Was ich noch zu sagen hätte

Das Blogsurrogatextrakt XV

Andreas Mertin

Instrumenteller Rassismus / 08.01.2016

In einem überaus widerwärtigen Kommentar beschäftigt sich Birgit Kelle (wohl nicht nur) auf kath.net mit den Vorgängen in der Silvesternacht am Hauptbahnhof in Köln. Nein, eigentlich beschäftigt sie sich nicht damit, sondern mit den angeblich ausbleibenden feministischen Reaktionen auf das Ereignis. Angeblich – weil schon die einfache Recherche zeigt, dass natürlich die Feministinnen sofort und deutlich reagiert haben. Aber Kelle macht ihre Kritik daran fest, dass nicht sofort ein Twitter-Hashtag analog zu den seinerzeitigen Aufregungen um das frauenverachtende Verhalten von Dirndl-Brüderle geschaffen wurde. Wir lernen daraus: auch für eine katholische Medienfrau ist ein Ereignis erst ein Ereignis, wenn ein Hashtag darüber Auskunft gibt.

Nun ist die Analogie mit dem Fall Brüderle insofern in sich schon problematisch, als das zwischen Ereignis und Hashtag ziemlich genau 1 Jahr(!) gelegen hat. Der Fall passierte am 6. Januar 2012, der Stern publizierte es am 24. Januar 2013 und verstärkte damit eine Debatte, die bereits 10 Tage vorher über den Sexismus in der Piratenpartei begonnen hatte. Beides zusammen kulminierte dann im Hashtag #aufschrei. Und dieser Hashtag hatte als besonderes Charakteristikum, dass im Wesentlichen zunächst nicht Dritte über das Phänomen der sexuellen Belästigung urteilten, sondern betroffene Frauen sich äußerten. Erst später wurde dann daraus auch ein mediales Ereignis.

Kelle setzt nun auf das Kurzzeitgedächtnis ihrer Leserinnen und Leser und unterstellt, der damalige Aufschrei sei weniger einer der Betroffenen, als vielmehr lauthals protestierender Feministinnen gewesen. So war es aber nicht. Der Hashtag #aufschrei, durchaus von einer Feministin bei Twitter etabliert, war vorrangig Artikulationsmedium. In einer denkbaren Analogie könnte Kelle also nur fragen, warum die Betroffenen in Köln nicht einen analogen Hashtag etablierten. Und diese Frage würde den ganzen Zynismus, ja die Bösartigkeit der Frage von Kelle offenbaren.

Der unnachahmliche Sascha Lob schreibt nun unter der Überschrift „Mob und Gegenmob“, ohne Kelle direkt beim Namen zu nennen, sie aber direkt zitierend, was er von der Sache hält:

„Wenn jetzt exakt diejenigen, die sonst ganzjährig fordern, Frauen sollten gefälligst die Bluse zumachen, auf Frauenrechte pochen - dann ist das instrumenteller Rassismus. Das plötzliche Interesse an Frauenrechten ist gespielt und nichts als ein vorgeschobenes Argument, um den eigenen Rassismus zu legitimieren.“

Da hat er Recht. Ich hätte es vielleicht eher funktionalen Rassismus genannt, aber hier wird die „Verteidigung von Frauen“ eingesetzt, um Migranten herabzusetzen. Noch vor jeder Feststellung, noch vor jeder Festnahme wird die Verurteilung gefordert. Es ist das direkte Gegenteil von Aufklärung. Es bedient primitiv das Ressentiment in jeder nur denkbaren Richtung.


Emanzipation und Religion / 11.01.2016   

Der von Birgit Kelle eingeforderte digitale Aufschrei gegen die sexuellen Übergriffe von Köln ist nun unter dem Hashtag #ausnahmslos erfolgt. Den Aufruf selbst empfinde ich freilich als überaus enttäuschend. Der Begründung des Aufschreis unter http://ausnahmslos.org lässt sich entnehmen, wie sehr sich die Betreiber bemühen, jede kritische Auseinandersetzung mit der Religion und der Herkunft derer, die die Übergriffe zu verantworten haben, zu vermeiden. Bloß nicht von Religion und Ethnie reden. Das mutet merkwürdig an.

