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Magazin für Theologie und Ästhetik


'Hin - und weg'

Zwei subjektphilosophische Texte zu Nähe und Ferne vor gesellschaftskritischem Hintergrund von Bildungs- und Beziehungsfähigkeit

Frauke Annegret Kurbacher

Die beiden Text, die in dieser aktuellen Dezemberausgabe des theomag erscheinen, sind jeweils aus konkreten anderen Anlässen entstanden.[1] Ihre Zusammenfügung für den hiesigen Kontext von Theologie und Ästhetik veranlaßt zu erneuten Reflexionen, denen ich in dieser Einleitung Raum gegeben möchte, und in der ich auf einen dritten Aspekt hinweisen möchte, der die beiden im Besonderen verbindet.

In beiden Texten geht es um Reflexionen auf eine Subjektstruktur, die ich in der Spannung von Fremd- und Heimischsein als intersubjektives Phänomen zu fassen suche.

Im ersten Text, dem ein Vortrag in Paris vorangeht, mit dem ich auch versucht habe, auf die dortige und hiesige bildungs- und integrationspolitische Situation zu reflektieren, wird dabei – im Rückgriff auf Karl Jaspers – eine Art existentieller menschlicher Sehnsucht offenbart, deren emotional treibende Kraft sich als Motivation für Handlungen, und im hier angeführten kritischen Fall für unmotiviert scheinende Straftaten von friedfertigen Kindern und Heranwachsenden in der Fremde, herausstellt. Die von Jaspers vorgebrachten psychologischen Überlegungen über Symptome, Ursachen und Gründe und ein mögliches Therapeutikum deuten erstaunlicher Weise auf die Rolle von Bildung. So gewinnen diese Reflexionen unversehens eine bildungspolitische Dimension, die auch aktuell die Frage aufzureißen scheint, was wir – als gesellschaftliche Wesen, als Bürger, als Gesellschaft tun, wenn wir weite Teile der Bevölkerung – und keineswegs nur solche mit Migrationshintergrund – von Bildung ausschließen (rechtlich, ökonomisch, sozial) oder bloß unzureichende, unzulängliche, verkürzte Formen von Bildung bereitstellen (s. kulturelle Einschränkungen durch die Haushaltslage, Bachelorisierung und damit Verschulung und stärkere Bürokratisierung an den Universitäten, ökonomisch unzureichende Ausstattung von Bildungseinrichtungen, damit einhergehend z.B. Verkürzung von Bibliotheksöffnungszeiten, Nichtbezahlung von Lehrenden, Verknappung des Stellenangebots bei Stellenbedarf, Ausfall von Lehre aufgrund fehlender Einstellungsmittel, etc.).

Entgegen allen erschreckten und aufgescheuchten Rufen, die hierzulande nach den Pisastudien jedes Mal merklich vernehmbar waren, bleibt gleichzeitig der Eindruck einer – gelinde gesagt – kurzsichtigen und mehr als ambivalenten (wenn nicht gar als heuchlerisch zu bezeichnenden) Wissenschafts- und Bildungspolitik, die Veränderungen im Sinne einer Ökonomisierung (Reduktion) befürwortet und nicht im Sinne von Investition auf die Mängellage reagiert (siehe so z.B. Streichung der Stelle des Kultursenators für die Hauptstadt Berlin, Einsparung erfolgreicher Stipendien- und Frauen-Förderprogramme, Erhebung einer Mehrwertsteuer auf Druckkostenzuschüsse, die die ohnehin unbezahlten wissenschaftlichen Herausgeber tragen müssen). Die Gründe für diese (Selbst-) Widersprüchlichkeiten wären gewiß ebenfalls zu bedenken, doch dies muß an anderer Stelle geschehen, vor allem aber muß eine Änderung von diesem Verhalten erhofft werden, wegen derer letztlich auch mit dem hier Vorliegenden eine Form der Öffentlichkeit überhaupt aufgesucht wird. Die Dringlichkeit einer solchen Änderung mag der erste Beitrag – aus philosophischer Sicht – belegen.

