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Bei Brot und WeinEiner Einladung zu einem Tischgespräch folgendAndreas Mertin Zilleßen, Dietrich (2015): Luther. Tischgesellschaft. Bei Brot und Wein. Bielefeld: Luther Verlag (Studienreihe Luther 5) Als Einladung zu einer Gesprächsreihe versteht Dietrich Zilleßen sein Buch. Man müsse nicht zu jedem Gespräch der Reihe kommen, könne auch später dazustoßen und das Verpasste irgendwann nachholen. Die zehn Gespräche, die er anbietet, tragen ganz unterschiedliche Titel und kreisen doch um ein Thema, das sich durchzieht: das Abendmahl bei Luther. Wer Dietrich Zilleßen kennt, weiß, dass er nun nicht mit einer dogmatischen Abhandlung rechnen muss, nicht mit einer exegetischen Fachsimpelei oder einen kirchenhistorischen Beschreibung. Zilleßen holt den Leser, die Leserin dort ab, wo sie stehen, lädt sie ein, einen Blick auf ein Bild zu werfen, ein Ereignis zu erörtern oder ein Reizthema mal genauer nachzugehen. Und der Leser, die Leserin kann sich Kapitel für Kapitel entscheiden, ob er/sie sich darauf einlassen will, etwa, weil es ihn/sie betrifft oder interessiert. Das Gespräch ist nicht voraussetzungslos, Zilleßen erwartet von seinen Gesprächspartnern mitdenken, nachdenken, vorausdenken, Widerspruch. Ohne das macht das Gespräch keinen Spaß. Und so kann der Leser/die Leserin sich am Anfang überlegen, wie er/sie eigentlich selbst zu Luther steht. Denn das erste Kapitel (die erste Einladung) lautet: „Zu Luther stehen“. Man könnte auch sagen: sich zu Luther setzen ...
Das zweite Kapitel (die zweite Einladung) trägt den Titel „Pussy Riot“. Das dürfte die Mehrzahl der Leserinnen und Leser überraschen. Was haben Pussy Riot mit Luthers Abendmahl zu tun? Nun, sicher viel mehr, als es ein Vorzeige-Protestant wie Schorlemmer wahrhaben will. Formaler Anlass für Zilleßens Gesprächsangebot über Pussy Riot ist die Tatsache, dass der Bund der Lutherstädte darüber nachgedacht hatte, ob man nicht der gerade u.a. wegen Blasphemie vor Gericht stehenden und dann verurteilten Gruppe, den Lutherpreis „Das unerschrockene Wort“ geben könnte. Dass Luther etwas mit Anarchistinnen gemein gehabt haben könnte, wird heute eher von der Pius-Bruderschaft als von seriösen Lutherforschern vertreten. Aber, darauf wird man sich schnell einigen können, beiden geht es um die Bedeutung von Zeichen in religiösen Kontexten (Zeichenhandlungen), um die Wahrhaftigkeit der religiösen Botschaft, um den Protest gegen die Korruption im theokratischen System. Da steht selbst mancher heutige Bischof Martin Luther ferner als Pussy Riot. Dass, was Pussy Riot in Moskau gemacht haben, war nun sicher keine Gotteslästerung, wie etwa Schorlemmer meinte. Oder nur insoweit eine Gotteslästerung, wie die Bestreitung der Realpräsenz Christi in Brot und Wein eine ist. Also keine. Aber man kann bei Tisch ja mal drüber sprechen. Wie auch über die surreale Inszenierung des Abendmahls durch Birgitte Niedermaier. Und man kann mit Zilleßen darauf kommen, dass es doch schon eine gute Sache ist, permanent so gut im Streitgespräch zu sein: zumindest um die (legitime) Inszenierung des Abendmahls. Abendmahlsgezänk ist das nur für professionelle Theologen, die ihren Diskussionsstand gesichert wissen wollen. Worum sich Pussy Riot natürlich einen „Dreck“ scheren. In der Sache selbst gibt es zumindest auf lebensweltlicher Ebene kaum etwas zu besprechen. Die Nachbarn in meiner Straße, Katholiken, Lutheraner, Unierte und vermutlich auch Atheisten sind in dieser Sache innerlich alle schon zur reformierten Theologie konvertiert. Wenn ich sie wegen ihrer persönlichen Einschätzung der Eucharistie, des Abendmahls, des Gedächtnismahls