Die Emanzipation der Frauen in der westlichen Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert ist weitgehend gegen die herrschende christliche Religion unter deutlicher Benennung ihrer Defizite vollzogen worden. Die Eroberung etwa der Kanzeln durch Frauen im Protestantismus war ein jahrzehntelanger Prozess, der für einige evangelikale Gemeinden bis heute nicht abgeschlossen ist. Der Katholizismus harrt der Emanzipation im Blick auf den Klerus bis in der Gegenwart, was berechtigterweise scharfer Kritik unterliegt. Die Herabsetzung von Frauen durch die christliche Tradition war und ist schrecklich und bedarf weiterhin der unerbittlichen Kritik – im Interesse der christlichen Religion.

Mir ist aber nicht ganz einsichtig, warum diese aufklärerische Kritik im Angesicht des Islam bei #ausnahmslos unterbleibt. Die Forderung „Das Problem des Sexismus und der sexualisierten Gewalt darf nicht ‚islamisiert‘ und damit pauschal einer Religion und ihren – häufig vermeintlichen – Angehörigen zugeschrieben werden“ geht am zentralen Problem vorbei. Natürlich darf nicht so getan werden, als es es „nur“ der Islam wäre, der hier ein Problem hat. Ganz sicher nicht. Aber es ist eben „auch“ der Islam, der hier Defizite aufweist.

Die Kritik der religiösen Grundlagen der Herabsetzung von Frauen in unserer Gesellschaft ist ja historisch keinesfalls überholt. Und so hat man bei dem Hashtag #ausnahmslos den Eindruck, dass man so lange kritisch war, so lange es um die christliche oder die jüdische Religion ging, nun aber zurückschreckt, weil es sich um den Islam handelt. Vielleicht sollten einige der so zurückhaltend Protestierenden sich doch noch einmal „Submission“ von Theo van Gogh und Hirsi Ali anschauen.

Der Islam hat ein Recht auf die Kritik durch eine aufgeklärte Gesellschaft. Und die aufgeklärte Gesellschaft hat die Pflicht, Religionen und religiöse Legitimierungen dort zu kritisieren, wo diese mit den grundlegenden Normen der modernen Gesellschaft in Konflikt geraten. Man muss es vielleicht nicht so scharf formulieren, wie Samuel Schirmbeck in einem Gastbeitrag in der F.A.Z. unter der Überschrift „Sie hassen uns“, aber deshalb sollte die Kritik nicht unterbleiben. Die von ihm zitierte „giftige Mischung aus Kultur und Religion“ verschwindet ja nicht, wenn man sie nicht thematisiert. Religionskritik hat unsere Gesellschaft zu dem gemacht, was sie heute ist: eine Gesellschaft der Freien und Gleichen. Es gibt keinen Grund, auf sie heute zu verzichten – bei allen abrahamitischen Religionen.


Das Böse im Christentum / 11.01.2016

Am Tag, als David Bowie starb, bekundete ein Kardinal im Vatikan seine Betroffenheit. Gianfranco Ravasi twitterte eines der bekanntesten Zitate des Künstlers: “Ground Control to Major Tom / Commencing countdown, engines on / Check ignition and may God's love be with you”.

Es war klar, dass die Leser von kath.net, das diese Nachricht überaus distanziert verbreitete, diese Betroffenheit kaum teilen würden. Luthers Auslegung des achten Gebots „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren“ ist ihre Sache nicht.

Unter der nun wirklich paradoxen Überschrift „Ich habe David Bowie nie gekannt“ schreibt jemand, Bowie habe Drogen verherrlicht und sein letztes Video „Blackstar“ sei des Satanismus verdächtig. Der Beiträger habe jedenfalls „selten ein so gruseliges Video mit einem so gruseligen David Bowie gesehen“. Dafür, dass er ihn gar nicht kennt, ist das schon eine merkwürdige Aussage. Noch bizarrer ist es, wenn er jemanden, den er gar nicht kennt, der Teufelsanbetung bezichtigt.

Nun ist diese Meme, David Bowie sei Teufelsanbeter, eine beliebte Stereotype der amerikanischen christlichen Nationalsozialisten. Wer einmal das ganz banale Böse im Christentum studieren will, braucht nur bei Youtube die Stichworte David Bowie und Satanic eingeben. (https://www.youtube.com/watch?v=8wwTZLw3hqw).


