Die 54. Biennale

in Venedig

Spaziergänge

auf der Insel der Kunst

Andreas Mertin

Die 54. Biennale in Venedig, die von Anfang Juni bis Ende November 2011 geöffnet ist, hat in der Kritik ein überaus ambivalentes Urteil erhalten. Weder im Blick auf den zentralen thematischen Pavillon ILLUMInazioni noch im Blick auf die großen nationalen Pavillons gab es konsensuale Urteile.

Einen common sense gab es allenfalls in der Ablehnung und Verachtung des italienischen Beitrages, der als willkürlicher und unbegründeter Angriff auf das Betriebssystem Kunst und als kontingent zusammengestellter Gemischtwarenladen empfunden wurde. Letztlich war das aber nicht wirklich überraschend, denn schon der Beitrag Italiens zur 53. Biennale 2009 war eine einzige künstlerische und optische Katastrophe, so als ob der ästhetische Faschismus mit seinen Lichtdomen wieder belebt werden sollte.

Man kann dem italienischen Pavillon aber eigentlich nur dankbar für die Inszenierung sein, zeigt er doch, was geschieht, wenn über Kunst nicht nach den Regeln des Betriebssystems Kunst, sondern am Stammtisch (sei dieser nun bürgerlich oder kleinbürgerlich, wissenschaftlich oder kommunalpolitisch) entschieden wird. Es liegt in der Logik der Inszenierung, dass es genügend Menschen geben wird, die sich vom italienischen Pavillon angesprochen fühlen (er war ja so etwas wie ein Wochenmarkt der Kleinkunst). Wem das gefällt, sollte sich fragen, welche Vorstellung er eigentlich vom Sinn der Kunst in der Neuzeit hat. Ich vermute, das wird dann eher auf Kreativität, handwerkliches Geschick, Interessantes und Pittoreskes hinauslaufen. Nein, der italienische Pavillon kündet vom gewollten Ende der Kunst, nicht im Sinne ihrer Aufhebung, sondern im Sinne ihrer Überführung in die Trivialität und Banalität. Das provozierende „Anything goes“ wird hier in seiner falschen Lesart verwendet: nicht als Lackmustest darauf, was gerade noch geht, sondern als schreckliche und schrankenlose Beliebigkeit mit der Orientierung am schlechten Geschmack.

Sieht man einmal vom italienischen Pavillon ab, dann versprach die 54. Biennale dennoch Herausforderndes und Diskutables. Wenn es, wie Bazon Brock einmal sagte, zur Kunst gehört, dass sie Gemeindebildung durch Differenzerzeugung betreibt, dann war diese Biennale jedenfalls viel versprechend. Dennoch ist mein Gesamteindruck nach dem Besuch nicht so positiv, wie ich ihn bei den letzten Biennalen empfunden habe.

Wenn ich dieses Unbehagen benennen sollte, dann orientiert es sich an der Übermächtigkeit der Wirkungsästhetik, am Aufsprießen eines regressiven Ausdrucks von Religion in einem geradezu barock gegenreformatorischen Sinne, am Vordringen der Kopie oder sagen wir vornehmer und zeitgeistorientierter des Sampling, und schließlich angesichts der Verachtung, die ästhetischer Erfahrung ebenso wie dem ästhetischen Diskurs entgegenschlägt.

Und ein letztes Argument: diese Biennale war mir viel zu viel Höhle und viel zu wenig Insel. Immer wieder musste man in klaustrophobische Behausungen steigen, um sich einer elektronisch erzeugten Bilderflut auszusetzen oder auf einer verdunkelten Baustelle herumzukrabbeln. Das hat beim allerersten Mal ja noch seinen Reiz, aber inzwischen sind doch so viele Jahre vergangen, dass die Inszenierung eines Pavillons als künstlerisches Ersatzkino oder als Arte-Povera-Baustelle niemanden mehr vom Hocker reißen sollte. Zumal sich der peinliche Effekt einstellt, hier sei nicht das Kunstwerk, sondern nur der Name des erschaffenden Künstlers ausgetauscht worden.

Und schließlich muss man auch noch einmal nachdenken über die künstlerischen Kollateralschäden (in der Biennale-Terminologie Eventi collaterali). Ich verstehe, dass auch renommierte Künstler während der Biennale ihren Auftritt haben wollen, aber so routiniert aufgeblasen wie dieses Mal finde ich das dann nicht mehr gewinnbringend. Wenn es nur noch um das Größte, Goldenste oder Markanteste geht, das andernorts auch schon seine Aufmerksamkeit gefunden hat, dann sollte man es sich doch schenken und nicht während der Biennale wiederholen. Dazu gleich noch mehr.

Natürlich gab es auf der 54. Biennale mehr als genug Gutes zu entdecken und zu sehen, aber es blieb doch eine gewisse Leere zurück. Beim Rückflug fragte ich mich, was mir wohl von dieser Biennale dauerhaft in Erinnerung bleiben würde. Und ich konnte es spontan eben nicht benennen. Eine Abiturklasse mit Schwerpunkt Kunst, die mit mir im Flieger saß, nannte mehrheitlich den japanischen Pavillon, und meine Freunde, mit denen ich in Venedig war, verwiesen auch mehrfach auf die Arbeit von Tabaimo. Vermutlich haben sie Recht und ich hatte es nur nicht wahrgenommen, denn ich war nach wenigen Minuten aus der Höhle dieses Pavillons geflüchtet. Mir persönlich erschienen der israelische Pavillon von Sigalit Landau und der französische Pavillon von Christian Boltanski am stärksten: poetisch, politisch, schneidend.

ILLUMInazione (Der Hauptpavillon)

Ich habe mich im Vorfeld gefragt, ob die Entscheidung von Bice Curiger, drei Gemälde von Tintoretto ins Zentrum der Ausstellung zu hängen, funktionieren könne. Insbesondere im Blick auf das Abendmahl schien es mir fraglich, ob die ortsbezogene Anlage des Bildes auf einen fremden Ort (den White Space als Heterotop) übertragen werden könnte. Und es hat mich überrascht, wie gut das gelang. Nicht im liturgischen Sinne, der von der Inszenierung in den ILLUMInazione nahezu vollständig zerstört wurde. Das lag nicht nur daran, dass das korrespondierende Gemälde von der Mannaspeise an seinem ursprünglichen Ort verblieben ist. Es lag auch daran, dass der dramaturgische Gehalt des Bildes, die Darstellung des Momentes der Wandlung beim Abendmahl, in der Präsentation überhaupt keine Rolle spielte. Dass es sich um die Eucharistie im gegenreformatorischen Duktus handelt, war bedeutungslos.

