I. Voraussetzungen1. Kirche an der Schwelle des 3. JahrtausendsDie Bindekraft der Kirchen und die Prägekraft des Christentums sind in Deutschland während der letzten Jahrzehnte zurückgegangen. Zwar wird in ethischen und sozialen Fragen den Kirchen immer noch eine große Erwartungshaltung entgegengebracht. Im Westen Deutschlands haben jedoch die Individualisierungsprozesse eine Mentalität befördert, die das Christentum für kulturell irrelevant hält, während infolge der staatsozialistischen Indoktrination im Osten vielfach Religion überhaupt als kulturell schädlich betrachtet wird. (1.1.) Die christlichen Kirchen stehen an der Schwelle ihres dritten Jahrtausends - und wie steht es mit ihnen? Die Kirchengebäude sind zwar für die Gemeinden heute meist zu groß und in Anlage und Ausstattung erläuterungsbedürftig, aber in vielen Fällen gleichwohl die ältesten und wertvollsten Gebäude der Stadt bzw. des Dorfes, sie sind stadtbildprägend und auch für Kirchenferne "unsere Kirche", die erhalten werden soll. In den letzten Jahren der DDR rückten solche Kirchengebäude plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weil dort Fürbittgottesdienste für Inhaftierte stattfanden oder Friedensgebete, von denen im Herbst 1989 friedliche Demonstrationen ihren Ausgang nahmen. Viele waren überrascht, daß die totgeglaubte Kirche plötzlich öffentliche Bedeutung bekam, daß Pfarrerinnen und Pfarrer landesweit zur Moderation an die Runden Tische gebeten wurden und Christen, die doch allenfalls ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, so überproportional am politischen Wandel aktiv beteiligt waren. Die Binde- und Prägekraft der Kirchen ist in den letzten Jahrzehnten - auch in den westlichen Bundesländern - stark zurückgegangen. Aber Kirchentage und Katholikentage finden nach wie vor beachtliches Interesse. Der sonntägliche Gottesdienstbesuch ist schwach, aber die Teilnehmerzahlen von Weihnachts- und Ostergottesdiensten steigen stetig. Und die Matthäuspassion hören viele lieber in einer Kirche als im Konzertsaal. Kirchenmusik ist beliebt. Die Theologie ist längst keine kulturelle Leitwissenschaft mehr. Aber in Ethikkommissionen, die sich mit den Folgeproblemen neuer technischer oder medizinischer Möglichkeiten befassen, werden meist auch Theologen berufen. Nach wie vor wird den Kirchen eine hohe ethische und soziale Kompetenz zugesprochen. Nicht selten wird erwartet, daß gerade sie etwas gegen den Werteverfall tun sollen. Die unauffällig selbstverständliche Präsenz christlicher Traditionen in unserer Kultur wird manchmal erst durch Anstoß von außen bewußt. Wer vom "Roten Halbmond" in den islamischen Ländern hört, merkt, daß das "Rote Kreuz" einen christlichen Namen führt. Die Begegnung mit der jüdischen Sabbatkultur macht Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur christlichen Sonntagskultur bewußt. (1.2.) Man nennt den Prozeß, in dem die öffentliche Bedeutung der Religion und ihrer Institutionen zurückgeht, Säkularisierung, zu deutsch: Verweltlichung. Religiöses Desinteresse als Lebenshaltung gab und gibt es immer und überall. Als kultureller Prozeß aber ist die Säkularisierung für die abendländische Kultur charakteristisch. Sie hat sich zwar zusammen mit Modernisierungsprozessen weltweit verbreitet, aber in keinem Kulturkreis denselben Verlauf und dieselbe Intensität gewonnen. Ein Indiz dafür ist, daß in Deutschland derzeit Kirchen geschlossen, aber Moscheen und buddhistische Zentren eröffnet werden. Die Zugewanderten halten an ihrer Religion fest. Am Säkularisierungsprozeß müssen