Idiotenformel / 12.01.2016

Bundesrichter Thomas Fischer leistet mit seiner Kolumne auf ZEIT Online einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der deutschen Rechtskultur. Nicht nur, weil er uns Woche für Woche den Kopf zurechtrückt, was die populären Missverständnisse darüber betrifft, was eigentlich Recht ist, sondern auch, weil er so viel Wert auf Sprache legt und ernst nimmt, was Politiker so von sich geben. Etwa auch im Zusammenhang mit den Ereignissen von Silvester 2015 in Köln und ihrer polit-medialen Nachbereitung. Fischer schreibt dazu u.a.:

„Frau Göring-Eckardt fordert ‚die ganze Härte des Gesetzes‘ – was immer sich der Bürger unter dieser Idiotenformel vorzustellen hat. Sie mahnt, dabei dürfe keine Rolle spielen, ob einer aus Deutschland oder aus dem Ausland komme. Holla! Auch ein abgebrochenes Theologiestudium schärft den gnadenlos evangelischen Blick aufs Grundgesetz. Früher, viel früher einmal, hätte ein solcher Satz aus dem Mund einer ‚grünen‘ Leitfigur für Unruhe unter den Deutschen gesorgt. Heute ist klar, dass die ehemalige Präside der Synode der EKD damit meint, dass Ausländer endlich nicht länger bevorzugt werden dürfen. Ein kleiner Schritt, aber ein weiter Weg!“

Nun, dazu, was ein evangelischer Theologe sich unter der Idiotenformel ‚die ganze Härte des Gesetzes‘ vorzustellen hat, reicht ein Blick in die Geschichte des Begriffs und in die Geschichte der lutherischen Formel „Gesetz und Evangelium“. Es ist meines Erachtens keinesfalls zufällig, dass Göring-Eckardt auf diese „Idiotenformel“ rekurriert. In lutherischer Tradition trifft nämlich die Menschen bis zum Kommen Jesu Christi ‚die ganze Härte des Gesetzes‘. Erst mit der Kreuzigung kommen Gnade und Evangelium ins Spiel. Zwar gibt es die Formel ‚die ganze Härte des Gesetzes‘ auch in den juristischen Diskussionen vor 1850, aber eine auffallende Zahl der Belege für das frühe Vorkommen stammt aus dem christlichen Kontext. So heißt es 1839 in „Herr Dr. Hengstenberg kritische Briefe über den Gegensatz des Gesetzes und des Evangelium“: „Zur Zeit, als Juda unterging, klagte das Volk über die Härte des Gesetzes und die Geschichte ...“ Und in einer Kirchengeschichte von Friedrich Rudolph Hasse aus dem Jahr 1864 heißt es über Paulus: „In der Schule der Pharisäer zu Jerusalem war ihm später die ganze Härte des Gesetzes eingebildet worden und mit dem Feuereifer seines Charakters verwachsen.“

Dass in der christlichen Theologie nach 1945 so nicht mehr gesprochen wird, hat Frau Göring-Eckardt wegen ihres kurzen Studiums vielleicht nicht mitbekommen.


Postmoderne Kultur. Oder: Ideologien frei Haus / 19.01.2016

Ich sollte mit dem morgendlichen Klick auf Portale wie kath.net oder idea.de aufhören. So viel Dummheit vergällt einem den ganzen Tag. Irgendwie wird einem bei der Lektüre immer deutlicher, dass es sich hier nicht um religiöse Portale handelt, die eben sehr konservativ sind, sondern vielmehr um Portale, die weit rechts von der CSU sind und die ihre reaktionären Ansichten religiös verbrämen. So als hätte Gott die nationalen Grenzen, die Herabsetzung Andersdenkender, die Xenophobie und die Homophobie gewollt. Es ist auffällig, dass Meldungen auch dann lanciert werden, wenn sie nichts mit Religion zu tun haben, soweit es sich nur um kritische Berichte zu Ausländern, Homosexuellen oder Feministinnen handelt. Im Kern handelt es sich um eine Wiederauflage der Deutschen Christen.

Heute lese ich einen Bericht über eine „Fach“-Tagung zu Ehe und Familie in Österreich. Wenn das eine Fachtagung war, ist es um die Fachkompetenz freilich schlecht bestellt.