Der zweite von meinen Texten für diese Ausgabe ist in zwei Varianten aus zwei verschiedenen Anlässen entstanden, aus denen für das theomag eine dritte Version erstellt wurde.

Wie auch schon zuvor, geht es um die inner- wie intersubjektiv wirksame Struktur des zugleich Fremd- und Heimischseins, die nun aber anhand des letztlich ästhetischen Reflexionsgegenstandes des „Souvenirs“ als ein Analogon zum selbstkonstitutivem Geschehen von Liebe und Freundschaft begriffen wird.

Im erinnerungstheoretischen und gleichzeitig profanem Zusammenhang, in dem dieses Geschehen mit Blick auf das Souvenir gerückt ist, kann auch der weitere Kontext, aus dem heraus diese Überlegungen entstanden sind, nicht unbemerkt bleiben. Die Überlegungen zum Souvenir entstanden in Hinblick auf eine Einladung zu einem Symposion-Vortrag anläßlich der Finissage der Ausstellung „Der Souvenir“ im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt am Main.[2] Diese absolut sehenswerte, umfassende und unvergleichlich, im besten Sinne reflexiv angelegte Ausstellung, die Exponate aus dem Bereich der angewandten Kunst mit solchen der modernen, bildenden Kunst kombinierte, in einer Weise, die jeweils das eine im anderen nachdenkend und kritisch widerspiegelte, vereinte vor allem in der ersten Etage eine erhellende und besonders erwähnenswerte Abfolge von zwei, drei Räumen. In der Abteilung für das 18. Jahrhundert unter dem sinnfälligen Titel: „Phänomenologie des Intimen“ mit seinen handwerklich ausgefeilten, feinsinnigen Kleinodien eines ebenso ausformulierten Freundschaftskultes der Zeit (Poesiealben, gerahmte Locken der Erinnerung, Trauerringe, bebilderte Fächer etc.) führte,[3] dem Verlauf der Ausstellung folgend ein naher und nur schmaler Gang aus dieser Fülle des Herzlichen und Herzigen in die erschütternde Kargheit eines Raumes mit spärlichen Erinnerungsstücken ehemaliger KZ-Insassen.[4] Was diese wenigen Reste und Überbleibsel einer persönlichen Habe und Intimität inmitten einer systematisch reduzierten und zur Auslöschung vorgesehen Subjektivität für ihre Besitzer und deren Umgebung bedeuten haben mögen, ist kaum auszudenken und wird doch ahnbar in dieser mit so viel Respekt wie Feinfühligkeit gestalteten Darreichung einiger Stücke, die so gar nichts von der im Souvenir suggerierten oberflächlichen Leichtigkeit eines Reiseandenkens haben und dennoch merklich zur Thematik des Erinnerungsstückes gehören und keinesfalls fehlen dürfen.

Ein mit einer Laus besticktes Taschentuch,[5] ein aus vier Herzen zum Kleeblatt gefaltetes Poesiealbum,[6] in das Mithäftlinge Wünsche, Gedichte und Sprüche geschrieben haben, das wie zum Anschauen in der Hand gehalten präsentierte „Lagerkleid“[7] und andere wenige Stücke mehr. Die fühlende Diskretion, die der mit grauen transparenten Jalousien verhangene Raum atmet, - Differenziertheit, Humor, Lebenswille, Traurigkeit und Verzweiflung, die aus den Exponaten spricht, geben eine vage Vorstellung von dem Leben und dem Grauen und dem Alltag, das sich bis heute hinter den zur Nummer reduzierten Inhaftierten verbirgt. Gerade die Abfolge der Räume läßt noch einmal verständlich werden, was es heißt, seiner Intimsphäre, seiner Persönlichkeit beraubt zu werden. – Ein Umstand, der nur im Gesamt der Ausstellung ersichtlich wird, und ebenso gewahrt sein sollte, falls es – was zu wünschen ist - zu Übernahmen dieser Ausstellung kommt.