Aber was herausragend gelang, war, der Arbeitsweise von Tintoretto auf die Spur zu kommen, befreit vom Ballast der Religionsgeschichte konnte man nun der Raumkonstruktion – vor dem Bild auf und abwandernd – nachgehen. Das war sehr eindrücklich. Im Blick auf die anderen beiden Bilder war es so, dass man ihnen vermutlich deutlich mehr Aufmerksamkeit schenkte, als man es bei der beiläufigen Betrachtung in der Akademie getan hätte. Für das kunstgeschichtlich nicht spezifisch gebildete Publikum hätte ich mir aber gerade bei diesen Schlüsselwerken etwas mehr Informationen gewünscht.

Was ich aber bezweifeln würde, dass die drei Werke von Tintoretto so etwas wie eine Schlüsselfunktion für die gesamte Hauptausstellung hatten. Ich möchte auch bezweifeln, dass jemand ausgehend von diesen drei Werken durch die Ausstellung gelaufen ist. Dass Bice Curiger das auch nicht geglaubt hat wird meines Erachtens daran deutlich, dass sie an anderen Stellen zu geradezu pädagogischen Interventionen gegriffen hat, um das Thema Licht, Dunkel, Erleuchtung wieder in Erinnerung zu bringen, z.B. am Eingang des Arsenale.

Dennoch ist die Präsentation der Tintorettos hoch interessant, stellt sie doch einen Vorschlag dar, das Alte mit dem Neuen zu sehen bzw. das Neue vor dem Alten zu sehen. Die höchst kritische Frage aber ist dann: was bedeutet das für das Neue? Vermag die zeitgenössische Kunst einzulösen, was Tintoretto / Bice Curiger ihr an Erkenntnisperspektiven vorgibt? Ein oder zwei Biennalen zuvor hätte ich Ja gesagt, aber bei dieser bin ich mir nicht ganz sicher.

Kehren wir zurück an den Eingang der ILLUMInazione, dann finden wir auf der linken Seite eine pädagogische Elementarsituation mit einem Schulraum von NICOLAS PARIS und einer dialektischen Unterhaltung zweier sprechender Kunstfiguren von NATHANIEL MELLORS.

Über CINDY SHERMANs Arbeiten gab es zwischen uns, die wir die Biennale erkundeten, kontroverse Diskussionen, die einen fanden sie treffend und beeindruckend, andere vor dem Hintergrund der früheren Arbeiten von Cindy Sherman blass und wenig ausdruckskräftig. Mich interessierte die eingetragene Differenz (etwa von Kleidung, Haltung und Gestik einerseits und z.B. den Schuhen andererseits), die die dargestellten Figuren noch einmal veränderten.

Die Arbeit von NORMA JEANE kann natürlich nur verstanden werden, wenn man den gesamten Prozess vom dreischichtigen geradezu monolithischen Plastilin-Block am Anfang bis zur Graffiti-verschmierten Hafenkneipen-Situation am Ende mit vollzieht. Was nach vier Monaten Biennale wie eine verkommene Ecke in einem heruntergekommenen Stadtviertel aussieht, war am Anfang noch klarer und durchschaubarer und wurde dann nach und nach durch die Biennale-Besucher verändert. Sehr eindrücklich.

PIPILOTTI RIST heiter-ironisches und zugleich luzide-böses Spiel mit Konvention und Überlagerung hat mir sehr gut gefallen. Den konventionalisierten Blick zur Grundlage nehmend und ihn filmisch überlagernd, versetzen die Arbeiten den Betrachter in eine Situation, in der er nicht weiß, ob sich die Künstlerin über seinen wieder erkennenden Blick und sein wieder erkennendes Sehen lustig macht, oder ob sie die alten Blick-Konventionen nur mit neuen Blick-Konventionen überlagert. Ein Kabinett der Ambivalenz.

Die Kuratorin Bice Curiger hat einige Künstler gebeten, Raumkonzeptionen (Para-Pavillons) zu entwickeln. Eine davon hat MONIKA SOSNOWSKA entworfen, die wahrnehmbar die Besucher zu eigenen Raumexperimenten herausforderte. Innerhalb des Pavillons waren Arbeiten von DAVID GOLDBLATT und HAROON MIRZA zu sehen. Die Fotoarbeiten von David Goldblatt überzeugen vor allem durch ihre Story und ihren Inhalt, künstlerisch haben sie mich dagegen nicht richtig gefesselt. Hochinteressant fand ich die Arbeit „Sick“ von Haroon Mirza, der in einer Mixed Media-Installation den Besucher auf eine synästhetische Erfahrungsreise schickte.

Ebenfalls eine gute Wahl fand ich die Arbeiten des Mexikaners GABRIEL KURI, der scheinparadoxe Konstellationen platzierte, wenn er etwa Schichtungen von Felsbrocken und Socken an die Wand hing oder in einer Mixed Media Installation mit dem Titel Kommunikationsdiagramm eine Muschel pers Seil mit einer Betonrolle verband und im Acrylglaskasten kommunizieren ließ.

Bleibt für den Hauptpavillon noch die Reaktion auf CATTELANs Tauben. Sie sind in der Kritik nicht gut weggekommen, zu banal, zu absehbar, zu alt. Das ist sicher nicht falsch, aber wenn man durch die Ausstellung geht, stellt sich mit der Zeit ein Gefühl des Verfolgtseins ein, ganz verwandt mit dem in Hitchcocks „Die Vögel“, nur dass Cattelans Tauben eher zufällig wie echte Tauben überall rumsitzen. Aber sie sind starr und stumm und das verstößt gegen die Wahrnehmungserwartung. Es gibt sicher aufregendere Arbeiten von Cattelan, aber schlecht finde ich die Tauben darum nicht.


Die Länder-Pavillons

Der große Vorteil der Biennale gegenüber der documenta ist die Tatsache, dass es die Länder-Pavillons gibt, dass also ein großer Teil der gezeigten Kunst von verschiedenen Kuratoren ausgewählt wird. Das kann den Nachteil haben, dass am auf grauenerregenden Kitsch wie im italienischen Pavillon stößt oder auf politische Auftragskunst wie im Pavillon des Iran. Aber es zeigt doch ganz gut etwas von der Fülle und dem Reichtum der Kunst in der ganzen Welt. Es eröffnet neue Perspektiven oder zeigt, wie ein lange unter Unterdrückung leidendes Land nun mit Siebenmeilenstiefeln die Moderne durchschreitet, um auf der Höhe der Zeit anzukommen, wie es gut am Pavillon von Albanien zu beobachten war.

Man hat leider nie die Zeit, viele, geschweige denn alle Pavillons zu besuchen, aber einige seien doch benannt.

Ungarn: Dieser Pavillon mit der in Berlin lebenden Künstlerin HAJNAL NÈMETHS hat mich nicht überzeugt. Zu theatral das Ganze, zu wenig Freiräume für ästhetische Erfahrungen jenseits des Theatralen. Die Geschichte des AutoCrashs und seiner trauma-bearbeitenden Rekonstruktion ist vielleicht als Oper geeignet, erreicht aber meines Erachtens nicht die Gattungsgrenze der Bildenden Kunst.