zwei Momente unterschieden werden: Entkirchlichung und Entchristlichung. Beide Momente wirken bis heute, haben aber inzwischen in der "postmodernen" Situation ihre kulturkämpferischen Aspekte verloren. (1.3.) Seit dem Ausgang des Mittelalters ist die institutionelle Dominanz der Kirche zurückgegangen. Die Bildungsinstitute, Philosophie und Wissenschaften, die Künste emanzipieren sich von kirchlichem Einfluß. Aber die Forderung des 17. Jahrhunderts: "Die Theologen sollen schweigen im fremden Geschäft" war nicht atheistisch begründet, sondern sollte heißen: Neben den Theologen gibt es noch andere Fachleute, die ebenfalls gute Christen sind. Erst seit dem vorigen Jahrhundert ist auch die lebensgestaltende und lebensbegleitende Kraft der Kirche zurückgegangen, zunächst im Bildungsbürgertum, dann in der Arbeiterbewegung. Und erst in diesem Jahrhundert ist es zu Kirchenaustrittsbewegungen gekommen, in der Nazizeit und in der DDR unter staatlichem Druck, aber auch ohne solchen Druck in Westdeutschland. Trotzdem sind die Kirchen nicht zur Bedeutungslosigkeit hinabgesunken, denn es hat sich keine konkurrierende Institution gebildet, die ihre Stelle einnehmen könnte. (1.4.) Von einer Kirchenkritik, die sich auch im Namen des christlichen Glaubens vollziehen kann, müssen diejenigen Stimmen unterschieden werden, die sich im Namen eines atheistischen Humanismus gegen den christlichen Glauben selbst, ja gegen Religion überhaupt richten. Religion erscheint dann als unwissenschaftlicher Aberglaube, wofür auf den Prozeß gegen Galilei und die Auseinandersetzungen um Darwins Evolutionstheorie verwiesen wird. Und Religion erscheint als freiheitsfeindliche Legitimation von Unterdrückung und Selbstunterdrückung, mit Verweis auf die Verbindung von Thron und Altar, die mittelalterlichen Ketzerverbrennungen, die Hexenprozesse, die Verbindung von christlicher Mission und Kolonialismus und auf die diesseitsfeindliche und leibfeindliche christliche Moral, besonders die Sexualmoral. Die Pointe ist jedesmal: Religion ist kulturell schädlich. Religionskritische Argumente, die sich teils bereits im vorrevolutionären Frankreich zu Wort gemeldet hatten, vor allem aber im vorigen Jahrhundert zu hören waren, haben im Osten Deutschlands durch die marxistisch-leninistische Propaganda weite Verbreitung gefunden. Auch in der westdeutschen Öffentlichkeit sind sie durchaus geläufig, obwohl sie weniger aggressiv vertreten werden. Kirche gilt eher als kulturell irrelevant. Inzwischen wird hier eine geradezu entgegengesetzte Christentumskritik praktiziert, die vorchristliche und außerchristliche Religiosität intensiv und oft sehr unkritisch aufnimmt. Auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten kommt es zu offensichtlichem Mißbrauch der Religion mit dem Ziel, im Namen eines Heiligen andere an sich zu fesseln oder sogar auszubeuten: "Jugendsekten". Hier und da wird auch mit lebensfeindlicher Religiosität experimentiert, die unumwunden die Nachtseiten des Lebens verehrt, wie Satanskulte, schwarze Messen. Die dem christlichen Glauben selbst eigentümliche kritische Unterscheidung zwischen Glauben und Aberglauben (Götzendienst) wird dann geradezu umgewertet. (1.5.) Wir leben nicht mehr in einem Zeitalter weltanschaulicher Kämpfe zwischen formierten Lagern, die in die Entscheidung zwingen. Die alten weltanschaulichen Schlachtfelder existieren nicht mehr. Auch in der DDR war das offiziell festgehaltene Schema der großen ideologischen Auseinandersetzung schließlich nur noch leere Hülse. Die "postmoderne" Entwicklung hat