"Die postmoderne Kultur ist die erste, die die Zweiheit der Geschlechter in Frage stellt" behauptet da eine Professorin, die als Philosophin bezeichnet wird. Nun, so ganz gut kann ihre Kenntnis der abendländischen Philosophiegeschichte nicht sein, wenn sie derartigen Unsinn verbreitet. Nicht nur, dass es Völker gibt, die rein sprachlich eine Vielzahl der Geschlechter kennen, auch in den frühesten Schriften der Philosophie wird berichtet, dass es Konzepte gibt, die von drei Konstellationen in den Beziehungen ausgehen: Männer und Männer, Frauen und Frauen, Männer und Frau – so zumindest hören und lesen wir es in Platons Symposion. Aber vermutlich ist auch Platon eine postmoderne Erfindung.

Die anthropologische Grundkonstante des "Zweier-Prinzips", so sagt die Philosophin weiterhin, „bilde auch die Grundlage für das Bilderverbot des Judentums. ‚Ich brauche kein Bild von Gott, weil es im Menschen, in Mann und Frau, schon da ist‘“. Das ist mir neu. Ich kenne keinen Alttestamentler, der einen derartigen Unsinn vertreten würde. Die Begrifflichkeiten der Imago-Dei-Lehre nach Gen 1,26 und die des Bilderverbots in Exodus 20 bzw. Deuteronomium 5 haben nichts miteinander zu tun (außer, dass im Deutschen in beiden Fällen das Wort ‚Bild‘ verwendet wird). In den einschlägigen Texten geht es um pæsæl „Kultbild“ und massekāh „Gussbild“. Das profane Bild = Ebenbild aus Gen 1, 26 ælæm kommt in den Bilderverbotstexten gar nicht vor. So viel Hebräisch sollte man beherrschen, wenn man derart weitreichende Schlussfolgerungen zieht. Alles andere hieße, Lug und Trug für Gott vorzubringen.

Das Bilderverbot meint: Gott will nicht, dass Kultbilder oder Gussbilder aufgestellt und verehrt werden. Die christlichen Kirchen verstoßen weltweit Tag für Tag gegen dieses Gebot! Aber mit der vorgeblich anthropologisch vorgegebenen Zweigeschlechtlichkeit hat das Bilderverbot überhaupt nichts zu tun! Man entschärft die Sprengkraft des 2. Gebotes, wenn man es in derart beliebige ideologische Kontexte stellt. Imago Dei ist der Mensch im Sinne der altorientalischen Königsideologie, von Gott eingesetzt als sein Stellvertreter/Herrscher auf Erden.


Postmoderner Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle: Und Gott erschuf ihn als Mann und Frau


Die weiteren Sätze mag man kaum zitieren, weil man nicht glauben mag, dass ein vernünftiger Mensch so etwas heute noch verbreitet: „Das Weibliche“ charakterisierte die Philosophin „als Ruhe und Zulassen, als schlichtes Dasein; dies sei jedoch nicht schwächer oder weniger wichtig als die Aktivität des Männlichen.“ Ja, das Weibliche als schlichtes Dasein. So steht‘s in der Bibel. Und: Das Weib schweige in der Gemeinde.

Da möchte man doch mit Goethe antworten:

„Das Unzulängliche,      
- Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,   
- Hier ist's getan;
Das Ewig-Weibliche       
- Zieht uns hinan.“


Evangelikale – Oder: Von Star Trek Enterprise lernen  / 23.01.2016

In der Star-Trek-Enterprise-Folge „Das auserwählte Reich“ trifft die Besatzung des Raumschiffs Enterprise auf eine Gruppe von Pilgern, die besonders streng ihrem Glauben anhängen. Sie befinden sich im Konflikt mit anderen Gläubigen ihres Heimatplaneten, die eine differente Interpretation der Heiligen Schriften haben. Um ihrem Heimatplaneten wieder ‚Frieden‘ zu bringen, wollen die Pilger die Besatzung der Enterprise dazu nötigen, zur Auslöschung der Andersdenkenden Hilfestellung zu leisten. Da die Besatzung sich weigert, wird sie ausgeschaltet und man macht sich auf den Weg, das wahre Evangelium auf dem Heimatplaneten durchzusetzen. Als man den Planeten erreicht, ist er jedoch längst durch den Glaubenskrieg nahezu vollständig zerstört; es gibt nichts mehr durchzusetzen.

Während des Flugs fragt Archer, der Captain des Raumschiffs Enterprise, einen der Pilger:

Warum bekämpfen Sie diese Leute? Was macht sie zu Ketzern?