Umso wichtiger scheint es mir, auch an dieser Stelle öffentlich zu reflektieren, was bereits eine kleine Öffentlichkeit auf dem abschließenden Symposion dieser Ausstellung gefunden hat. Sabine Runde, die sich auch für die Gestaltung des Raumes zu den KZ-Erinnerungsstücken verantwortlich zeichnet, gab auf dieser Tagung einen kleinen Über- und Einblick in den mehrere hundert Seiten starken Pressespiegel einer zurecht überdurchschnittlich in den Printmedien wahrgenommenen Ausstellung.[8] In vielen Artikeln werden dabei auch Ausstellungsstücke des NS-Raumes gezeigt, allen voran das Kleeblatt-Album, während die Beschriftung und Untertitelung im besten Fall korrekt alle Angaben präsentiert, denen hierbei aufgrund des historischen Hintergrundes besondere Wichtigkeit zukommt. In vielen Fällen erfolgt jedoch noch nicht einmal dies, womit die traurigen Umstände der Entstehung und Herkunft verschwiegen werden. Darüber hinaus schafft es jedoch offenbar keine Zeitung, - auch keine überregionale –,  im Artikel selbst einen diesbezüglichen, angemessen Absatz zu verfassen. Selbst im Zeitungsartikel – einundsechszig Jahre nach Kriegsende – scheint es nurmehr Schweigen zu geben.

Zusammengenommen mit zwei weiteren kritischen Tagungsbeiträgen zur nämlichen KZ- und NS-Erinnerungs-Thematik, von denen einer sich explizit mit öffentlichem Gedenken und der andere sich auch mit dem Absatz findenden unreflektieren Souvenir (z.B. eine Nachbildung der Wolfsschanze zum Nachbasteln) aus ehemaligen NS-Wirkungsstätten auseinandersetzte, kann dieser Umstand wiederum nicht schweigend hingenommen werden. Sondern es muß gefragt werden, wie es zu einem solchen Schweigen und Ausklammern kommt, das selbst, wenn es partiell aus angemessener Pietät ergriffen wird, nicht alleinige Reaktion bleiben kann und kein gemeinsam notwendiges Sprechen und Nachdenken zu ersetzen vermag.[9]

Als ich abends von meiner Reise nach Frankfurt wieder in Berlin ankam, habe ich spät und zur Entspannung einfach den Fernseher angestellt, wo auf einem der niveauvolleren Sender – wieder einmal – muß gesagt werden, eine Dokumentation im Enthüllungsgestus über KZ-Verbrechen zu sehen war. Die Fülle dieser Bilder des Grauens und die Art der Sendungen lassen in gewisser Weise offen, ob der Rezipient abgenervt vom x-ten Bericht dieser Art weiterzappt, neutral vor dieser Bilderpräsentation bleibt, an die das nachrichtengeschulte Auge sich gewöhnt hat, oder sich den geilen Kitzel des Grauens holt, - oder ob diese Bildermasse doch noch Raum zur kritischen, verantwortlichen Reflexion läßt. Nicht weg zu schauen, bedeutet offenbar nicht unbedingt einfach hinzugucken.

Im KZ-Souvenir-Raum des MAK scheint im Gegensatz zu dieser Omnipräsenz der Bilderflut in der Wahrnehmung wieder etwas nah zu rücken, etwas zu berühren, das der Bürokratie, der Gewohnheit der Aufarbeitung, Abarbeitung, Ausarbeitung wieder ein lebendiges Moment und damit wirklichen Schrecken und Trauer zurückgibt. Die zu konstatierende Unfähigkeit hierzulande, öffentlich darauf zu reflektieren, stimmt bedenklich. Über ihre Gründe wird nachzudenken und sie selbst zu ändern sein.