frage, sagen sie alle unisono: dient der Erinnerung, ist ein Zeichen. Wir können jedoch einen Abend lang heftig darüber diskutieren, warum sie eigentlich anderer Ansicht sein müssten. Aber sie sind eben auch keine Theologen, sondern Einzelhändler, Metzgermeister, Lehrerinnen, Steuerberater usw. Sie brauchen kein Theologengezänk. Ich schweife ab, dies ist eine Rezension, also nur eine virtuelle Teilnahme an Zilleßens Tischgespräch. Das dritte Kapitel (die dritte Gesprächseinladung) lautet: „Bilderverbot und Abendmahl“. Das ist nun subversiver als ich es erwartet hatte. Noch bevor ich mich auf das Gespräch eingelassen hatte, dachte ich: ja, das ist wahr, beim Abendmahl hat Luther ein Bilderverbot ausgesprochen, ein Verbot, Brot und Wein nur als Bild / als Zeichen wahrzunehmen. Luther mal auf der anderen Seite. Aber nun zum Gespräch bei Zilleßen: Er stellt dem Gesprächsteilnehmer am Anfang / zu Anfang / zu Beginn (vgl. BigS zu Gen 1,1) ein Bild hin: das berühmte Schwarze Quadrat. Ach, leider ist es nur der Gesprächseinstieg, man könnte einen ganzen Gesprächsabend vor diesem Bild verbringen. Inzwischen wissen wir, dass unter dem schwarzen Quadrat zwei übermalte Bilder von Malewitsch stecken (präsent sind), ohne dass wir genau wüssten, welche. Das macht die Nähe zwischen Bilderverbot a la Malewitsch und Luthers Abendmahl noch einmal viel diskutabler. Im sich bei Zilleßen anschließenden Gespräch würde ich gerne eine Apologie der Position des Andreas von Karstadt einschieben, der zwar nicht bei Zilleßen, wohl aber bei dem von ihm referierten Stefan Ripplinger (aus dessen Buch „Bildzweifel“) kritisiert wird. Zum einen: wirkungsgeschichtlich ist Karlstadt leider unbedeutender als ihm hier unterschoben wird. Leider. Hätten wir nicht auf ihn gehört, aber ihn beachtet und seine Beobachtungen bedacht, wäre es heute um unsere wirkungsästhetischen Kenntnisse viel besser bestellt. Karlstadts Stärke ist ja, den konkreten Umgang der Menschen mit den Bildern in den Blick genommen zu haben, als das Faktum, dass sie umstandslos aus Bildern Kultbilder machten. Und keinesfalls stand Karlstadt den Bildern fern, wie ein Blick auf seine Schriften zeigt. Luther mag die ausgewogenere (politisch befriedende) Haltung zu den Bildern gehabt haben, aber er hat uns auch eine autonomie-ästhetische Katastrophe wie Lukas Cranach eingebrockt: eine ikonoklastische, weil funktionalistische Haltung zum Bild, die dem Bild als eigenständigem Ausdrucksmittel nichts mehr zutraut, sondern es nur zur protestantischen Propaganda nutzt. Nicht Karlstadt ist der eigentliche Ikonoklast, sondern Luther. Darüber müsste man noch mal ein abendliches Gespräch ansetzen. Dass bei den Reformierten durch ihre theologische Perspektive auf das Bild „die Kunstproduktion jahrhundertelang fast völlig zum Erliegen“ gekommen sei, wie Ripplinger meint, dürfte man angesichts des Goldenen Zeitalters in den Niederlande für ein Märchen halten. Michael North schreibt in seiner sozialgeschichtlichen Studie „Kunst und Kommerz im Goldenen Zeitalter. Zur Sozialgeschichte der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts“: „Während die Katholiken weiter an ihren Andachtsbildern festhielten, akzeptierten die Reformierten religiöse Themen allenfalls zur Belehrung, sofern sie ihre Gemälde nicht zum Zweck der Unterhaltung oder des persönlichen Vergnügens auswählten. Dieser Unterschied in den Sammlungen von Katholiken und Protestanten markiert in nucleo den Funktionswandel des Gemäldes, der sich in den Niederlanden im 17. Jahrhundert vollzog. Die im Mittelalter und noch im 16. Jahrhundert vorherrschende Andachtsfunktion wich der Unterhaltungsfunktion. Man kaufte sich ein Bild, um sich daran zu erfreuen und sein Haus damit zu schmücken.