Österreich: „Ich will doch nur spielen“ könnte man den österreichischen Pavillon betiteln und das Spiel von Markus Schinwald kann man reizvoll finden oder nicht. Ganz so radikal wie frühere Arbeiten im österreichischen Pavillon ist er nicht, auch Schinwald erliegt der Versuchung cineastischer Inszenierung. Das Spiel mit dem Schein-Labyrinth, das nur den Blick auf die Beine und Füße der anderen Besucher freigibt, ist leider zu schnell zu durchschauen.

Serbien: Nicht überzeugt hat mich der serbische Pavillon. Es ist doch keine wirkliche künstlerische Untersuchung, wenn man die Gestalt des Hakenkreuzes variiert. Und auch Symbole haben eine andere Dimension als die hier gezeigten.

Ägypten: „Man kann den Tod interpretieren als eine Art fristlose Kündigung“ – auch den gewaltsamen Tod eine Künstlers, der Opfer des Polizeiterrors auf dem Tahir-Platz geworden ist. Das Problem ist, was hier eigentlich ausgestellt wird: Moral? Zeitgeschichte? Werturteile? Wäre AHMED BASIONY jemals im ägyptischen Pavillon ausgestellt worden, wenn er nicht von Scharfschützen erschossen worden wäre? Hätte seine Performance-Kunst ausgereicht, um auf der Biennale gezeigt zu werden? Ich weiß es nicht. Aber die Präsentation macht aus ihm eine Art Propaganda-Objekt. Und ist das legitim, weil hier die Propaganda für eine gute Sache ist, während sie im Pavillon des Iran für ein Terror-Regime betrieben wird? Ich weiß es nicht. Klar aber ist, dass die Botschaft des Pavillons zur Eröffnung der Biennale eine andere war als nun vier Monate später, insofern sich die Revolution als bloße Entfernung einer herrschenden Familie unter Beibehaltung der staatlichen Repression erwiesen hat. Eine wirklich tragische Inszenierung.

Polen: Atemberaubend ist der polnische Pavillon, der von der Utopie eines Wiederauflebens eines Jewish Renaissance Movements handelt. Die Künstlerin YAEL BARTANA sinnt uns die Rückkehr der aus Polen vertriebenen Juden als scheinbares politisches Programm an. Was wäre, wenn nicht Israel, sondern Polen der neue Zufluchtsort jener wäre, deren Großeltern einbmal das Land vor dem Naziterror verlassen mussten? Die Ästhetik, mit der sie diese politische Programmatik inszeniert, ist dabei bewusst an die Parteitagspathetik der totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts angelehnt, so dass einem wirklich der Atem stockt. Ich stelle mir vor, etwas Ähnliches gäbe es in Deutschland oder im deutschen Pavillon: die Forderung der Rückkehr von 3,3 Millionen Juden zur Etablierung einer politisch-bedeutsamen Bewegung hierzulande. Wäre so eine Ausstellung überhaupt denkbar. Es zeigt auch den Mut Polens, dieses Risiko eingegangen zu sein. Aber es geht nicht nur um die Kontrastierung von politischer Idee und ästhetischer Inszenierung, sondern auch um die Frage, was Multikulturalismus in der Gegenwart bedeuten könnte, wie Identitätsbildung in einer globalisierten Welt funktionieren könnte. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist dabei nur eine Fokus, an dem man das diskutieren kann, die Fragestellung geht aber weit darüber hinaus. Ein provozierender und erkenntnisproduktiver Pavillon.

Griechenland: Puristisch schön ist der Pavillon Griechenlands unter der Hand DIOHANDIs geworden, man könnte es eine Rückbesinnung auf reduktionistische Formen der Kunst nennen. Wer von früheren Biennalen den griechischen Pavillon in Erinnerung hatte, war erstaunt über die Holzbretter, die er nun zu Gesicht bekam. Keine Reminiszenzen an die Geschichte, klare Proportionen und auch im Inneren die Reduktion aufs Nötigste. Ein Laufsteg für den Besucher, umgeben von Wasser und erleuchtet von hellem Licht. Mehr nicht, aber eben auch nicht weniger. Wer den griechischen Pavillon vorher nicht kannte, mag vielleicht enttäuscht sein, aber für aller anderen war es eine überzeugende Auseinandersetzung mit der Geschichte des nationalen Pavillons.

Brasilien: Nein, radikale Poesie sieht anders aus. Und die Verklärung des Gewöhnlichen ist inzwischen ein Gassenhauer der Kunstgeschichte. Ich verstehe nicht, warum man uns dies in einer Ausstellung von Gegenwartskunst als revolutionär und bedeutsam vorführt. ARTUR BARRIOs gezeigte Arbeiten überzeugen mich in der Präsentation nicht.

Israel oder Die Poetik des Politischen: Wie eine wirkliche radikale und überzeugende Poesie des Politischen aussieht, zeigt dieses Mal der Pavillon Israels. In all den Jahren zuvor fand ich diesen Pavillon immer zu reduziert, zu wenig aussagekräftig, zu uninspiriert. Das ist dieses Jahr ganz anders. Der Künstlerin SIGALIT LANDAU ist es gelungen, einen ebenso poetischen wie politischen Pavillon zu gestalten, ebenso erzählerisch wie formal reduziert. So stelle ich mir Kunst der Gegenwart vor. Auch sie operiert mit einer Baustellensituation, mit cineastischen Elementen, die ich bei Anderen kritisiert habe. Aber sie tut es künstlerisch überzeugend. Es gelingt ihr, die komplexe Raumsituation des israelischen Pavillons im wahrsten Sinne zusammenzubinden. Und sie schafft eine Verbindung verschiedener Einzelwerke, die den Besucher überzeugt und zu künstlerisch vermittelten Erkenntnissen führt. „One man’s floor is another man’s feeling“ steht auf dem Pavillon geschrieben.  Wer den Pavillon betritt stößt zunächst in der unteren Ebene auf die Installation „King of the shepherds and the concealed part“, die große Metallrohre durch das gesamte Gebäude führt. Dazu hat sie eine Wand aufgebrochen und die Rohre hindurchgeführt und diese dann weiter geleitet, so dass sie noch oben und nach draußen führen. Die Rohre verbinden alles, ein mechanisches Netzwerk des Wassertransports, zugleich eine Metapher für die schicksalhafte Verbindung der Menschen. Von der unteren Ebene führen zudem Wasserleitern hinauf zur dritten Ebene des Hauses. Noch auf der unteren Ebene stößt der Besucher dann auf die Videoarbeit „Azkelon“, eine Verschmelzung der Namen Gaza und Ashkelon, zwei Städte, die durch eine Grenze getrennt sind, auch wenn sie am selben Strand liegen. „Azkelon“ zeigt junge Männer beim Spiel „Countries“, ein Spiel, bei dem man mit einem Holzmesser im Sand Grenzen markiert, durchbricht und erweitert. Ein anderes Video „Mermaids. Erasing tghe border of Azkalon“ zeigt drei Frauen am Strand, die mit Händen und Fingernägeln Spuren in den Sand graben, die sofort wieder vom Meer verwischt werden. Geht man in das obere Stockwerk, sieht man die Videoarbeit „Salted Lake“, die in Salz getränkte Schuhe auf einem gefrorenen See zeigen. Nur scheinbar geschieht in dieser Sequenz nichts, in Wirklichkeit sinken die Schuhe, da das Salz das Eis zum Schmelzen bringt, immer tiefer ein bis sie versinken. Auf der sich anschließenden zweiten Ebene sieht man die Installation „Salt bridge summit“ mit zwölf Laptops auf einem runden Konferenztisch, die unter dem Tisch in einem Kabelgewirr verbunden sind. Auf den Bildschirmen der Laptops sieht man die Beine und Schuhe der Konferenzteilnehmer. Ein kleines Mädchen krabbelt (im Video) unter dem Tisch und verbindet alle Schnürsenkel der Schuhe zu einem großen Kreis. Diesen Schuh-Kreis wird der Besucher als Installation „O my friends, there are no friends“ im Hinterhof des Pavillons wieder finden. Aber es sind Bronze-Schuhe auf einem Nicht-Monument, das eine Erinnerung festhält.

