Lost control – Schwarze Mythen

Zum letzten Werk von David Bowie

Andreas Mertin

In einem Buch, das aus der BBC-Fernsehserie „Ways of seeing“ entstand, schreiben der Schriftsteller und Kunsthistoriker John Berger und seine Kollegen u.a. darüber, wie Kontexte und Texte unsere Wahrnehmung verändern. Das auch auf Deutsch unter dem Titel „Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt“[1] erschienene Buch, das immerhin mindestens 16 Auflagen erlebt hat, gehört immer noch zu den interessantesten Einführungen in die Wahrnehmung von Kunst. Auf Seite 27 der deutschen Ausgabe schreiben die Autoren:

„Gemäldeabbildungen werden häufig von Text begleitet.
Hier ist eine Landschaft mit einem Kornfeld und auffliegenden Vögeln.

Betrachte die Reproduktion einen Augenblick und wende dann die Seite um!

Auf Seite 28 wird die Abbildung des Gemäldes dann wiederholt (seinerzeit waren beide Abbildungen freilich in Graustufen gehalten) und darunter schreiben die Autoren:

„Dieses Bild ist das letzte Werk Vincent van Goghs, bevor er Selbstmord verübte!“

Und sie fügen hinzu:

„Es fällt schwer, genau zu beschreiben, wie der Text den Bildeindruck verändert hat, aber zweifellos hat er ihn verändert. Das Bild wirkt jetzt als Illustration des Textes.“

Das letzte Werk, das letzte Bild, das letzte Wort, die letzte Begegnung – wenn nichts mehr geändert werden kann (außer durch eine sich diesen Moments bewusst werdenden retrospektive Wahrnehmung), wird der letzte Moment fast notwendig mythisch verklärt. Was ändert sich an der Wahrnehmung von van Goghs Bild, wenn wir unterstellen, es sei sein letztes Werk?

Tatsächlich beginnen wir, dieses Bild als Zeichen zu lesen. Wir sehen nicht mehr nur, was vor Augen liegt, sondern auch das, was wir an Informationen im Kopf haben. Und wir versuchen, beides miteinander zu verbinden. Im konkreten Fall dieses Bildes van Goghs kommen freilich mehrere erschwerende Faktoren hinzu. Wer sich nur ein wenig mit dem Mythos „van Gogh“ beschäftigt hat, dem wird vermutlich das Bild schon beim aller ersten Mal als Mythos begegnet sein: eben als ‚das letzte Bild von van Gogh‘. Es gibt sozusagen den unschuldigen Blick auf das Bild nicht mehr, es ist immer schon mythisch überlagert. Noch schwieriger ist es aber, den Mythos wieder aus dem Kopf heraus zu bekommen. Denn nach heutigem Erkenntnisstand ist das Bild keinesfalls das letzte Werk aus der Hand von Vincent van Gogh, sondern wahrscheinlich 14 Tage vor seinem Tod entstanden. Ändert das etwas? Sollte es etwas ändern? Und können wir das, was durch den kolportierten Mythos in unser Gehirn gekrochen ist, wieder löschen? Müssten wir das nicht, um dem Werk als Kunstwerk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen?

Alle diese Fragen treffen nun auch auf ein Video zu, das Ende 2015 ohne das breite Wissen um einen entsprechenden Kontext erschienen ist und Anfang 2016 von (s)einem Mythos überlagert wurde. Es ist heute nicht mehr möglich, dieses Werk ohne das konkrete Wissen seiner Nach-Geschichte wahrzunehmen. Und wie schon bei dem Kunstwerk von Vincent van Gogh aus dem Jahr 1890, beginnen wir auch bei David Bowies Musik-Video zu „Blackstar“ aus dem Jahr 2015 damit, es 2016 im Blick auf mehr oder weniger offensichtliche oder auch verborgene Zeichen hin zu studieren, m.a.W. das Video als Illustration eines Textes zu lesen, der durch andere Medien und Kanäle und vor allem a posteriori zu uns gekommen ist.

[Was uns freilich zu einem besseren Verständnis des ursprünglichen Eindrucks verhelfen könnte, ist der Umstand, dass einige Rezensenten bereits vor dem 10. Januar ihre Wahrnehmungen vor allem zum Musikstück, aber zum, Teil auch zum Video mitgeteilt haben. Hier unterscheidet sich die Situation deutlich von der bei der Rezeption des vorgeblich „letzten Bildes“ von Vincent van Gogh. Dazu später mehr.]