“ Durch den Kultbildersturm entsteht die Voraussetzung moderner Kunst. Und angesichts der Hinwendung der niederländischen Kunst zum Alltag der Menschen wird man auch von der unterstellten Herabsetzung der einfachen Menschen im reformierten Protestantismus kaum sprechen können. Also kein frühes Fernsehverbot durch reformierte Ikonoklasten. Was aber überaus einsichtig beim weiteren Gespräch von Zilleßen ist, dass wir bei Luther mit der Reflexion von Bild und Abendmahl sehr viel weiterkommen. „Realpräsenz oder symbolische Präsenz, das ist die Frage.“ (40/41) Das vierte Kapitel (die vierte Gesprächseinladung) steht unter der Überschrift „Opfer Christi und Satisfaktion“. Das ist im Augenblick sicher eines der kontroversesten Gesprächsthemen in der Christenheit. Zilleßen schlägt vor es anhand von Luthers Karfreitagspredigt zu diskutieren: „Luther hat in seiner Sakrifikationstheologie die traditionelle Antwort vor Augen, die Versöhnung Gottes durch das Opfer Christi. Aber er hat auch gezeigt, dass es weiterzudenken gilt. ... Christus zeigt in Leiden und Tod, wohin der Mechanismus der gewalttätigen Identifikation führt. Er korrigiert (von Gott her) die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Christus spiegelt die fatalen Konsequenzen einer verkehrten Situation. Sie ist erst dadurch (von Christus her) vor aller Augen. Eine Verkehrung der Verkehrung.“ (56) Und Zilleßen ... „ES ist keine Lösung, keine Befreiung von mimetischer Opferlogik, wenn wir in der gleichen ausschließenden Weise unser Wir gegen das der Anderen positionieren ... Über Gemeinschaft muss diskutiert werden, weil jede bestimmte, konkrete Gemeinschaft stets auch Gemeinschaft in Frage stellt ... Unumgänglich ist die Frage, wie viel Differenz in jeder Einheit möglich ist, wie viel Differenz nötig ist.“ (63f.) Das fünfte Kapitel (die fünfte Gesprächseinladung) widmet sich den „Tischordnungen“. „Judas sitzt am Tisch Jesu und seiner Jünger ... Zum letzten Mahl ... Die Stellung zu Judas definiert den Christen ... [Es kann] sein, dass keiner so wie Judas die Kommunikation fördert.“ (67) Bevor wir dem Gespräch am Tisch weiter folgen, verschaffen wir uns noch einen Eindruck der Tischordnungen im Blick auf Judas in der Kunstgeschichte, beginnend mit Ravenna 520 und endend mit Cranachs Rückgriff auf die abgrenzende Tischordnung: Zilleßen fokussiert die Frage auf die Haltung, die Luther zu Judas einnimmt. „Er charakterisiert ihn als einen immer schon bösen Menschen“ (69). Aber: „Die Frage, wie Luther theologisch zu Judas steht, ist entscheidend. Da, wo Judas (selbst in Teufels Namen) handelt, bleibt er letzten Endes Werkzeug Gottes. Im unaufhörlichen Mächtekampf steht er immer noch unter Gottes Macht. Wenn der Teufel Judas besitzt (in teuflischer Obsession), ist Judas der Opponent Gottes, der ausführt, was der Teufel ihm eingibt. Aber dabei tut er ungeahnt und unbemerkt immer noch das im theologischen Sinn Notwendige ... Aber er, Luther, hat Judas verworfen. Sollte Judas bis in alle Ewigkeit verworfen sein? Gibt es nicht bessere Argumente für Luther?