Sigalit Landaus Arbeit ist bei aller klaren Zielrichtung ihres Engagements in Sachen Israel und Palästina polyvalent bis ins letzte Detail. Es ist kein Agit-Prop, dem wir hier beiwohnen, sondern eine die Wirklichkeit verändernde Kraft der Poesie. Man kann jede Arbeit einzeln betrachten oder man kann die Arbeiten kontextualisieren – untereinander und im größeren politischen und geografischen Zusammenhang.

USA: Ja - ein auf dem Kopf liegender Panzer als Jogging-Laufband, eine Kapitol-Figur auf der Sonnenbank und eine Orgel mit Geldautomat – das ist Kunst für die Spaß-Generation. Mir tat dieser Pavillon schon fast physisch weh.

Schweden: Eine erfahrungsorientierte Raumgestaltung, die es aber schwer hatte, gegen die Bilder im Kopf von der letzten Inszenierung auf der 53. Biennale anzukommen. Die Außenskulpturen von FIA BACKSTRÖM gingen in der Wahrnehmung dagegen fast unter, obwohl sie als Diskursanlass interessant gewesen wären.

Rumänien: Nicht sehr viel mehr als vom durchstreichenden Gestus ist mir vom rumänischen Pavillon in Erinnerung geblieben, der im komplizenhaften Kontrast eines Altmeisters der Kunst (ION GRIGORECU) und eine späteren Künstlergeneration (ANETTA MONA CHISA & LUCIA TKACOVA) bestand. Letztere hatten die Wände des Pavillons samt der Kunstwerke ihres Kollegen mit Parolen besprüht, was dann als gemeinsame künstlerische Geste vorgestellt wurde. Aber ein Ikonoklasmus mit Einverständnis ist kein Ikonoklasmus mehr, sondern nur noch Show.

Tschechische und slowakische Republik: Als „Wie aus der Zeit gefallen“ hat das Kunstforum zu Recht diesen Pavillon beschrieben. Die schlafende Stadt, die DOMINIK LANG mit den alten Skulpturen seines Vaters Jirí Lang geschaffen hat, ist die raumästhetische und skulpturale Umsetzung der Melancholia. Vor Ort war ich außerordentlich irritiert, aber im Rückblick finde ich den Pavillon als einen interessanten Beitrag zur Frage der künstlerischen Traditionsbildung.

Frankreich oder Das Eingedenken: Dieser Pavillon gehört sicher zu den besten Pavillons dieser Biennale. Und das nicht einmal wegen des elementaren Kontrasts von Tod und Leben, von Mensch und Maschine, von Erinnerung und Auslöschung der Erinnerung. Das alles gehört dazu, aber das Entscheidende war für mich der Bruchteil jener Sekunde, in dem das Rasseln der Maschine, deren Töne sich ins Gehirn schnitten, unterbrochen wurde für einen Moment der Stille. Dieser Bruch war entsetzlich, so dass man sich die klappernde Maschinerie zurückwünschte und zugleich über diese Sehnsucht erschrocken war. Dass es weiter geht ist die Katastrophe, aber die Stillstellung des Augenblicks ist eben auch fürchterlich. CHRISTIAN BOLTANSKI Installation „Chance, Last News from Humans, The Deaths“ kontrastiert die Masse (des Todes, der Geburten) mit dem Moment des Eingedenkens, der Unterbrechung im Fluss der Zeit. Unwahrscheinlich eindrücklich.

Großbritannien: Bei diesem Pavillon habe ich mich gefragt, wie oft wir noch umgebaute Innenräume eines Hauses mit biographischer Erinnerung aus der Hand eines Künstlers erleben werden. Ist nicht inzwischen auf jeder größeren Ausstellung ein Haus durch das man stolpert, sich den Kopf anschlägt oder sich verirrt, auf irgendwelche zurückgelassene Sachen stößt und nun sich die Vita der früher dort Lebenden zu rekonstruieren sucht? MIKE NELSON hat einen solchen Erinnerungs- und Spurenort im britischen Pavillon geschaffen und er ist vermutlich nicht der Letzte, der das macht. Wem es gefällt. Mich hat es genervt (und das nicht nur, weil ich mir dort tatsächlich den Kopf angestoßen habe).

Kanada: Das Faszinierende an Kanadas Auftritt ist vermutlich, wie wenig sich dieser Pavillon schon seit Jahren um die Regeln der Kunst schert. Fast immer hat das dort Präsentierte mit Kunst aber auch rein gar nichts zu tun, auch wenn es sich durchaus um Malerei handelt. Fast könnte man dieses Mal von einer inneren Verwandtschaft zum italienischen Pavillon sprechen. Hier wie dort wird Kunst als assoziative Verknüpfung präsentiert. STEVEN SHEARER zeigt uns ein wenig Munch-Adaption, etwas deutschen Expressionismus, aber er macht in keinerlei Hinsicht deutlich, was seine künstlerische Durchdringung dieser Vorlagen ist. Das Kunstforum international fasst ihn so zusammen: „Er spielt mit den Klischees historischer Porträtmalerei, orientiert sich bei der Art des Farbauftrags, der Anordnung der Figuren, der Pinselführung oder Farbgebung an historischen Vorbildern und bleibt doch stets an der Oberfläche der Pop-Kultur.“ Und inzwischen ist selbst die Pop-Kultur tiefgründiger als das, was man hier geboten bekommt.

Deutschland oder Die Kirche: Als der deutsche Pavillon den Goldenen Löwen der Biennale verliehen bekam, war das deutsche Feuilleton - gelinde gesagt - überrascht. Im Vorfeld hatte es viel Kritik nicht nur an der Entscheidung für Schlingensief gegeben, sondern auch am Konzept, seine Kirche der Angst zu reinszenieren. Aber international, so suchte man sich die Verleihung plausibel zu machen, war Schlingensief nicht so Gegenstand der Diskussion wie hierzulande. Und warum sollte der deutsche Pavillon nicht auch dazu dienen, Schlingensiefs Position weltweit zu kommunizieren?