David Bowie: Blackstar (10:03)

Mythisch ist – auch ohne den 10. Januar – schon der Beginn des Videos. Wir blicken auf eine behandschuhte Hand, einen Schuh, einen Helm, die schwer zu erkennen und vom Kontext abzusondern sind. Die Kamera schwenkt auf eine Totale und wir erkennen eine bläulich schimmernde Höhle auf einem Planeten fern der Erde mit einem Trabanten, der gerade eine Sonne verdeckt und nur ihre Korona sichtbar sein lässt. In der Mitte des Bildes liegt einsam und verlassen ein Astronaut / Kosmonaut auf dem Boden.

Die Kamera zoomt auf den Astronauten und wir sehen ihn mit beschlagener Sichtscheibe und einem Sauerstofftank auf dem Rücken, die Hände halb geöffnet, auf dem Boden liegen. Wir sehen aber auch, dass der Raumanzug an mehreren Stellen zerstört ist und er deshalb nicht mehr seine ursprüngliche, lebenserhaltende Funktion für den Astronauten erfüllen kann, die ihn durch den Weltraum auf den fernen Planeten gebracht hat.

Wer sich nur etwas mit der Videographie und Discographie von David Bowie auskennt, wird bereits hier – erst 30 Sekunden des Videos sind gelaufen – zahlreiche Querverweise und intertextuelle Anspielungen erkennen können. In Kenntnis des Videos zu Space Oddity aus dem Jahr 1969 ist man fast versucht zu prognostizieren, was als nächstes kommen muss. Die Ikonographie fällt sozusagen nicht vom Himmel, sondern hat sich über Jahrzehnte – mit einem zentralen Zwischenstopp im Jahr 1980 bei Ashes to Ashes – entwickelt. Jedenfalls tritt nun eine junge Frau auf, die – ganz ohne Weltraumgarnitur – von rechts nach links durch die Weltraumhöhle/wüste schreitet. Unterbrochen von einer anders gearteten Szenenfolge, die Bowie mit Augenbinde beim Singen zeigt, schreitet sie auf den Astronauten bzw. die Montur zu. Wir erkennen, dass sie so etwas wie einen Schwanz in der Art einer Maus hat. Es ist eine „Alice im Wunderland“-Szene.

Die junge Frau beugt sich nieder und öffnet den Helm des Astronauten und wir blicken nun auf einen mit Juwelen und Schmuck besetzten Schädel.

Und auch hier sind die Querverweise unübersehbar. Paul Koudounaris hat in seinem Buch „Heavenly Bodies“(!) zahlreiche Skelette katholischer Katakombenheiliger fotodokumentiert, die mit Juwelen und Schmuck reich dekoriert sind.[2] Und blickt man auf die Reliquiare der Hl. Benedikt von Nursia und Flavianus aus dem früheren Kapuzinerkloster Stans, dann ist die Ähnlichkeit unverkennbar.

Und so schreitet auch im Video die junge Frau mit Rattenschwanz mit dem geschmückten Schädel des Astronauten in einem Glasreliquiar durch ihr Dorf, um ihn rituell zur letzten Ruhe zu betten[3] – während der restliche Körper des Space-Cowboys durchs All fliegt.

Mit der vierten Minute bekommt das Video dann eine neue Note, auch wenn das retardierende Element der konvulsivisch zuckenden Menschen erhalten bleibt. Es ist ein Schnitt, wie wir in sonst als thematischen Neueinsatz in Rockopern oder Musicals finden.

Die zwei Minuten zwischen der vierten und der sechsten Minute führen zunächst Bowie als eine Art Propheten bzw. Evangelisten ein, der ein Buch mit großen fünfzackigem Stern auf dem Cover in der Hand hält (4:00 bis 4:35), bevor dann bei 4:40 ein deklamatorischer Neueinsatz beginnt:

Something happened on the day he died
Spirit rose a metre and stepped aside
Somebody else took his place, and bravely cried
I’m a blackstar, I’m a Blackstar.