traditionelle Sicherheiten, Bindungen und Gewohnheiten weltlicher und religiöser Art geschwächt. Verschiedenheits- und Zufälligkeitserfahrungen wurden zur allgegenwärtigen Signatur des postmodernen Alltags. Die "objektiven" Unterschiede nach Geschlecht, sozialer Stellung, Kultur und Religion bestehen zwar fort. Aber sie sind längst überlagert von den Unterschieden "subjektiver" Haltungen und persönlicher Präferenzen. Die Menschen müssen ihre Lebensformen selbst wählen, gestalten und verantworten und wissen doch zugleich, daß sie unter anderen Lebensbedingungen womöglich ganz anders gewählt hätten. Die Befreiung zur Wahl wird deshalb oft zugleich als Überforderung erfahren. Dem "Streben nach Glück", das die Aufklärung jedem Menschen zugesprochen hatte, sind vor lauter Möglichkeiten die konkreten Ziele abhandengekommen. Der Zielverlust wird als Sinnverlust erlebt. Jetzt erst erreichen die Folgen der Modernisierung im alltäglichen Leben ein solches Ausmaß, daß die traditionellen Sinnstützen der individuellen Existenz aus Familie, Kirche, Beruf und Kultur strukturell gefährdet sind. Sie sind nicht mehr die hingenommenen, insofern auch entlastenden Rahmenbedingungen der Wahl. Auch sie müssen jetzt "gewählt" werden, verwandeln sich in kontingente, geschaffene und veränderbare, instabile Institutionen. Untersuchungen über die Einstellungen von Jugendlichen bestätigen und unterstreichen die Tendenzen, die soeben beschrieben worden sind, wobei Unterschiede zwischen Ost und West eher graduell sind. So etwa stellt sich die Situation der Kirchen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend dar. Woran kann angeknüpft werden? Welche Aufgaben stellen sich? 2. Die christliche Perspektive"Glaube", "Hoffnung" und "Liebe" sind Grundhaltungen, die Weltumgang und Weltgestaltung durch Christen prägen. Mit ihnen ist eine Tiefendimension menschlicher Erfahrung angesprochen, in der noch vor allen bewußten Akten der Lebensführung über deren Sinn und Bestimmung entschieden wird. Das Christentum legt diese Basiserfahrung als Befreiung und als Erhebung des Lebens über seine alltäglichen Grenzen aus. (2.1.) Das Geheimnis der Welt ist Gottes schöpferisches Ja zu ihr. Das ist die Grundüberzeugung, von der die biblischen Überlieferungen getragen sind. Die Bibel spricht zwar auch von Gottes "Nein" zu allem lebensfeindlichen und selbstzerstörerischem Handeln der Menschen, aber es hebt das "Ja" nicht auf, sondern steht in seinem Dienst. Davon handeln die großen Erzählungen von Gottes guter Schöpfung, von seiner Treue zu den Menschen trotz ihres Versagens und ihrer Schuld, von der Vollendung der Welt, in der Gott alles in allem sein wird. Leben und Geschick Jesu von Nazareth verkörpern die unbedingte Zuwendung Gottes gerade zu denen, die sich von ihm getrennt haben oder verlassen fühlen. Das Kreuz Jesu Christi ist das Zeichen für Gottes rückhaltlose Selbsthingabe: Im gewaltsamen Tod Jesu hat sich Gott selbst den Folgen von Sünde, Schuld, Haß und Feindschaft ausgesetzt. Christen bekennen, daß dadurch die Versöhnung der Menschen mit Gott wirklich und ihre Versöhnung untereinander möglich geworden ist. Die Konsequenzen dieser Botschaft für das menschliche Selbstverständnis lassen sich knapp an drei Grundelementen humaner Existenz aufzeigen, mit denen der Apostel Paulus die Voraussetzungen für den Vollzug christlichen Lebens umschrieben hat (1.Kor 13,13): Glauben, Hoffnung und Liebe sind mögliche Erfahrungen jedes Menschen, das Christentum verleiht ihnen aber einen spezifischen Sinn. Es sieht in ihnen Wirkungen des