Und dieser antwortet:

Wir glauben, dass die Schöpfer das auserwählte Reich in neun Tagen erschaffen haben. Die glauben, es dauerte zehn.

An diese Episode musste ich denken, als ich bei idea.de die Abschlusserklärung des evangelikalen Netzwerktreffens vom heutigen Tage las. Man kann das Ganze psychologisieren und davon ausgehen, dass sich hier noch einmal ein alternder Verbandsfunktionär auf Kosten seiner Nachfolger profilieren will. Man kann ihn aber auch mal ernstnehmen und kann dann mit Vernunft nur sagen: wann gründen die endlich eine eigene Kirche und treten aus den evangelischen Landeskirchen aus, sie sind mit ihnen schlichtweg nicht kompatibel. Es ist immerhin bemerkenswert, dass einige Punkte, die lange Zeit auf ihrer Agenda standen, nun nicht mehr erwähnt werden: die Ablehnung der Frauenordination etwa kommt nicht mehr vor und auch nicht die angebliche Problematik weiblicher Bischöfe (das liegt wahrscheinlich daran, dass Ulrich Wilckens nicht an dem Treffen teilgenommen hat). Auch Frauenordination und Bischöfinnen stehen nicht in der Bibel, aber hier hat die Wirklichkeit die Evangelikalen überholt. Das gibt Hoffnung im Blick auf die Lernfähigkeit der Evangelikalen. Das Gequatsche von der in den Landeskirchen vertretenen Irrlehre bleibt aber erhalten und auch der Hinweis, dass abweichende Meinungen nicht geduldet werden dürften, weil die Bibel schließlich verbalinspiriert sei. "Wir widersprechen Ansichten, es seien gegensätzliche Verständnisse und Lesarten der Bibel zu akzeptieren". Da kann man sich auf die nächste Inquisition schon freuen. Vor allem aber ist ihnen die Sexualkunde der Altvorderen wichtig. Homosexuelle bilden in ihren Augen immer noch Menschen zweiter Klasse, die sowohl von Funktionen in der Kirche wie von religiösen Zeremonien ausgeschlossen werden sollen. Es ist schon interessant, wie hier die konsequente Bestreitung von Menschenrechten zum religiösen Prinzip verklärt werden soll. Hat man früher nicht auch die Herabsetzung der Sklaven naturrechtlich begründet? Und natürlich darf – im Zusammenschluss mit den ultra-reaktionären Katholiken – die Verdammung der Gendertheorie nicht fehlen, schließlich habe Gott die Menschen als Mann und Frau erschaffen. Glauben diejenigen, die solchen Unsinn schreiben, wirklich an das, was sie da aufs Papier setzen? Dass Gott sich hingestellt hat und am Anfang zwei einzelne Menschen geschaffen hat, einen männlich, einen weiblich – letzteren aus der Rippe des ersteren? Nur weil es da steht und vor 2½ Jahrtausenden geschrieben wurde, während die Gattung des Menschen doch gut 10 Millionen Jahre alt ist? Dann würde ich an ihrer Vernunft zweifeln. Es wäre dann wirklich so, wie wenn man sich darüber stritte, ob die Welt tatsächlich in 6, 7, 9 oder 10 Tagen erschaffen wurde. Aber vermutlich gibt es evangelikale Verbandsvertreter, die immer noch meinen, dass die Welt in sechs Tagen erschaffen wurde. Steht doch da. Wörtlich. Wirklich. Ehrlich.