Man kann diese Szene sicher ganz unterschiedlich interpretieren – was im Internet ja auch in bunter Vielfalt geschieht -, und diese Polyvalenz ist ja immer auch eine der grundsätzlichen Stärken des Auftretens von David Bowie gewesen. Eine Lesart wäre eine an der christlichen Überlieferung orientierte, die um das Gefüge von Johannes, Jesus und Paulus kreist. Schrift, Geist und Ekstase spielen ja bei Blackstar eine wichtige Rolle. Man könnte aber auch an die ekstatischen Prophetengruppen der hebräischen Bibel denken.

Dennoch finde ich diese zwei Minuten schwer erträglich. Sie sind einerseits überaus pathetisch und symbolisch aufgeladen, zum anderen dramaturgisch regressiv in ihrem Sampling aus Motiven des Musicals in 4:40 und 5:35. [Wollte ich es bösartig formulieren, so ist es ein wenig wie beim Heiligen Scharlatan Pater Pio, der mit allen Mitteln auf seine Heiligsprechung hinarbeitete.] Man kann eben auch alles übertreiben und die Vagheit in ein dunkles Raunen umschlagen lassen. Da wirkt der der geheimnisvolle Blick in höhere Sphären [5:35] nur noch peinlich.

Nach 6 Minuten und 15 Sekunden taucht dann eine symbolische Adaption der Kreuzigung auf, inzwischen ja ein schon vertrautes Motiv in der Musikvideo-Kunst der letzten 30 Jahre, hier in einer variierten Form der Vogelscheuchen-Kreuzigung (die aber schon in Anton Corbijns Inszenierung des Musikvideos zu Nirvanas „Heart-Shaped Box“ von 1993 ihr Vorbild hat).

Das Motiv der Kreuzigung wird verknüpft mit dem wiederholten

Something happened on the day he died
Spirit rose a metre and stepped aside
Somebody else took his place, and bravely cried
I’m a blackstar, I’m a Blackstar.”

Die Gekreuzigten tragen die gleichen Augenbinden wie David Bowie am Anfang des Videos.

Um 7:45 wird dann wieder an die Kultfeier um den Schädel des Astronauten angeknüpft. Einer Gruppe von Frauen wird der Schädel präsentiert, worauf sie in die schon bekannten konvulsiven Zuckungen verfallen, ja sich sogar demütig vor dem Schädel verbeugen. Nun taucht auch noch eine Art Schamane auf und die Bilder werden immer dichter und subliminaler. Ikonographisch ist es der Moment des Todes Jesu am Kreuz. Die Bildebenen mit David Bowie, dem Schamanen, der Gruppe mit dem Schädel und der Kreuzigung werden zu einer Textur verwoben. Die Kamera fährt zurück und zeigt die fahle Kulisse des Dorfes, in das die junge Frau zur Feier des Totenkultes gegangen ist. Und damit endet der Videoclip. Das Letzte, was wir sehen, ist der fünfzackige Stern, der schon das Buch zierte, das Bowie in der Hand hielt.


Zwischen-Text

Ein Element des Ganzen habe ich noch nicht thematisiert, weil es schwer einzuordnen ist bzw. je nach Lesart sofort die Richtung der Interpretation vorgibt. Der Liedtext, der auch am Anfang des Videos gesungen wird, lautet:

In the villa of Ormen, in the villa of Ormen
Stands a solitary candle, ah-ah, ah-ah
In the centre of it all, in the centre of it all
Your eyes

Lassen wir kurz beiseite, was mit „Villa von Ormen“ gemeint sein könnte, und konzentrieren wir uns auf die „solitary candle“. Tatsächlich taucht im Videoclip mehrmals eine Kerzenlampe in einem Haus aus Lehm auf. Gleich nachdem die junge Frau den Helm des Astronauten geöffnet und auf den Schädel geblickt hat, sieht man folgendes Bild (01:36):

Das passt zum Text: In the centre of it all stands a solitary candle. Aber was bedeutet das? Nehmen wir einmal eine biblische Spur auf. In Hiob 18, 6 heißt es etwa: „Dennoch wird das Licht der Gottlosen verlöschen, und der Funke seines Feuers wird nicht leuchten. Das Licht wird finster werden in seiner Hütte und seine Leuchte über ihm verlöschen“. Und in Sprüche 13, 9 differenziert: „Das Licht der Gerechten brennt fröhlich; aber die Leuchte der Gottlosen wird verlöschen.“ Deshalb wurden in Israel den Toten in ihre Gräber immer auch Öllampen mitgegeben.[4] Auf spätmittelalterlichen Bildern etwa des Hl. Hieronymus im Gehäuse symbolisiert die Kerze (samt Totenschädel) nicht nur die begrenzte Lebenszeit, sondern auch die Möglichkeit, dass einem jederzeit „das Lebenslicht ausgeblasen“ werden kann und man sich deshalb der eigenen Sterblichkeit bewusst werden soll.