göttlichen Geistes, durch die Menschen über ihr alltägliches Dasein hinausgehoben werden in einen Zustand wacheren Lebens. In Glaube, Liebe und Hoffnung können Menschen dem Geheimnis Gottes in ihrem Leben entsprechen, ohne ihre Endlichkeit und Unterschiedenheit von Gott zu verleugnen. (2.2.) Der Glaube befreit von der angestrengten Sorge um sich selbst. Er beendet den Zwang, sich selbst rechtfertigen zu müssen. "Glauben" im reformatorischen Sinn bedeutet nicht das Fürwahrhalten von Lehrsätzen der christlichen Tradition, auch nicht zuerst die zustimmende Kenntnisnahme von Sachverhalten. Glauben heißt unbedingtes Vertrauen auf die schöpferische und befreiende Zuwendung Gottes. Als dankbare Antwort auf Gottes zuvorkommende Güte ist er kein menschliches Werk, sondern verdankt sich Gottes Wirken. Im Glauben bejaht der Mensch sein Bejahtsein durch Gott. Allein aus Glauben, nicht durch unsere guten Taten werden wir vor Gott gerecht. Unter Berufung auf Paulus hat der Protestantismus diese Einsicht ins Zentrum seiner Auffassung vom Christsein gestellt. Aus ihr folgt die für ein humanes Leben unverzichtbare Unterscheidung der Person von ihren Handlungen. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Erfolge und Mißerfolge, seiner Taten und Untaten, seiner Leistungen und Fehlleistungen. Das Christentum gibt damit eine radikale Begründung für die unveräußerliche Würde der Person: Nicht aus ihrer sozialen Stellung, ihren Fähigkeiten oder ihren Aktivitäten resultiert die menschliche Würde. Sie ist darin begründet, daß jeder Mensch in seiner Einmaligkeit von Gott geliebt und zum Ebenbild Gottes geschaffen und bestimmt ist. Nicht durch die Anerkennung, die sich der Mensch selbst verschafft, sondern dadurch, daß er unbedingt, nämlich von Gott anerkannt ist, wird er zu einer für alle Welt Achtung gebietenden Person. Diese Botschaft ist provozierend in einer Zeit, die dazu neigt, den Tüchtigen und Leistungsfähigen einen größeren Lebenswert zuzusprechen und Schwache, Kranke und Behinderte auszugrenzen. Indem der Glaube zwischen Gottes Wirken und menschlichem Handeln unterscheidet, besteht er auch auf der recht begriffenen Differenz zwischen Gott und Welt, Gott und Mensch. Der jüdisch-christliche Monotheismus erkennt nichts Weltliches als göttlich an; die biblische Schöpfungsgeschichte nennt Sonne und Mond, die seinerzeit von vielen als Götter verehrt wurden, schlicht "Lampen". Die Welt wird dabei nicht als widergöttlich betrachtet, sondern in ihrer eigenen Würde als Gottes gute Schöpfung wahrgenommen. Menschen, die sich als Geschöpfe Gottes im Gegenüber zu ihm verstehen, können die Endlichkeit, das Fragmentarische ihres Lebens akzeptieren und werden frei von jenem Gotteskomplex, der sich gerade in den Allmachtsphantasien derer findet, für die der Glaube an Gott irrelevant geworden ist. (2.3.) Die Liebe befreit zum Dienst für den Nächsten. Für das Christentum ist Gott selbst Liebe, deshalb nehmen die Glaubenden in der Liebe auf innigste Weise an Gottes eigenem Wesen teil: "Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm" (1.Joh 4,16). Das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, das Jesus als das größte aller Gebote bezeichnet (Mk 12,29f / 5.Mose 6,4f; 3.Mose 19,18), schließt die Liebe zum Feind ein (Mt 5,44). Es verpflichtet zur Abkehr von der Gewalt. In ihm ist das von der jüdisch-christlichen Tradition freigesetzte universalistische Ethos auf die kürzeste Formel gebracht. Denn die Liebe zum Nächsten ist nicht auf diejenigen beschränkt, die uns von Haus aus nahe sind, sie gilt prinzipiell