Scheinriesen – Oder: Wir verwerfen die falsche Lehre / 24.01.2016

Das Papier der evangelikalen #Aufschrei-Theologen um Parzany rekurriert immer wieder auf die Barmer-Theologische-Erklärung. Nach der Darstellung der eigenen Grundsätze wird jeweils fortgefahren: „Wir verwerfen die falsche Lehre ...“ Das ist wirklich unerträglich. Die Barmer Theologische Erklärung ist in einer Situation entstanden, als Deutsche Christen, deren Ideologie heute z.B. in der Jungen Freiheit und ihrem religiös-völkischen Denken ihre Fortsetzung findet, den Grundkonsens zugunsten des Ein Volk – Ein Reich – Ein Führer – Ein Glaube in Frage stellten. Das hat mit den heutigen Auseinandersetzungen in der Evangelischen Kirche in Deutschland nichts, aber auch gar nichts zu tun. Das muss man sich verbitten. Diese evangelikale Bewegung ist keineswegs nur eine Rose mit gelegentlichen Dornen im Garten der EKD, wie Thies Gundlach meint, sie ist ein Pesthauch des Denkens und aufgeklärten Glaubens, der alles bedroht, was nicht mit ihm konform geht. Wer darauf eingeht, zerstört die kommunikative Grundstruktur der EKD. Ich habe nichts dagegen, dass jemand die Bibel für verbalinspiriert hält, wenn er mir in meiner Kirche die Freiheit und das Recht lässt, das für Unsinn zu halten und die Bibel für eine bedeutsame menschliche Artikulation der religiösen Erfahrung der Welt anzusehen. Sätze wie „Wir widersprechen Ansichten, es seien gegensätzliche Verständnisse und Lesarten der Bibel zu akzeptieren" haben mit protestantischer Streitkultur nichts zu tun, weil sie die Voraussetzung des Streits: die Legitimität der Äußerungen des Gegenübers, schon im Ansatz bestreiten. Hier gilt das Gleiche, wie im Umgang mit den Feinden der Freiheit: keine Toleranz den Intoleranten. Die Verfasser des Memorandums irren sich: sie stehen auf der Seite, gegen die sich die Barmer Theologische Erklärung gewandt hat. Auf Barmen können sie sich nicht berufen. Sachlich würde ich aber fragen, ob für die evangelikale Bewegung in Sachen Gender, Homosexualität und Anerkennung anderer Religionen tatsächlich der status confessionis erreicht ist. Dann sollten sie endlich die Konsequenzen daraus ziehen. Seit 50 Jahren quälen sie die Mitglieder der Landeskirchen und deren Vertreter mit dem dahingeschleuderten Vorwurf, nun stehe die kirchliche Gemeinschaft auf dem Spiel. Wenn das wirklich seit 50 Jahren so ist, wird es dann nicht Zeit, dass man sich trennt und auch jenen aus der Allianz, die in den Landeskirchen verblieben sind, die Entscheidung ermöglicht, wo sie sich verorten wollen? Vielleicht würde so schnell deutlich werden, wo sich hier die Scheinriesen befinden. Scheinriesen, um das zu präzisieren, sind die Verfasser des Memorandums nicht im Sinne der tragischen Figur aus Michael Endes Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Dort ist der Scheinriese ja ein geselliger, aber einsamer Mann, dessen scheinbare Größe die Kommunikation mit anderen erschwert. Sprichwörtlich ist aber eine andere Deutung des Scheinriesen geworden: er „bezeichnet ein Objekt, das fälschlich oder unberechtigt das Erscheinungsbild von Größe, Stärke oder Macht zeigt oder beanspruchen möchte.“ [wikipedia] Man bedarf dann gewisser Scheinwerfer wie idea.de, um in der Öffentlichkeit als bedeutsam dazustehen.


Dschungel / 30.01.2016

Man muss nicht ins Dschungelcamp gehen, um Unverdauliches vorgesetzt zu bekommen.

Gerade lese ich, dass Navid Kermani Teile seines neuen Buches „Ungläubiges Staunen“ in einem Hamburger Puff hat vorlesen lassen. Befragt, warum den ausgerechnet ein Werk mit Annäherungen an die 2000-jährige Kunstgeschichte im Christentum im Puff gelesen werden muss, verwies er auf die Prostituierte, die Jesus die Füße gesalbt habe. Mir ist schon klar, dass Kermani aufklärerischen Umgang mit der Religion scheut. Dass ihm die unhistorische Annäherung an religiöse Mythen tausendmal lieber ist als der an Vernunft und Bildung orientierte Blick auf die Geschichte des Christentums. Wenn es ihm Spaß macht, mit den überkommenen kichernden Sexualneurotikern des Biedermeier im Hamburger Puff Texte zu lesen – bitte schön. Aber er soll nicht so tun, als ließe sich das aus der Bibel ableiten. Dieselbe Gedankenlosigkeit, mit der Kermani sich den Phantasmagorien reaktionärer katholischer Kreise ausliefert,