Es ist aber nicht nur die jüdisch-christliche Tradition, die die Kerze bzw. das Licht im Sinne des Lebenslichtes interpretiert. Nahezu alle Religionen nutzen dieses Bild im Sinne des Memento Mori.

Ungewöhnlich ist freilich das Bild, das für den Bruchteil einer Sekunde am Ende des Videoclips auftaucht (8:46):

Es zeigt nun tatsächlich eine einzigartige Kerze mitten im Zentrum eines Hauses. Vergleichbare Bilder (und damit Analogien) habe ich in der Online-Recherche nicht gefunden. Das führt uns wieder zum Liedtext:

In the villa of Ormen, in the villa of Ormen
Stands a solitary candle, ah-ah, ah-ah
In the centre of it all, in the centre of it all
Your eyes

Über die “Villa von Ormen” gibt es kontroverse Diskussionen im Internet. Einige verweisen auf die norwegische Stadt Ørmen und darauf, dass Ormen auf norwegisch „Schlange“ bedeutet. Ich sehe keinen ikonographischen Beleg dafür, dass hier auf eine Schlange (wie in manchen okkulten Riten) angespielt wird. Das hätte sich der Regisseur des Videoclips sicher nicht entgehen lassen. Eine andere Deutung geht lautmalerisch vor und meint, dass „Ormen“ etwas nuschelig gesprochen wie „all men“ klingen würde. Das finde ich interessant.

Verknappt hieße dies: Im Haus jedes Menschen steht eine einzigartige / spezifische / besondere Kerze. Das würde Sinn machen. Es wäre eine präzise Umsetzung des religiösen Konzepts vom Lebenslicht und würde die Bilder des Clips und den Liedtext auf sinnvolle Weise miteinander verbinden. Und man könnte es legitimerweise auch auf David Bowie selbst und sein Lebenslicht beziehen ohne den Bildern allzu viel Gewalt anzutun. Aber hier befinden wir uns nun endgültig auf dem Feld der Gesamtdeutung(en) des Clips.


Deutungen – Oder: to be about everything

Im The New Yorker schreibt Ben Greenman zur Sucht, die Bedeutung bestimmter Songs von Bowie zu fixieren, dass der Reiz bei Bowie immer in der Vieldeutigkeit seiner Arbeiten liege, dass er nicht als Botschafter festgelegter Inhalte auftrete, sondern als eine Art Katalysator. Und auch im Blick auf Blackstar schreibt er, es sei gut, dass sich Bowie nicht auf bestimmte in der Presse kolportierte Bedeutungen festgelegt habe:

It’s good that he denied it, because his songs should be about nothing, which in turn allows them to be about everything.[5]

Das sollte einen davor warnen, nun selbst eine starre Deutung des Musikvideos und des Musikstücks vorzulegen. Es geht also mehr darum, mögliche und möglichst vielfältige Lesarten im rezeptionsästhetischen Sinn aufzuzeigen.

