen gehört, dass „die Theorien sozialer Praktiken die Verarbeitung und Umsetzung von übersubjektiven Sinnmustern in subjektiven Sinnzuschreibungen thematisieren, ohne den Anti-Subjektivismus der Strukturalisten und ohne den Anti-Objektivismus der Sozialphänomenologie zu teilen.“ Ders., Transformation, 558.

[15]   „In den Kulturwissenschaften (d.h. den Geistes- und Sozialwissenschaften) hat sich in den letzten Jahren ein Wechsel der Forschungsperspektiven angebahnt. Bis in die späten achtziger Jahre dominierte die Erklärungsmetapher ‚Kultur als Text’, das heißt, Kultur insgesamt wie auch einzelne kulturelle Phänomene wurden als strukturierter Zusammenhang von Einzelelementen aufgefasst, denen bestimmte Bedeutungen zugeschrieben werden können. Eine Leistung dieser Forschungsrichtungen, die mit textwissenschaftlichen Methoden arbeiten, besteht vor allem in der Erweiterung und Öffnung des Gegenstandsbereichs. Dessen Betrachtung bleibt indessen weitgehend statisch. Wird hingegen die Performativität von Kultur in den Blick gerückt, verlagert sich das Interesse auf die Tätigkeiten des Produzierens, Herstellens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, die Akteure und kulturelle Ereignisse ausmachen. Die Fruchtbarkeit dieses Perspektivenwechsels erweist sich seit einigen Jahren in so unterschiedlichen Disziplinen wie der Theaterwissenschaft, der Diskursanalyse, der Ethnologie, der Soziologie, der (Sprach-)Philosophie, der Linguistik, den Literatur- und Medienwissenschaften, der Psychologie oder der Pädagogik.“ http://www.sfb-performativ.de (17.9.2003).

[16]   Vgl. u.a. Karl Ernst Nipkow/Dietrich Rössler, Friedrich Schweitzer (Hg.), Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart. Ein internationaler Dialog, Gütersloh 1991. Davon, dass auch die Kirche als Institution das Thema der Kultur wieder neu entdeckt hat, zeugt die schon genannte Denkschrift „Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen“ (s. Anm. 2). Auch dieser Denkschrift liegt eine semiotische Kulturtheorie zugrunde. Gegenüber den im engeren Sinne wissenschaftlichen Publikationen zum Themenfeld fällt (erwartungsgemäß) auf, dass die Momente der Kritik und Gestaltung von Kultur stärker betont werden.

[17]   Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 44.

[18]   Ders., Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002, 53.

[19]   Ders., Sinn, 53 ff.

[20]   Ders., Sinn, 57.

[21]   Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Tanner, Kultur. II. Theologiegeschichtlich, in: TRE, Bd. XX, hrsg. von Gerhard Müller, Berlin/New York 1990, 187-209, 187.

[22]   Paul Tillich, Das Problem der theologischen Methode, in: Ergänzungsband IV zu den gesammelten Werken, hrsg. von Ingeborg C. Henel, Stuttgart <1946> 1975, 19-35; Systematische Theologie, Bd. II, Stuttgart <Chicago 1957> 5/1977, 19ff. u.ö.

[23]   Ebd., 19.

[24]   Albrecht Grözinger kritisiert Tillichs These von der religiösen Grundierung der Kultur als „einen heimlichen theologischen Imperialismus”. Vgl. Albrecht Grözinger, Theologie und Kultur. Praktisch-Theologische Bemerkungen zu einem komplexen Zusammenhang, in: Theologia Practica 24. Jg., 1989 Heft 3, 201-213, 210.

[25]   Ders., Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Gesammelte Werke Bd. IX, hrsg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959ff., 13-31.

[26]   Wilhelm Gräb und Richard R. Osmer, Editorial, International Journal of Practical Theology, Volume 1, 1997, 6-10, 7; vgl. dazu und zum Folgenden auch: Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten, a.a.O., 23ff.

[27]   Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 1986, 3ff. u. 90ff.

[28]   Wilhelm Gräb und Richard R. Osmer, a.a.O., 8

[29]   Ebd., 7.

[30]   Ebd.

[31]   Vgl. dazu auch das Heft „Spuren des Mystischen“ der Zeitschrift kunst und kirche, 2/1988.

[32]   Andreas Mertin, Ein theologischer Spaziergang über die d (13), in: Magazin für Ästhetik und Theologie, www.theomag.de/78/am399.htm, August 2012.

[33]   Thomas Lehnerer, Die Religion gehört der Kirche nicht, in: Thomas Lehnerer Lesebuch, Ostfildern 1996, 44.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/98/jh30.htm
© Jörg Herrmann, 2015