(der Evangelist Lukas habe eine Ikone der Jungfrau Maria gemalt! - Nur kurz zur Erinnerung: „Die Datierung des Lukasevangeliums in die Zeit um 90 n. Chr. beruht auf einem breiten Konsens. Von der Zeit der Augenzeugen trennt den Autor schon ein längerer Traditionsprozess (Lk 1,1)“ Wissenschaftliches Bibellexikon)

mit derselben Gedankenlosigkeit wird als biblische Geschichte die Legende kolportiert, die namenlose Sünderin aus Lukas 7, 36-50 sei eine Prostituierte gewesen. Der Spiegel berichtet:

„Warum man gerade einen solchen Ort gewählt habe für ein Buch über das Christentum, möchte einer der Gäste wissen. Jesus selbst ist doch zu jenen gegangen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind, antwortet Kermani. Von einer Prostituierten hat sich Jesus die Füße waschen lassen und ihr so ihre eigene Würde wieder bewusst gemacht, die ihr die Gesellschaft abgesprochen hat.“

Diese Deutung nach Gregor dem Großen dürfte aber eher zur sexualpathologischen Geschichte des Christentums gehören. Silke Petersen schreibt dazu im Wissenschaftlichen Bibellexikon:

„Solche Identifikationen von anonymen und namentlich genannten Gestalten hat es in der Überlieferung und Rezeption neutestamentlicher Geschichten häufig gegeben, die Folgen sind in diesem Fall allerdings bes. weitreichend: Die wohl wichtigste Jüngerin Jesu und eine zentrale Zeugin der Osterereignisse ist über viele Jahrhunderte primär als ehemalige Prostituierte und reuige Sünderin wahrgenommen worden; und das Bild der ‚Sünderin‘ und sexuell anrüchigen Frau wirkt weiterhin in populärer Literatur, in Romanen, Gedichten und Filmen.“

In diese populärkulturelle Wirkungsgeschichte muss man daher auch Kermanis „Ungläubiges Staunen“ einordnen. Mehr ist es nicht. [Und ich will mir gar nicht vorstellen, mit welchen Begründungen man nun Texte des Korans an anderen Orten lesen könnte.]

Nun, ich wollte eigentlich darüber schreiben, warum man nicht ins Dschungelcamp gehen muss, um Unverdauliches vorgesetzt zu bekommen.

Nach der Rückkehr aus dem Dschungelcamp wurde medienkonform ein Videoclip mit Jenny Elvers publiziert, der zeigt, dass das Dschungelcamp auch in Bayern hätte stattfinden können – gedreht wurde der Clip freilich in Berlin. Wir sehen eine hospitalisierte Jenny Elvers in einem zertrümmerten Zimmer und parallel dazu einen tätowierten katholischen Priester(kandidaten), der sich zur Messe vorbereitet. Natürlich gehört zur ordentlichen Vorbereitung der Messe, dass man sich selbst geißelt und die Oblaten einzeln ableckt. [Die Welt ist wirklich voller verrückter Videoclip-Produzenten.] Irgendwann geht Elvers in die Kirche, trifft dort auf den Priester und man küsst sich. Merken die Leute, die sich derartigen Schwachsinn ausdenken, nicht, dass sie mehr sich selbst beschädigen, als irgendwelche religiöse Gefühle reizen? Ich schäme mich doch, dass es so dumme Menschen auf dieser Welt gibt, die nicht einmal im Ansatz etwas von katholischen Riten wissen, die nur ihren primitiven Reflexen antiklerikalen Erbrechens nachgehen. Ich kann nicht erkennen, wie sich das von Homophobie, Rassismus oder anderen vorurteilsgesteuerten Affekten dummer Menschen unterscheidet.

Ebenso peinlich finde ich inzwischen, dass immer wieder Evangelische Kirchengebäude für derartige antikatholische Dumm-Clips verwendet werden können. Das war schon bei „Dunk dem Herrn“ von Carolin Kerkebus der Fall und trifft im vorliegenden Beispiel auch zu. Selbst wenn man einräumt, dass außerhalb der Gottesdienstzeiten und jenseits von Gemeindeversammlungen eine Kirche nur ein einfacher umbauter Raum ist, muss man ihn nicht als Agitationsplattform gegen Katholisches missbrauchen lassen. Es würde doch auch keiner Kirchengemeinde einfallen, ihr Gebäude für einen Werbeclip der NPD oder einen fremdenfeindlichen Clip der AfD zur Verfügung zu stellen. Warum dann für so einen Schwachsinn?

        Wie gesagt: Unverdaulich!

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/99/am528.htm
© Andreas Mertin, 2016