Naheliegend scheint mir, wenn  man sich den Clip noch einmal anschaut, die Einordnung in das Gesamtwerk von Bowie – also die thematische Verknüpfung mit Space Oddity und Ashes zu Ashes. Das Thema des Space-Cowboys wird hier zu seinem Ende gebracht. Ebenso klar ist aber auch, dass der Tod, die rites de passage und die Situation nach dem Tod eine Rolle spielen. „Major Tom“ selbst ist danach freilich schon lange tot, er ist skelettiert. Es geht darum, wie die Geschichte weitergeht und wie man den Übergang bewältigt. Weiterhin spielen Mythen eine zentrale Rolle: der einsame Reisende, gestrandet an fernen Gestaden; die verzauberte junge Frau in Mensch-Tier-Gestalt; der Schädel als Repräsentationsgegenstand eines / der Toten; der Ort, an den man zurückkehrt / zurückgebracht wird; die Ekstase als Form der Annäherung als das Ganz Andere. Ikonographisch wird in mehrfacher Hinsicht an die überlieferte Tradition angeknüpft: die Kreuzigung, die geschmückten Katakombenheiligen, der Prophet mit dem Buch. Aber es spielen auch die dunklen Mythen eine Rolle: die schwarze Magie, der gnostische Gegensatz von Licht und Finsternis, von „Blindness and Insight“. Und wer will, kann natürlich auch manch Satanisches entdecken. David Bowies frühere Begeisterung für Aleister Crowley leistet dieser Deutungsvariante Vorschub. Man sollte hier allerdings nicht das Spiel mit bestimmten Symbolen mit der Wirklichkeit verwechseln.


Bleibt schließlich der private Mythos des David Bowie, des Trendsetters und Reisenden zwischen den Welten, der sich in seinen Videos spiegelt und doch zugleich auch Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung ist. Von wegen: Nothing has changed.








Lost Control – Letzte Momente

Man kann natürlich seine Nach-Geschichte zu steuern versuchen, aber man kann sie nicht kontrollieren. Auch wenn David Bowie, wie kolportiert wird, noch weitere Musikstücke und weitere Videos produzieren wollte und vom Tod quasi überrascht wurde, so ordnen sich Blackstar und auch Lazarus doch sehr bewusst in die Kategorie der berühmten „Letzten Worte“ ein, die der Boulevard so liebt, auch wenn sie inszeniert sind. Das hat durchaus seine Ambivalenz. Der Künstler, der auch noch seinen Nachruf (sozusagen die göttliche Lesart seines Buches des Lebens) steuern will, hat etwas Hybrides – was ja zu Bowie passen würde.

Erinnert werden muss aber an das, was Madonna 1990 auf dem Flughafen in Rom jenen (genauer: der Kurie in Rom) sagte, die ihre Auftritte als Künstlerin mit dem realen Leben verwechselten:

„Meine Show ist kein konventionelles Rockkonzert, sondern eine dramatische Umsetzung meiner Musik. Und wie im Theater stellt sie Fragen, provoziert zum Nachdenken und nimmt den Zuschauer mit auf eine emotionale Reise, in der Gut und Böse, Hell und Dunkel, Freude und Trauer, Verdammnis und Erlösung dargestellt werden. Ich versuche nicht, jemanden zu einer Lebensweise zu bekehren, ich stelle sie nur dar. Und es bleibt dem Publikum überlassen, seine eigenen Entscheidungen und Urteile zu fällen.“

Im Moment der Veröffentlichung verliert der Autor die Kontrolle über sein Werk – Gott sei Dank – und es bleibt dem Publikum überlassen, seine eigenen Entscheidungen und Urteile zu fällen. Selbstverständlich bleiben die intentio auctoris und die intentio operis die entscheidenden Wegmarken, an denen sich die Interpretation abarbeiten muss, damit sich die Lesarten nicht verselbständigen, aber nicht erst im 20. Jahrhundert sind Artefakte „offene Kunstwerke“.[6]


Die Entwicklungsgeschichte der Ikonographie

Wie schon mehrfach betont, kann die Interpretation von Blackstar nicht an dem videoästhetischen Dreiklang von Space Oddity (1969) – Ashes to Ashes (1980) – Blackstar (2015) vorbeigehen, der deshalb noch einmal explizit in den Blick genommen werden soll.

Space Oddity, unter dem Eindruck von Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ entstanden, zeigt den Aufbruch eines Astronauten in unbekannte Welten, das Schweben in der Schwerelosigkeit, den Abbruch der Kommunikation mit Ground-Control und schließlich die Existenz im losgelösten Raum. Die Videoästhetik ist vor allem in zurückhaltenden Farben gehalten, die fast schon an Schwarz-Weiß-Bilder erinnern. Am Ende sehen wir Szenen in rötlichen und bläulichen Falschfarben, die dann auch wieder in den folgenden Videos auftauchen.