Auf dem Rückflug las ich im Flugzeug in der WELT in einem völlig anderen Kontext den bereits erwähnten Satz „Der Tod ist eine Art fristlose Kündigung“. Gilt dieser Satz nicht auch für die Kunst? Das heißt, ein verstorbener Künstler bekommt eine andere Sichtweise als ein lebender, er wird quasi (im positiven Sinn) museal. Er wird danach bewertet und vorgestellt, was der Ertrag und die Botschaft seines Lebens ist.

Ist aber das, was wir im deutschen Pavillon sehen, der Ertrag und die Botschaft von Schlingensief? Ist es diese Regression in die Fluxus-Bewegung der 60er und 70er-Jahre? Und wird das der Fluxus-Bewegung gerecht? Beim Betreten des Pavillons wird man scheinbar in eine Kirche versetzt, aber diese Kirche hat nichts mit einer wirklichen Kirche zu tun. Es ist eine Pseudo-Inszenierung, eine theatrale Schein-Rekonstruktion eines katholischen Sakralraumes vor dem II. Vatikanum. Es ist – böse gesprochen – das, was sich von der Religion gestörte Künstler immer unter religiösen Räumen vorgestellt haben. Es ist aber kein geistesgegenwärtiger religiöser Raum.

Unbestreitbar ist, dass der deutsche Pavillon eine Wirkung auslöst. Er zwingt die Besucher, wenn nicht auf die Knie, dann doch auf die Bank. Er fordert Ehrfurcht ein, wo ästhetische Reflexion und Auseinandersetzung zwingend wäre. Aber diese Wirkungsmächtigkeit erklärt sich eben nicht aus der Kunst, sondern aus den geborgten Elementen der magischen Religion des 19. Jahrhunderts. Wenn hier etwas den Goldenen Löwen verliehen bekommen hat, dann eben nicht Schlingensief, sondern eine Regression ins 19. Jahrhundert, die allenthalben auf der Biennale zu verspüren war. Also keine Aufklärung, kein Enlightenment, sondern romantische Sehnsucht nach einem Zustand, in dem die Widersprüche noch aufgehoben schienen. Dass die re-inszenierte Kirche im deutschen Pavillon mit den liturgischen Überlegungen einer nahezu 2000-jährigen Geschichte aber auch gar nichts zu tun hatte, war leicht erkennbar. Wenn nicht einmal mehr Künstler (oder mit Kunst Befasste) die Logik einer liturgischen Erschließung eines Raumes wahrnehmen, ist die Sache gescheitert, es wird zur Groteske. Im Prinzip borgt sich Schlingensief die religiöse Kontextualisierung ähnlich wie eine Versicherung den Michelangelo mit der Erschaffung Adams für ihre nächste Reklametafel. Das geschieht dann aber nicht zum Schaden der Religion, sondern der Kunst. Künstlerische Erkenntnis wird sensualistisch überlagert. Die katholische Kirche hat sich mit dem II. Vatikanum eindrucksvoll von dieser Art magischer Verzauberung gelöst. Es wird Zeit, dass auch die Kunst nicht länger auf derartige Tricks zurückgreift.

Japan: „Es interessiert mich, einen Raum zu schaffen – sei er eng, dunkel oder abgeschrägt – in dem es nicht einfach ist zu stehen, der eine Vielzahl von Möglichkeiten anbietet, sich ihm anzunähern: im Grunde genommen eine Umgebung, die eine komfortable Seh-Erfahrung verweigert“ hat die 1975 geborne Künstlerin TABAIMO laut Kunstforum international über ihr Anliegen im japanischen Pavillon gesagt. Wenn das ihre Intention war, dann ist sie ihr überzeugend gelungen. Rückblickend und unter dem Aspekt der komfortablen Seh-Erfahrung vorhandener Fotos des Pavillons finde ich die Arbeit besser als vor Ort. Aber dann stimmt das auch, denn das war ja die Intention. Die Künstlerin hat in dem zur Höhle umgestalteten Pavillon die Wände mit Spiegeln verkleidet und darauf ihre Bilder projiziert. Es gelingt nicht, einen wirklichen Standort zu entwickeln, man muss erst heraus aus der Höhle und sich des Gesehenen vergewissern.  

Südkorea: LEE YONGBAEK, der den Pavillon gestaltet hat, spricht darüber, wie stark der Kontrast zwischen Südkorea und Deutschland ist. Vielleicht hilft mir das zu verstehen, warum ich mich mit diesem Pavillon nicht so recht anfreunden konnte. Nein, eine Pieta aus Wasserrohrleitungen überzeugt mich nicht wirklich, zuviel vertraut Vorgegebenes und zu wenig Verfremdetes. Die Spiele mit dem Spiegel sind vielleicht interessant, aber mir blieb letztlich ein Gefühl der Oberflächlichkeit zurück, die nicht auf das Spiel mit Oberflächen zurückzuführen war.

Russland: Der russische Pavillon war in den vergangenen Jahren eigentlich immer für eine Überraschung gut, aber dieses Mal fand ich ihn nur enttäuschend.

Schweiz: Gut, die Inszenierungen von THOMAS HIRSCHHORN haben immer eine gewisse Ähnlichkeit. Insofern ist man beim Besuch des Schweizer Pavillons nicht wirklich überrascht. Aber mehr als bei anderen Inszenierungen die ich kenne, gelingt es Hirschhorn dieses Mal, eine wirklich verwirrend labyrinthische Situation herzustellen, so dass man für einen Augenblick glaubt, man werde nie wieder aus diesem Pavillon und seinen Zivilisationsresten herausfinden.


Arsenale ILLUMInazione

Während traditionell im Hauptpavillon die bekannten Positionen versammelt wurden, fand man im Arsenale oft das Überraschende, Unkonventionelle und Neue. Daran hat sich Bice Curiger aber für dieses Mal nicht orientiert.

Direkt am Eingang stößt man zunächst wieder auf einen Para-Pavillon, dieses Mal von SONG DONG. Seine Installation aus Türen und Kuben ist sicher für Kunstinszenierungen nicht uninteressant, weckte aber zu direkte Assoziationen an Ai Weiweis Documenta-Kunstwerke. Den folgenden extrem verdunkelten Raum mit den Arbeiten ROMAN ONDAK und dem sich anschließenden extrem hell inszenierten Ausstellungsraum empfand ich als unangemessene pädagogische Belehrung durch die Ausstellungsleitung. Noch im Barock ist der Hell-Dunkel-Kontrast einer der Erkenntnis und nicht einer der aufdringlichen Belehrung. Ich möchte die ILLUMInazione nicht auf die Augen gedrückt bekommen. Das hatte die Ausstellung doch auch nicht nötig.