“ (72) Im Blick auf die Deutung der Tischgesellschaft von Katharina Fritsch aus dem Frankfurter Museum für Moderne Kunst im Kontext des Abendmahls, die sich hier anschließt, bin ich skeptisch. Natürlich greift Katharina Fritsch immer wieder mit ihren Arbeiten auch auf den Fundus religiös geprägter Bildschemata zurück. Aber meines Erachtens bilden sie nur das außerästhetische Substrat, mit dem sie arbeitet. „Viele ihrer Arbeiten befassen sich mit den dunkleren Bereichen unseres kollektiven Bewusstseins, mit angstbesetzten Fantasien und Mythen, die Fritsch ikonenhaft in Objekte und Bilder umsetzt“ sagte Robert Fleck einmal über ihr Oeuvre. Es geht meines Erachtens hier eher, wie bei vielen ihrer anderen Arbeiten, um die Evokation des Schreckens, nicht um die Darstellung der Kommunikationslosigkeit einer Tischgesellschaft (als Tischgesellschaft). Wollte man über „die hermetisch-tödliche Verschlossenheit der Tischgesellschaft“ (76) sprechen, würde sich meines Erachtens eher die Abendmahlsdarstellung von Harald Duwe aus der Evangelischen Akademie in Tutzing eignen. Das sechste Kapitel (die sechste Gesprächseinladung) widmet sich dem „gepredigten Christus“. Es geht um Auslegung und Übersetzung, um das geschriebene und das gesprochene Wort. „Luther predigte die Bibel. Er machte sie zum Hörbuch. Das Hören ist ein prominenter Erzählvorgang. Kommt der Glaube aus dem Hören? Luther las die Bibel, ununterbrochen. Er beschäftigte sich sozusagen Tag und Nacht mit der Bibel, weil er sie als Lebenselixier nahm. Als erlösendes Mittel in einem Leben, das er fortwährend vom Teufel bedroht sah. Bibel ist ihm Gottes Wort, wahre Lehre. Ein existenzielles Brot. Alles im Leben Wichtige versteht Luther theologisch.“ (84) - „Es ist Luther also besonders wichtig, den einzelnen Glaubenden ins Recht, gar ins Amt zu setzen, die eigene Glaubenserfahrung am biblischen Wort zu legitimieren, dem Gottvertrauen des Herzens keine kirchliche Instanz überzuordnen. Ich oder wir. Luthers Predigt richtet sich an die Gemeinde. Sie will zu Herzen gehen. Wem schenken wir Glauben? Das Wir des Sprechens schließt das Wir im Gesprochenen und Gehörten ein.“ (93) Das siebte Kapitel (die siebte Gesprächseinladung) dreht sich um „Das unkultische Abendmahl“, um Leonardo da Vinci und Jacopo Tintoretto, die beide je auf ihre Art einzigartige Abendmahlsdarstellungen geschaffen haben. Zuvor fragt Zilleßen aber noch nach nichtsakramentalen Mahlgemeinschaften: „Es mag sein, dass dabei Entdeckungen zu machen sind, in denen religiöse Gehalte ganz profan erscheinen.“ (97f.) Und dann folgt kurz darauf der Satz „Nicht gefragt ist all you can eat.“ Dazu eine kleine Notiz: 1946 hat der Schweizer Künstler Wilhelm Schmid ein Abendmahlsbild geschaffen, dass das sakramentale Mahl der Schweizer Christen als all you can eat im Angesicht einer darbenden europäischen Gesellschaft zeigte. Das Bild steht in der Tradition Leonardo da Vincis und fragt nach dem Zusammenhang von kultischer Praxis und Lebenswelt. Zilleßen nimmt zunächst Leonardo da Vinci ins Blickfeld und er meint „Kirchliches Abendmahlssakrament, Leonardos Abendmahlsbild und Erzählstücke aus biblischen Texten gehören zusammen.“ Persönlich finde ich das aber als eine der schwierigsten Herausforderungen. Nur eine kleine Gruppe von Menschen sieht Leonardos Abendmahlsbild so, wie es ist. Und selbst aus den Bildern, die es räumlich so zeigen wie es ist, lässt sich keinesfalls erschließen, wie es ist. Die Frage: wie steht man vor Leonardos Abendmahl, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Die Mehrzahl der Menschen auf dieser Welt, so sie jemals einen Blick auf das Abendmahl von Leonardo werfen, schauen in der in Schulbüchern abgebildeten 1:1-Perspektive darauf. So, als ob das Bild wie bei meinen Großeltern im Wohnzimmer hängen würde. Und, so vermute ich einmal, die noch größere Zahl an Menschen blickt zunächst auf Leonardos Abendmahl in einer ihrer tausendfachen populärkulturellen Variationen und eine Vielzahl von ihnen zeigt das Arrangement nicht in einer Unterperspektive wie in Mailand, sondern mit einem leichten von oben herabgeneigten Blick. Um Treue und Verrat, um Führungsanspruch und Gemeinschaftsgeist, um Glaube und Zweifel, um Liebe und Sentimentalität (101) geht es aber auch bei den popkulturellen Adaptionen:
Wird die Flut popkultureller Beerbungen des Abendmahls nach da Vinci die künftige Wahrnehmung des Abendmahls beeinflussen? Unbestreitbar hat Leonardos Darstellung 500 Jahre lang die Wahrnehmung des Abendmahls dominiert. Und es ist ein Reiz für Werbetreibende und Spielfilmproduzenten, immer wieder auf diese Ikone zu rekurrieren (man sagt, es gäbe keine amerikanische Serie ohne Abendmahlssequenz nach Leonardo). Aber was immer Leonardo bei seinem Abendmahl gedacht hat, es wird heute überdeckt von seiner Wirkungsgeschichte. Das ist bei dem Abendmahlsbild aus dem Jahr 1592-94 von Jacopo Tintoretto in der Kirche San Giorgio Maggiore in Venedig sicher nicht so. [Hier ist eine kleine Unkorrektheit im Buch von Zilleßen. Das Bild kann nicht, wie dort angegeben von 1547 sein. Es wurde für die Kirche und für den Ort gemalt. Palladio wurde aber erst 1565 mit dem Bau von San Giorgio Maggiore beauftragt. Das Abendmahl zählt daher zu den Spätwerken von Tintoretto. 1570 hatte er für San Polo und Santo Stefano, 1579 für die Scuola Grande di San Rocco Abendmahlsbilder in Venedig geschaffen. Als er mit dem Werk für San Giorgio Maggiore beauftragt wurde, kannten seine Auftraggeber also schon die bisherigen Werke zum Thema die übrigens einen besonderen Blick auf Judas werfen (und ihn auch mit Heiligenschein zeigen). Tintoretto hat die Komplexität seiner Darstellungen des Abendmahls immer mehr gesteigert und dabei auch variiert. Am dramatischsten ist sicher seine Darstellung in San Polo, am theologischsten die hier vorliegende. Das Bild ist wie das Abendmahl von Leonardo nicht für ein allgemeines Publikum gedacht, sondern wendet sich an die zelebrierenden Kleriker. Nur diese konnten vor dem Altar im Chor einen perspektivischen Blick auf das Bild gewinnen. Das Bild öffnet im Chorraum eine weitere virtuelle Seitenkapelle, in der sich vor den Augen der Kleriker der Moment der Wandlung vollzieht, also das, was sie vor dem Altar im Blick auf die Gemeinde vollzogen. Deshalb braucht hier auch nicht vom Kreuz oder vom Tod die Rede zu sein; es geht um die vom Kleriker zu vollziehende Wieder-Holung des Heiligen Mahles. Wie bei Leonardo der Adressat des Freskos die Mönchgemeinschaft ist, die wie die Jünger mit ihrem Meister zusammen Essen und Trinken, so ist hier der Adressat der wie Christus die Eucharistie spendende Kleriker. Und ja, es ist ein durch und durch katholisches Bild, es atmet eine „substanzmäßig abgestufte Hierarchie vom Höchsten zum Niedrigsten aus, eine neuplatonisch-katholische Tradition“ (109). Das ist der Sinn des Bildes und der Wunsch der Auftraggeber. Zilleßen kommt im Folgenden Abschnitt auf die Kochsendungen im Fernsehen zu sprechen. Das steht übrigens in direkter Verbindung zu dem Gemälde von Tintoretto. Anders als bei den vertrauten Abendmahlsdarstellungen der Kunstgeschichte, verortet Tintoretto Jesu Abendmahl bei aller Heiligkeit des dramatischen Geschehens ja relativ präzise im zeitgenössischen Milieu, worauf die San Giorgio Maggiore bis heute Wert legt: „Il soggetto, più volte rappresentato dal Tintoretto nella sua carriera, è ambientato in un'epoca e in un luogo contemporanei all'artista, come si evince dall'abbigliamento degli inservienti e dall'architettura della stanza, simile ad una locanda veneziana.