jedem Menschen, der uns zum Nächsten wird - wie es das Gleichnis vom barmherzigen Samariter illustriert. Liebe im Verständnis des Christentums ist aber mehr als ein bloßes Sollen oder eine moralische Norm. Wäre sie nur dies, so handelte es sich um eine glatte Überforderung. Das Liebesgebot wäre dann womöglich Ursache eines "Unbehagens in der Kultur" (S. Freud), die Stimme eines rigiden Über-Ichs mit potentiell destruktiven Konsequenzen. Für Christen wird jedoch die Liebe zum Nächsten begründet und ermöglicht durch die Liebe Gottes, die sie selbst erfahren haben und im Glauben für sich gelten lassen. Sie können die Feinde lieben, weil Gott seine Sonne aufgehen läßt über Böse und Gute und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,44f). Sie können ihren Schuldigern vergeben, weil sie selbst auf Gottes Vergebung angewiesen sind (Mt 6,12). Das biblische Liebesgebot fordert dazu auf, den Nächsten zu lieben, wie sich selbst. Es verkennt also keineswegs den Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Liebe. Es fordert keine übermenschliche Selbstaufgabe. Gerade die dem Menschen eigene Selbstliebe verpflichtet - als Gabe des Schöpfers verstanden - zur Liebe zum Anderen, setzt dieser aber zugleich ihr menschenmögliches Maß. Wer sich von Gott bejaht weiß, kann Ja zu sich selber sagen und eben deshalb das Lebensrecht und die Würde aller bejahen, die Menschenantlitz tragen. Im Doppelgebot der Liebe spricht Jesus in Aufnahme der jüdischen Überlieferung nicht nur von der Liebe zum Menschen, sondern auch zu Gott. Beides gehört jedoch unauflöslich zusammen. Die wahre Liebe zu Gott ist eben Teilnahme an Gottes Liebe zur Welt und zum Menschen - und die hat unwiderruflich einen Zug nach unten, zu den Verlorenen, Armen und Benachteiligten. Man kann Gott nicht ohne den Nächsten lieben. Daß beide in den neutestamentlichen Schriften untrennbar, ja für menschliches Urteilsvermögen sogar ununterscheidbar verbunden sind, ist begründet im christlichen Bekenntnis zu Jesus als dem Menschen, in dem sich Gott selbst mit den Schwachen und Bedürftigen identifiziert hat. In jedem von ihnen begegnet Christus. Deshalb lautet im Gleichnis vom Weltgericht der letztlich entscheidende Maßstab für alles menschliche Tun und Lassen: "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." (Mt 25,40) (2.4.) Die Hoffnung ermöglicht ein angstfreies Verhältnis zur Zukunft. Sie befreit von Ängsten, die die persönliche Lebensentfaltung blockieren, aber auch zu kollektiver Selbstzerstörung führen können - letzteres zumal dann, wenn anläßlich herausgehobener Zeitenwenden die Erlösungssehnsucht von Menschen in Weltuntergangsphantasien umschlägt. Gegen solche Ängste setzt das Christentum die Zuversicht, daß es - allem Augenschein zum Trotz - eine Erfüllung der menschlichen Wünsche nach Heil, Ganzheit, Identität und Vollendung des Daseins geben wird, ohne daß wir dieses Heil selber herstellen könnten. Hoffnung im christlichen Verständnis begreift die Zukunft als einen Spielraum offener Möglichkeiten, in dem sich schlechthin Neues und deshalb auch für uns selbst Unverfügbares ereignet. Die Zukunft als offener Möglichkeitsraum, als Spielraum von absolut Unerwartbarem: das ist eine Kategorie des Neuen, die radikaler ist als diejenige, die die Hoffnung nur aus der Kompensation vorhandener Mängel, aus den Tendenzen der Gegenwart und den verpaßten Gelegenheiten der Vergangenheit ableitet. Die Zukunft ist für jeden Menschen offen und unverfügbar, sie ist durch keine Macht der Vergangenheit festgelegt und mehr als fortgeschriebene