Von den sich anschließenden drei Abschnitten des Arsenale bliueb wenig im Bildgedächtnis hängen, sieht man einmal von NICHOLAS HLOBOs Drachenskulptur ab, die man gar nicht im Gedächtnis behalten möchte.

Ganz interessant, weil in sich verrätselt, fand ich dann die Arbeit von FABIAN MARTI, der eine riesige kathedralenartige Holzkonstruktion aufgetürmt hatte, auf der Keramik-Objekte standen. Und nur wenige fanden den Eingang ins Innere des Gebildes auf der Rückseite, wo der Künstler ein 25minütiges IPhone-Video auf Blu-Ray präsentierte.

Auch die zweite Arbeit von HAROON MIRZA „The national apavilion of then and now“ war – jenseits aller spektakulären Inszenierung – deshalb interessant, weil sie mit dem Kontrast von Bewusstsein, Erkenntnis, Wahrnehmung und Wahrnehmungsstörung arbeitete. Der Besucher betrat einen verdunkelten, schallgedämpften Raum, der immer heller und heller wurde, bis man erkennen konnte, dass nicht nur Decken und Wände, sondern auch der Boden aus scheinbar spitzen Zacken bestand. Auf dem Höhepunkt der Helligkeit setzte dann wieder die nahezu vollständige Finsternis ein.

Den Wahrnehmungsraum von JAMES TURELL habe ich nicht aufgesucht, weil die Besucherschlange davor zu lang war, aber es ist keine Frage, dass Turell in einem Ausstellungsdiskurs, der über ILLUMInazione geht, als Position unverzichtbar ist.

Längere Diskussionen gab es über URS FISCHERs kerzenartige Installation ohne Titel, weil sie die Frage aufwarf, wann man sie eigentlich adäquat wahrnimmt. Am Anfang, wenn die Wachsfiguren noch nahezu vollständig sind, in der Mitte der Zeit, wenn man noch ahnt, wie es anfangs war und sieht, wie es demnächst verbrannt sein wird, oder am Ende der Zeit, wenn der Prozess der Annihilation vollendet ist und der Verbrennungsprozess abgeschlossen ist. Am Anfang waren die Wachsplastiken fast zu schön, so dass ich vermute, das beste Verständnis entwickelt man nach etwa einem Monat. Danach bleiben es eben Kerzenreste mit Vergangenheit.

Die Arbeit „Bibliothek“ von CORINNE WASMUHT empfand ich als sehr stark, sie entwickelte eine ungeheure Plastizität und forderte immer wieder von Neuem zur Wahrnehmung heraus.

Bleiben noch einige spektakuläre Außenskulpturen wie etwa „The Geppetto Pavillon“ von LORIS GRÉAUD („Von nun an treibt Pinocchio wieder im Meer und wird, ehe er sich versieht, von einem Wal gefressen. Er glaubt sich schon verloren, bis er im Bauch des Wals unerwartet seinen Vater Geppetto entdeckt. Mit vereinter Kraft entkommen sie aus dem schrecklichen Walbauch und Pinocchio verspricht, von da an endlich ein ehrlicher und verantwortungsbewusster Junge zu sein. Als er diesen Vorsatz erfolgreich durchführt und durchhält, wacht er eines Tages als richtiger Junge aus Fleisch und Blut auf.“). Oder KATHARINA FRITSCHs Stillleben mit religiösen Symbolen. Oder die Arbeit von FRANZ WEST, der auf dieser Biennale den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk erhielt.


Länderpavillons im Arsenale

Saudiarabien: Ich finde, das Land hatte mit dieser Installation keinen guten Einstand auf der Biennale, zu gefällig, zu glatt, zu schön, zu absehbar.

Argentinien: Eine wirkliche Entdeckung waren für mich die Objekte des 1980 geborenen argentinischen Künstlers ADRIAN VILLAR ROJAS. Seine ortbezogenen Monumentalskulpturen mit dem Titel „Der Mörder deines Erbes“ verstören im besten Sinn des Wortes, man umkreist sie, um sie in den Blick zu bekommen, aber es gelingt nicht. Eine Kombination von Zivilisation und scheinbarer Natur, von Konstruktion und Wucherung, die neugierig auf mehr macht.

Indien: GIGI SCARIAs „Elevator from the Subcontinent“ lässt den Besucher mal langsam, mal schnell mit einem Aufzug durch das Innere eines Hochhauses schweben und am Leben der dort Wohnenden teilnehmen.

Türkei: Wasser zu Wasser. Ob ich die Wasseraufbereitungsanlage in AYSE ERKMENs Installation wirklich als gelungene paradoxe skulpturale Intervention verstehen kann, weiß ich wirklich nicht. Es kommt mir zu bemüht vor, eine Kopfgeburt.

Italien: Ein Attentat auf die ästhetische Reflexion, eine Bankrotterklärung jenes Landes, dass einmal die wichtigsten Künstler der Welt hervorgebracht hat, ein intellektueller Offenbarungseid und die lange herbeigesehnte Rechtfertigung für unbegabte Menschen, die sich Künstler nennen wollen, auch mal auf einer Großausstellung vertreten zu sein. Theodor W. Adorno hat vor einem halben Jahrhundert vorgeschlagen, doch einmal zwei Ausstellungen einander gegenüber zu stellen: eine Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst und eine Ausstellung mit Bildern der Freunde der Hotelbildmalerei (Th. W. Adorno, "Vorschlag zur Ungüte" in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt, 7/1981, S. 52-59.). Mit einem halben Jahrhundert Verspätung haben sich einige Italiener ganz unironisch daran gesetzt, diesen ironischen Vorschlag Wirklichkeit werden zu lassen.


Länderpavillons in der Stadt

Albanien: Poetisch und schön, ganz getragen von dem unbändigen Willen, Kunst zu machen und das nachzuholen, was politische und kulturelle Umstände bisher nicht erlaubten – das ist der erstmals auf einer Biennale gezeigte albanische Pavillon. Er eröffnet mit einer Arbeit ANILA RUBIKU die zahlreiche Herrenhüte auf dem Boden platziert hat und diese mit verschiedenen Schriftzügen und Motiven bestickt hat. An der Wand hängen Kleiderbügel, die jeweils einen Buchstaben tragen und zusammengelesen folgenden Satz ergeben: „The person who disowns his own language in order to adopt a different one changes identity and disillusions.“ Ebenfalls im albanischen Pavillon auf der Guidecca ist ORION SHIMA, der den auch auf der letzten documenta sichtbar werdenden Hang zur romantischen Malerei aufgreift und in Form von Landschaftsmalerei umsetzt.