Ashes to ashes, der zweite große Erfolg von David Bowie, zeigt den Protagonisten fast durchgehend in Falschfarben an fremden Gestaden in wechselnden Kontexten, als Clown, als Gestrandeter, als Eingeschlossener und schließlich am Ende als isolierter und an seine Versorgungssysteme gekoppelter Astronaut in der Höhle.

Blackstar, die dritte abschließende Episode, ist ebenfalls weitgehend in Falschfarben gehalten und verortet sich lange nach dem Tod des Astronauten in einer fernen, aber bewohnten Welt, deren Bewohner seine Überreste als Grundlage für einen eigenen, neuen Kult verwenden.

So gesehen entwickeln sich, wie es im mittleren der Videos sinnfällig von Bowie selbst demonstriert wird, immer wieder Bilder aus Bildern. Der Clown der aufbricht – der Astronaut der strandet – der Mensch der sich in der Einsamkeit der Zelle wiederfindet – die Gruppe die die Botschaft weiterträgt. Man könnte auch sagen: vom emphatischen Aufbruch über das grandiose Scheitern im Tod zur Auferstehung in der Gemeinde. So viel Jesus war selten.


Die frühen Reaktionen

Wie einleitend geschrieben, können wir uns bei der heutigen Betrachtung von Blackstar nicht davon lösen, dass David Bowie am 10. Januar 2016 an Krebs gestorben ist und bei der Produktion des Videos natürlich um seine Erkrankung wusste. Weshalb wir eben nach Zeichen für dieses Wissen im Clip suchen, nach Botschaften, die uns Bowie mehr oder weniger geheimnisvoll im Clip gesandt haben könnte. Aber es gibt eben jene Besprechungen in der internationalen Presse und in diversen Blogs, die vor dem 10. Januar erschienen sind und die deshalb bei der Deutung Bowies Tod nicht vor Augen hatten.


Botschaften aus dem Jenseits - Die F.A.Z. vom 1.12.2015:

Boris Pofalla schreibt in der F.A.Z am 1.12.2015 über Bowies neues Album unter der Überschrift „Vertrau niemandem außer den Sternen“ und mit einem geradezu prophetischen Teaser: „David Bowie bringt ein neues Album heraus: ‚Blackstar‘. Es ist klingt nach geheimnisvollen Botschaften aus dem Jenseits, jazzig und düster. Trotzdem ist es kein Jazzalbum – und auch kein Rock’n’Roll. Doch was ist es dann?“ Zunächst einmal beschäftigt er sich mit der Musik des Albums, kommt dann aber auch auf das Musikvideo zu sprechen:

„... aber es gibt ja schon das zehn Minuten lange Video zu „Blackstar“, und man kann sagen, dass es viele Schlüssel enthält zu dem, was auf dem Album passiert: seltsames, etwas unheimliches Zeug. Wir sehen eine Sonnenfinsternis, betrachtet von einem fremden Planeten aus, auf dem ein Astronaut in seinem weißen Anzug gestrandet ist. Dann eine Frau mit einer Art Rattenschwanz, die seinen skelettierten, dekorierten Schädel aus dem Helm nimmt. Sie trägt den Schädel in einer Art Reliquienkästchen durch ein ausgestorbenes Dorf. Später wird er eine Gruppe Mädchen in geblümten Kleidern in Trance versetzen und im Sand wühlen lassen. Dann erscheint Bowie selbst, der sich die Augen verbunden hat und auf einem Dachboden tanzt. ... Die tiefe Einsamkeit derer, die anders sind als die anderen, die funkt aus den Siebzigern in die Gegenwart herüber. Bowie dreht in „Blackstar“ eine weitere Runde in seinem Archiv – nur die Klamotten von damals, die überlässt er lieber dem Museum. Seit einem Jahrzehnt hat er nicht öffentlich gesungen, kein Interview gegeben. Nur in der Musik und in den Videos kommuniziert er mit der Welt – im Reich der Kunst.“[7]

Das ist ganz interessant. Auch die F.A.Z. hebt die Kontinuität der Videos der letzten 45 Jahre hervor. Und der Kommentar sieht die Einsamkeit als verbindende Thematik: „Die tiefe Einsamkeit derer, die anders sind als die anderen, die funkt aus den Siebzigern in die Gegenwart herüber“. Es ist die Einsamkeitder, die woanders sind, jene Einsamkeit, die auch Dave Bowman in „2001: Odyssee im Weltraum“ charakterisiert: fern der Erde, ein Solitär im undefinierten Raum („Jupiter and Beyond the Infinite“), der als einzigen Bezugspartner sich selbst in den verschiedenen Stadien seiner Existenz hat: vom Aufbruch als Astronaut (I), fern in einer anderen Welt (II+III), als sterbender Greis (IV) mit Blick auf die Nachgeschichte. Déjà-vu!