“ Kleidung und Raum orientieren sich an einem zeitgenössischen venezianischen Gasthaus! Das achte Kapitel (die achte Gesprächseinladung) ruft „Lebendige Präsenz“! Was heißt „präsent sein“? Gibt es einen „Verlust der Präsenzdimension in unserer heutigen Kultur“ wie Hans Ulrich Gumprecht meint? Zilleßen fragt bei diesem Gespräch: „Muss Präsenzerfahrung, die sich im Christus konkretisieren will, nicht immer wieder auf eine Erfahrungsgeschichte zurückgreifen, die nicht definitiv abzuschließen ist? Der biblische Kanon trägt so gesehen die Weite, die Offenheit des Geistes in sich, wenn er denn einer fundamentalistischen Verengung widersteht. Was ist also der lebendige Christus in seiner Mahlgemeinschaft? Welche Wirklichkeit nehmen Glaubende wahr, für wahr?“ (125) Es gibt wenige Bilder in der Kunstgeschichte, die das Präsent-Werden wirklich erfassen. Die Mehrzahl der klassischen Abendmahlsbilder schafft das nicht, dafür wurde der distanzierte Leonardo zu stilprägend und war der gegenreformatorische Tintoretto zu didaktisch, er wollte den Moment der Präsenz darstellen und verfehlte ihn darum. Aber vielleicht ist das Emmaus-Bild von Caravaggio jenes, das den Moment des Präsent-Werdens am besten erfasst. Vielleicht, weil der Christus hier so unfassbar sekundär erscheint, weil der heutige Betrachter sich eher in der Position des beobachtenden Gastwirts sieht, der irritiert eine Szene beobachtet, die unglaublich ist: die kannten ihn und haben ihn doch nicht erkannt? Was er (noch) nicht im Blick hat, ist wie der Moment des Präsent-Werdens den Jünger links vorne physisch erfasst, vom Hocker reißt. Und doch ist im letzten den körperlichen Reaktionen der beiden Jünger ein Moment des Ungewissen, des Zögerns, des Unglaubens eingeschrieben, der bleibt, auch wenn man sich des Präsent-Gewordenen vergewissert hat. „Präsenzerfahrung. Um wessen Präsenz geht es, wenn in christlicher Abendmahlspraxis ein Ritual vollzogen wird, in dem Brot gebrochen, gegeben, genommen, gegessen und Wein in den Kelch gegossen, der Kelch genommen und der Wein getrunken wird? Natürlich wird Christi Präsenz geglaubt. Aber keiner weiß genau, was das heißt.“ (119) Das vorletzte und neunte Kapitel (die neunte Gesprächseinladung) dreht sich um die „Verklärte Körperlichkeit“ und spitzt noch einmal die Frage der Realpräsenz bei Luther im Gegenüber zu seinen protestantischen Gegner zu. In der Kunstgeschichte wird die Frage von verklärter Körperlichkeit visualisiert in der Ellipse zwischen Maria von Magdala (Noli me tangere) und dem Ungläubigen Thomas (Streck deinen Finger aus).
Das zehnte Kapitel (die zehnte Gesprächseinladung) ist ein Nachblick, ironisch könnte man sagen: das Predigtnachgespräch. Er stellt die Frage: „Was fangen wir mit dem Begriff realer Präsenz heute noch an?“ (148) Und hier zeigt Zilleßen eine große Offenheit: „In der Pluralität der Positionen wählt jeder Glaube die seine aus. Aber das Problem jeder Kommunikation ist das der Beglaubigung ein Glaubensproblem. Die Mehrheit hat nicht mehr Recht als die individuelle Positionierung. Ist Luthers Glaube offen genug, um diese Offenheit auszuhalten, diese Frage nach Sinn angesichts pluraler Möglichkeiten? Sinn vereint, weil er vieles sammelt, das sich in der Regel nicht mit Logik beantworten lässt. Erfahrungen gewinnen ihre Plausibilität, wenn auch stets unzureichend, nur durch Kommunikation. Gemeinde der Glaubenden ist hier nicht die Institution, sondern ein kommunikatives (oft genug) widersprüchliches Miteinander.“ (151f.) Und deshalb, bevor ich ein letztes Mal aus dem Buch zitiere, noch die kurze appellative Anrede an die Leserinnen und Leser: Wer teilnehmen möchte am virtuellen Tischgespräch, sollte sich das hier nur in Ansätzen skizzierte Buch kaufen und sich anregen lassen zum Mitdenken und Mitstreiten. Es lohnt sich. Dietrich Zilleßen hat weitere Ausführungen versprochen. Kommen wir ins Gespräch mit ihm. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/99/am531.htm |