Andorra: Ich kann ja nachvollziehen, wenn Künstler, die mit ihrem nationalen Pavillon in einer Kirche gelandet sind, mit dieser nichts anfangen können. Aber so geist- und lieblos wie der Pavillon von Andorra muss es dann doch nicht sein. Der Pavillon ist in der Chiesa die San Samuele platziert, die durchaus andere Möglichkeiten bietet, als die Kunstwerke einfach ins leere Kirchenschiff zu stellen. Hier wären ganz andere Korrespondenzen möglich gewesen. FRANCISCO SÁNCHEZ etwa, der seine ausgestellten Arbeiten „Das Ephemere und das Ewige“ titelt, hätte kuratorisch eine andere Inszenierung verdient.

Armenien: Ehrlich gesagt konnte ich mit diesem Pavillon weniger anfangen, ein in den Raum platzierter großer Konferenztisch mit schrecklichem Blumengesteck. Wenn es um Macht in diesem Beitrag von GRIGOR KHACHATRYAN geht, dann ist es nur banale Macht.

Iran: Programmatisch trägt die Ausstellung des iranischen Pavillons den Titel „In the Name of God“ und wer angesichts dessen auf ein bisschen subversive Ironie gehofft hatte, wurde bitter enttäuscht. So sieht offizielle Staatskunst aus, die wenig hinterfragt und in Gesten erstarrt, ob diese nun das Familiäre, das Religiöse oder den Tod im Krieg repräsentieren.

Island: Was an sich eine interessante Herausforderung sein könnte, die Zumutung den Satz „Il Tuo Paese Non Esiste – Dein Land existiert nicht“ zu denken und künstlerisch zu buchstabieren, zündet nicht so richtig. Am Ort des Pavillons kann es nicht liegen, denn die Ruine im Garten des Palazzio Zenobio ist für das Thema wie geschaffen. Aber LIBIA CASTRO und ÓLAFUR ÓLASSON gehen das Thema zu locker an, wenn sie eine Mezzosopranistin auf einer Gondel mit diesem Text durch die Kanäle von Venedig schicken. So überwiegt das Pittoreske.

Luxemburg: Diesen Pavillon habe ich zunächst einfach nur genossen. Man wandert durch eine weiß in weiß surreale Raumwelt mit wellenartigen Wänden, verspiegelten Einsichten, verkrümmten Möbeln und schrägen Säulen und genießt die Vielzahl kunsthistorischer Anspielungen und Verweise.

MARTINE FEIPEL & JEAN BECHAMEIL haben eine ebenso verwirrende wie amüsante Architektur geschaffen, die den Besucher zur spielerischen Erkundung reizt. Mit der Zeit wird dann deutlich, dass neben dem Vergnügen, das die Installation bietet, auch die Differenz, die kleine Abweichung (neben den vielen großen Abweichungen) eine wichtige Rolle spielt. Warum ist der Boden des einen Raumes leicht unter Wasser gesetzt, warum schwingt der Kronleuchter so hin und her, als ob man sich auf einem Kreuzfahrtschiff bewegen würde. Bei aller Finesse der illusionistischen Tricks ist der Besucher herausgefordert, sich eine eigene Fabel zum Gesehenen zu konstruieren, eine Logik hinter dem Surrealen zu konstruieren.

Neuseeland: Nahe bei der Akademie und doch nur durch ein Labyrinth von Gassen erreichbar liegt der neuseeländische Pavillon im Palazzo Loredan dell’Ambasiatore. MICHAEL PAREKOWAH hat dort scheinbar drei Flügel platziert, von denen einer als realer in Gebrauch ist und zwei als Postamente für schwere Bronzestiere dienen. Der in Gebrauch befindliche Flügel ist ein Steinway, der vor einem halben Jahrhundert von Europa nach Neuseeland exportiert wurde und nun in seine Heimat zurückkehrt, nicht ohne Spuren seines Exils zu tragen. Ein Schnitzer hat ihn heftig bearbeitet und der Künstler hat das Ganze rot lackieren lassen. Und so steht der Flügel im Eingangsraum des Palazzo Loredan dell’Ambasiatore und wird täglich von Musikstudenten bespielt. Die beiden anderen Flügel(attrappen) spielen mit ihren Figuren ein komplexes Verweisspiel von Schwere und Leichtigkeit, Natur und Zivilisation, Europa und der Stier …

Schottland: Den schottischen Pavillon im Palazzo Pisani Santa Marina in der Nähe der Chiesa di Santa Maria dei Miracoli könnte man wegen seiner Kunst einfach nur süß nennen. KARLA BLACK hat vor Ort assoziative Skulpturen und Installationen geschaffen, die an Kuchenstücke, Eiscreme oder Gewürze erinnern. Es ist als wenn Katy Perry mit ihrem Clip zu „California gurls“ zu einem Gesamtkunstwerk geworden wäre.

Zentralasiatischer Pavillon: Der Pavillon geht auf verschiedenen Wegen der Frage nach, ob Kunst sich als Universalsprache, als „Lingua Franca“ eignet. Es ist ein Experiment.

Zypern: Eine Art Écriture automatique zeigt ELIZABETH HOAK-DOERING, bei der Gegenstände wie Tische, Stühle oder Betten ihre Schriftzeichen auf Papier hinterlassen, ohne dass irgendjemand ihre Botschaften entziffern könnte.

Ukraine: Der Beitrag der Ukraine fällt etwas aus dem Rahmen der sonstigen Kunst auf der Biennale. OKSANA MAS ist mit ihrer Arbeit „Post-vs-Proto-Renaissance“ gleich an zwei Orten präsent: Vor der Kirche San Stae und in der Kirche San Fantin. Während das Kunstwerk vor San Stae mehr ein Appetizer ist, der neugierig macht auf die Arbeit, dürfte das Werk in San Fantin zum Publikumsmagneten und Publikumsliebling werden. Am zentralen Hauptweg zwischen Bahnhof und dem Markusplatz gelegen, betritt der Besucher einen Raum, der ihn in eine Welt der dritten Art versetzt, ein Zwischending zwischen orthodoxer Ikonostase, französischer Tapisserie und kunsthistorischem Vexierspiel. Die Künstlerin hat aus zigtausenden bemalter Ostereier einige Details aus dem Genter Altar des Jan van Eyck nachgebaut. Irgendwann einmal soll der komplette Altar nachgebildet sein mit ungeheuren  92x134 Metern. Das ist uns erspart geblieben, aber der Blick auf die Inszenierung ist dennoch auf eine merkwürdige Art beeindruckend.


Eventi collaterali

Die begleitenden Ausstellungen gehören mit zum Mythos der Biennale in Venedig und viele große Künstler lassen es sich nicht nehmen, mit eigenen Ausstellungen vor Ort präsent zu sein. Auch viele Trittbrettfahrer lassen sich in der Stadt finden, die hoffen, etwas von der knappen Ressource Aufmerksamkeit zu ergattern. Ich möchte meinen Spaziergang über die Insel der Kunst abschließen mit drei Blicken in derartige „Eventi Collaterali“.