Beautiful Meaningless – The New Yorker 8.01.2016

Unter der wunderbaren Überschrift “The Beautiful Meaninglessness of David Bowie” schreibt Ben Greenman in The New Yorker einen Artikel, der ausgerechnet am 9. Januar 2016, also einen Tag vor Bowies Tod erscheint. Zur Charakterisierung des Albums meint der Autor: „It’s a singer-songwriter record that is willing to stretch its compositions around instrumentation that’s not typically associated with rock and roll.“ Das ist sicher eine treffende Charakterisierung. Zur visuellen Konzeption schreibt Greenman:

“the imagery for the album, which so far includes the iconic cover design and two excellent videos (the film accompanying the title song features a terrifying version of a Bowie whose eyes are buttons glued to the outside of a head bandage), has been equally powerful and provocative.”

Ebenso wirkungsvoll wie provozierend – das wird die Wirkungsgeschichte zeigen, die freilich vor allem von Bowies Tod beeinflusst wird. Ikonisch wird Blackstar daher sicher werden. Zur inhaltlichen Charakteristik schreibt Greenman:

“From the beginning, Bowie showed an interest in exploring the fragmentation of identity and meaning. His career depended heavily on performance, which allowed him to actively deploy various signifiers inside and alongside his music — signifiers of gender, of sexual orientation, even of humanity itself. (The question of radical others, up to and including aliens, surface frequently in his early work.) At some point, he began to look more rigorously into the idea of meaninglessness, and to write songs that were willful participants in their own fragmentation.”[8]

Mit seinen Charakterisierung beschreibt Greenman einen Zusammenhang, der auch für einen der inspirierendsten Theologen des späten 20. Jahrhunderts bestimmend war: Henning Luthers Gedanken zu Identität und Fragment: „Blickt man auf das menschliche Leben insgesamt, so scheint mir einzig der Begriff des Fragments als angemessene Beschreibung legitim“

„Fragmente - seien es die Ruinen der Vergangenheit, seien es die Fragmente aus Zukunft - weisen über sich hinaus. Sie leben und wirken in Spannung zu jener Ganzheit, die sie nicht sind und nicht darstellen, auf die hin aber der Betrachter sie zu ergänzen trachtet. Fragmente lassen Ganzheit suchen, die sie selber aber nicht bieten und finden lassen. Von Fragmenten geht daher eine Bewegung der Unruhe aus, die nicht zu einem definitiven Stillstand führt. Hierin mag gerade für die nichtklassizistischen Künstler wie z. B. die Romantiker der besondere Reiz des Fragments gelegen haben, dem sie gegenüber der abgeklärten Ruhe des glatten, vollendeten Kunstwerks den Vorzug gaben.“[9]

Das zweite, was Greenman zu Recht hervorhebt, ist der Aspekt der Performance. In anderen von mir geschätzten Videos von David Bowie ist dieser Aspekt allerdings noch wesentlich präsenter: etwa im Video zu „The hearts filthy lessons“ von 1995, das viele Elemente der künstlerischen Fluxus-Bewegung der 60er- und 70er-Jahre in 1:1-Unsetzungen enthält.

In den hier in den Blick genommenen Videos ist der Performance-Aspekt dagegen eher fast schon zurückhaltend realisiert. Dennoch spielt er eine Rolle. Theologisch ist die Performance eine Form des Probehandelns, darf also nicht mit der Sache selbst verwechselt werden. Das sollte man auch im Blick auf die Arbeiten von Bowie berücksichtigen. Das hebt Greenman insofern hervor, als er die Performance verknüpft mit der Variabilität der Rollen, die bei Bowie ein zentraler Aspekt ist:

“... performance, which allowed him to actively deploy various signifiers inside and alongside his music — signifiers of gender, of sexual orientation, even of humanity itself”

Diese Rollenvarianz ist ganz sicher eines der herausragenden Charakteristika des Auftretens von David Bowie – von den Anfängen bis zur Gegenwart. Anders als bei Madonna, wo ja die Neuerfindung bzw. Neuzuschreibung von Rollen auch zur Programmatik gehört, ist es bei Bowie aber so, dass er eher zu sagen scheint: schau mal, hier ist noch eine neue Seite an mir.