Offen Auges geduldete Bildungsabstinenz und öffentliches Schweigen angesichts der eigenen Vergangenheit sind die beiden sehr konkreten, aktuellen Einbettungen für zwei philosophisch reflektierende Texte. Die direkte Verbindung zwischen den beiden derzeitigen Umständen – von Bildungs- und Beziehungsfähigkeitsverlust, liegt nah, wenn nicht auf der Hand. Folgendes versteht sich aufbegehrend und widerständig dazu.

Anmerkungen
  1. Drei besonders entscheidende Anlässe seien hier genannt: einmal die vierte Tagung innhalb der Forschungsreihe „Gebildet. Europa als Bildungsprozess“ des „Internationalen interdisziplinären Arbeitskreises für philosophische Reflexion“ (IiAphR) zur Thematik „Sehnsucht und der europäische Traum – Nostalgie et le rêve européen“ vom 28. – 30. September 2006 in der Maison Heinrich-Heine in Paris, der 65. Geburtstag von Heinrich Hüni und die damit verbundene Festschrift und ein Symposion vom 28. – 29. Oktober 2006 anläßlich der Finissage der Ausstellung „Der Souvenir“ im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt am Main, die von Ulrich Schneider, Andreas Beyer, Günter Oesterle, Helmut Gold und vielen anderen konzipiert war.
  2. Siehe hierzu Sabine Rundes Katalog-Beitrag: „Traumatische Erinnerung – Erinnerungsstücke an den Holocaust – eine unvollendete Vergangenheit“. In: MAK: Souvenir. S. 243-275.
  3. Siehe auch das gleichnamige Kapitel mit dem Untertitel: „Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit“ von Anna Ananieva und Christiane Holm im umfangreichen Katalog zur Ausstellung „Der Souvenir – Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken “, Museum für Angewandte Kunst, Frankfurt am Main 2006. [Künftig zitiert: MAK: Souvenir.] S. 156-187.
  4. Symposion „Nachgedacht – Erinnern und Vergessen“ vom 28. - 29. Oktober 2006 im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt am Main.
  5. Es handelt sich um das Häftlingskleid von Erna Korn, später de Vries. Geschenk von Erna de Vries 1998. Fürstenberg, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Inventar-Nr. V 2105 D2. Siehe: MAK: Souvenir. S. 249. Abb. 3.
  6. Es handelt sich um ein Poesiealbum, Fürstenberg, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Inventar-Nr. V 957 F2. Ohne nähere Angaben zur Besitzerin. Transkript liegt vor. Vgl. MAK: Souvenir. S. 255. Abb. 7.
  7. Hierbei handelt es sich um ein Taschentuch mit Lausmotiv, Fürstenberg. Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, ohne Angaben, Inventar-Nummer V732 D5. Ohne näheren Angaben. Siehe auch MAK: Souvenir. S. 253. Abb. 5.
  8. Sabine Rundes Vortrag auf dem Souvenir-Symposion lautete: „Zwischen Sehen und Wahrnehmen. Der Souvenir und die Erinnerung an den Holocaust. Reaktionen empirisch betrachtet.“
  9. Gemeint sind die Beiträge von Insa Eschebach: „Öffentliches Gedenken“ und von Ulrike Dittrich „Ein Ort, von dem man gerne was mitnimmt. Andenkenobjekte im Spannungsfeld von Marketing, Gedenkstättentourismus und Erinnerung an die NS-Verbrechen“. Zur selben Thematik siehe auch: den in der Reihe der brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung: „Protokolle“ von Ulrike Dittrich und Sigrid Jacobeit herausgegebenen Band: „KZ-Souvenirs. Erinnerungsobjekte der Alltagskultur im Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen“. Berlin 2005.

© Frauke Annegret Kurbacher 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 44/2006
https://www.theomag.de/44/fk07.htm