Anish Kapoor

Das prominenteste Beispiel ist sicher ANISH KAPOOR, der in der Basilica di San Giorgio auf der gleichnamigen Insel sein monumentales Projekt „Ascension“ zeigt. In der Basilika hängt normalerweise im Presbyterium das Abendmahlsbild von Tintoretto, das nun den Mittelpunkt des Hauptpavillons der Biennale bildet, und in der Raumlogik von San Giorgio einen imaginären Seitenflügel aufgetan hatte. In diesen „Leerraum“ stößt nun Kapoor mit seiner Arbeit. „Ascension“ ist freilich kein neues, ortsbezogenes Werk – auch wenn die Mehrheit der Besucher das vermuten dürfte -, sondern wurde in ähnlicher Form schon 2003 im Kinosaal der San Gimignano Galerie und 2006/2007 in Brasilien gezeigt, etwa im Centro Cultural Banco do Brasil de Brasília bzw. in São Paulo. Kapoor setzt in die frei geräumte Vierung der Kirche eine runde Installation, aus der Rauch aufsteigt. Vier Säulen rund um die Installation treiben den Rauch hoch und in der Vierungskuppel wird er von einen großen Rohr abgesaugt. Durch die Verwirbelungen entsteht temporär so etwas wie eine Rauchsäule, die immer wieder verweht wird und sich dann neu bildet. Unbestreitbar ist das in einer Kirche von der Größe der Basilica di San Giorgio, die Andrea Palladio ab 1565 erbaut hat, beeindruckend. Der assoziative Reichtum der Arbeit ist fast unermesslich. Aber – und das ist mein zentraler Einwand – er ist auch willkürlich. Kapoor sagt zu seiner Arbeit: „In meinen Arbeiten verschwimmen häufig Schein und Wirklichkeit. Was mich an ‚Ascension’ besonders interessiert, ist die Idee von Immaterialität, die hier zum Objekt wird: Rauch formt sich zu einer Säule. In dieser Arbeit findet sich auch eine Anspielung auf Moses, der einer Rauchsäule, einem Lichtstrahl in der Wüste folgte.“ Genauso gut hätte er vom Heiligen Geist sprechen können oder von der Rauchsäule der Opfer von Kain und Abel. Würde er, wenn die Arbeit in einer Kathedrale des Kapitals, also einem Bankgebäude stünde, nicht ebenso schnelle assoziative Verknüpfungen herstellen? Der Lärm, den die zahlreichen Ventilatoren generieren, lässt einen nicht von ungefähr an 1 Kön 19 denken (Und es kam ein großer und starker Wind im Angesicht des Ewigen auf, der Berge abriss und Felsen zerschmetterte – doch im Wind war der Ewige nicht. Und dem Wind folgte ein Beben – doch im Beben war der Ewige nicht. Und dem Beben folgte Feuer – doch im Feuer war der Ewige nicht). Das Erhabene generiert noch keine Götter. Die technische Leistung ist sicher eine herausragende Leistung, das Kunstwerk sicher spektakulär, aber die Beschreibung „Nie zuvor ging ein Künstler so weit, etwas augenscheinlich Leeres für den Betrachter fassbar zu machen. Die enge Verbindung zwischen Spiritualität und Kunstspektakel machen aus dieser Arbeit ein Werk, das alle Attribute zeitgenössischer Kunst verkörpert“ ist eine Phrase, die nicht weiß, worüber sie spricht.

Jan Fabre

Ein kaum weniger prominentes Beispiel ist JAN FABRE mit seiner Ausstellung „Pietas“ in der Scuola Nuova di Santa Maria della Misericordia. Etwas abseits der Touristenströme gelegen, aber in unmittelbarer Nähe zur Kirche Madonna dell’Orto mit den Arbeiten von Tintoretto, bietet der Raum, den man sich in der Größe einer Turnhalle vorstellen muss, viel Fläche für Ausstellungszwecke. Fabre zeigt in der Ausstellung fünf große Carrara-Marmorskulpturen auf goldenem Grund. Die zentrale Skulptur der fünf am Kopf der Ausstellung platziert, stellt eine Re-Interpretation von Michelangelos Pieta dar. Das Antlitz Christi hat der Künstler durch sein eigenes ersetzt, das Gesicht der Maria in einen Totenschädel gewandelt. Und diese Heavy-Metal-Transformation wird dann folgendermaßen beschrieben: „Yet the artist's aim is not to convey a blasphemous or even merely a provocative message: this work represents a 'performance sculpture' that illustrates a mother's real feelings when she yearns to take the place of her dead son.“ Wer’s glaubt, wird selig. Hier ist die Grenze zum Trivialen bzw. zum ordinären Kitsch weit überschritten. Was ist nur aus den wunderbaren Arbeiten Fabres aus früheren Zeiten geworden, seine Kugelschreiberbilder oder seine Käferinstallationen? Man kann ja die Grenze zum Kitsch künstlerisch ausmessen, aber hier geht es unverkennbar um ästhetische Regression, hier wird Kunst durch religiöse Gefühlsduselei substituiert. Die anderen Skulpturen sind noch schlimmer: „They depict anatomical organs and bodies that take on the form and the forcefulness of symbols in his work, which is made with the obsessive precision typical of the mediaeval Flemish school, but also relates to the vigour that abounds in Michelangelo's sculpture.“ Und der goldene Boden wird so metaphorisiert: „All five sculptures will rest on a large golden podium, which visitors will be allowed to access - once they have put on a pair of the slippers made available at eight points at the sides - so as to undertake the sacred ritual of a viewing.“ Ja, Ja, „the sacred ritual of a viewing“ mit Slippers an den Füßen. Im rituellen Kontext der Religionsgeschichte zieht einem das Heilige die Schuhe aus und keine Slipper an. Es ist nur noch peinlich. Dieser herabgewürdigte Begriff von Heiligtum, Ritual und Symbol schädigt Religion und Kunst.

Daniel Glaser / Magdalena Kunz

Weniger prominent als die beiden gerade beschriebenen Ausstellungen, aber einen Besuch wert ist die Installation von DANIEL GLASER und MAGDALENA KUNZ im Palazzo Malipiero bei der Kirche San Samuele. Die Künstler arbeiten seit dem Jahr 2000 zusammen und zeigen „Cinematographic sculptures“, Figuren die wie echt wirken, aber Videoprojektionen auf entsprechende Plastiken sind. „Glaser/Kunz explore social and individual issues, in particular philosophical questions, social conditions, visions and dreams.“ Man kann zunächst wie ein Voyeur durch ein Fenster des Palastes zwei Figuren bei ihren Gesprächen beobachten und belauschen, dann den Raum betreten und sich quasi zu ihnen setzen. Und in einem weiteren Raum findet man noch eine Dreiergruppe dieser kinematographischen Figuren im Gespräch. Der Reiz ist am Anfang der, dass eine gewisse Unsicherheit darüber besteht, ob es sich um lebendige Darsteller oder um technische Konstrukte handelt, die sich über soziale Fragen auslassen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/73/am367.htm
© Andreas Mertin, 2011