Greenman kommt in seinem Artikel vom 9.1.2016 zum Schluss, es sei gerade das, was er das Moment des „meaninglessness“ nennt, das Bowies Arbeit so wertvoll mache:

“the idea of meaninglessness ... songs that were willful participants in their own fragmentation.”

Nun kann an dieser Stelle meaninglessness kaum mit Sinnlosigkeit oder Bedeutungslosigkeit  übersetzt werden. Selbst Inhaltslosigkeit trifft es nicht. Gemeint ist ja, dass die Zeichen und Gesten bei Bowie nicht auf eine Bedeutung, einen Sinn, einen Inhalt fixiert werden können. Gemeint ist, dass sie einerseits bewusst (willful) auf Ambiguität, also auf Mehrdeutigkeit hin angelegt sind und dass ihnen andererseits eine konstitutive Vagheit (fragmentation) eingeschrieben ist, die, selbst wenn man eine der in Frage kommenden Bedeutungen realisiert, die vorgenommene Deutung unterläuft. Das würde Bowie in die großen Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts einordnen, die ja alle versuchen, neue Perspektiven auf Materialien zu werfen, die bisher nicht der künstlerischen Betrachtung und Bearbeitung unterlagen, um dann zu sagen: Schau mal, ich habe hier etwas, das auch anders wahrgenommen werden kann, als Du es bisher wahrgenommen hast. Wirf einmal einen neuen Blick darauf.


Satanische Verse – Die Verrückten im Netz

Selbstverständlich gibt es nicht nur die Journalisten des internationalen Feuilletons, die über Bowies „Blackstar“ berichtet haben, es gibt darüber hinaus auch die religiösen Verschwörungsfetischisten, die in allen Arbeiten von David Bowie (und nicht nur dort) den leibhaftigen Satan am Werk sehen. Und so taucht schon im November und Dezember 2015 im Netz Videos auf, die Bowies Video als eines der satanischsten Musikvideos aller Zeiten vorstellen. Wer so etwas mag, kann es sich ja anschauen. Mir wird schlecht bei all dem antisemitischen und geistesverwirrten Müll, der da produziert wird. Video 1  Video 2

Ach ja, Lustiges gibt es in der Szene auch. Erinnert sich noch jemand an all die alten Behauptungen, wenn man dieses oder jenes Musikstück rückwärts abspiele, dann ließen sich satanische Botschaften erkennen? Damals konnte man das mit einfachen Mitteln kaum überprüfen. Heute reicht es, die mp3-Datei in Audacity zu laden und den Effektfilter auf Rückwärts zu stellen. Wer sich das Ergebnis bei Blackstar man anhören will, kann hier reinhören: Video 3. Geradezu avantgardistisch und wenig satanisch, es sei denn man hält alles Avantgardistische für satanisch.


Epilog: David Bowie in tà katoptrizómena
Anmerkungen

[1]    Berger, John (2005): Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Unter Mitarbeit von Sven Blomberg, Chris Fox, Michael Dibb und Richard Hollis. 16. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl (16868).

[2]    Koudounaris, Paul (2014): Katakombenheilige. Verehrt, verleugnet, vergessen. München: Grubbe.

[3]    Kulturgeschichtlich übrigens ein Element der Sekundärbestattung.

[4]    Das Biblisch-Historische-Handwörterbuch (BHH) meint, es habe mehr Öllampenfunde in den Gräbern als in den Häusern gegeben.

[6]    Eco, Umberto (1977): Das offene Kunstwerk. 2. Aufl. Frankfurt a.M: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 222).

[9]    Luther, Henning (1992): Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen. In: Henning Luther: Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts. Hg. v. Gerd Otto. Stuttgart: Radius-Verl. (Radius-Bücher), S. 160–182, hier S. 167.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/99/am529.htm
© Andreas Mertin, 2016