Gegenwart. Anders und positiv gesagt: Christliche Hoffnung richtet sich auf die Zeit, in der Gott selbst kommt. Grund und Ziel christlicher Hoffnung ist Gott, "der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, daß es sei" (Röm 4,17). Hoffnung ist deshalb vom Glauben und von der Liebe nicht zu trennen. Nur die im uneingeschränkten Vertrauen, also im Glauben an Gott begründete Hoffnung weiß sich von nichts Gegebenem abhängig; sie ist Hoffnung gegen alle Hoffnung (Röm 4,18). Sie hält durch, auch ohne auf Erfahrungsdaten gestützt zu sein. Und nur wer liebt, bleibt in seiner Hoffnung nicht auf sich selbst bezogen. Die christliche Zukunftserwartung hat zwar eine individuelle Dimension. Jedes einzelne Leben ist in Gottes Hand geborgen; nichts, weder Tod noch Leben, kann es von der Liebe Gottes scheiden. Die Hoffnung der Christen ist aber nicht auf das Geschick des eigenen Ich fixiert. Sie verlassen sich nicht auf die Unsterblichkeit der Seele; sie hoffen auf die Auferstehung von den Toten. Gottes schöpferische Liebe richtet sich über den einzelnen hinaus auf eine neue Gemeinschaft der Menschen. Diese Hoffnungsperspektive, die die Gegenwart ganz von der guten Zukunft Gottes bestimmt sein läßt, wollte Jesus aufrichten, als er von der nahenden, in seinem Wirken schon spürbaren Gottesherrschaft sprach. Christen halten sich an dieses Datum, sie berechnen kein neues. Sie spekulieren deshalb nicht auf das Ende der Welt, sondern auf ihre Verwandlung. Sie wissen, daß das Reich Gottes mit keiner politischen Utopie identisch ist, aber sie lassen sich von den großen Visionen und Hoffnungsbildern der Bibel inspirieren in ihrem Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Natur. 3. Protestantismus und KulturDie säkularistische Behauptung, die Verabschiedung der christlichen Überlieferung sei geradezu die Bedingung autonomer Kulturentwicklung, ist in Anbetracht der kulturellen Wirkungen speziell des reformatorischen Christentums absurd. Eine kulturprotestantische Apologetik, die sich um die schiedlich-friedliche Symbiose von Christentum und (bürgerlicher) Kultur bemüht, geht aber ebenso fehl, wie eine im Namen des Christentums selbst propagierte radikale Diastase von Glauben und Kultur. (3.1.) Unter "Kultur" wird in unseren Überlegungen die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens und Handelns verstanden, sofern es durch menschliche Zeichenbenutzung bestimmt und durch symbolische Kommunikation reproduziert wird. Als "Kultur" bezeichnen wir also den Inbegriff derjenigen gesellschaftlichen Bereiche, für die Sprache und Ausdruckshandeln die Leitmedien sind. Darin unterscheidet sich Kultur insbesondere von dem Bereich der Wirtschaft mit dem Leitmedium Geld oder von den Bereichen von Staat und Recht, deren Leitmedium die (an Gerechtigkeit gebundene) Macht ist. Natürlich hat die kulturelle Kommunikation auch für die anderen Bereiche große Bedeutung; deshalb sprechen wir von politischer Kultur und ebenso kann nach Wirtschaftskultur oder Unternehmenskultur gefragt werden. Im folgenden Teil II konzentrieren wir uns jedoch auf die wichtigsten Felder von Kultur als einem eigenständigem gesellschaftlichem Bereich. An ihnen soll die Wechselwirkung von Glaube und Kultur erörtert werden. Daß in diesem Text vom "Protestantismus" die Rede ist, soll der ökumenischen Klarheit dienen. Die folgenden Überlegungen fragen aus der Perspektive des reformatorischen Christentums nach der kulturellen Gestaltungskraft des christlichen Glaubens. Von "Protestantismus" wird in diesem Zusammenhang deshalb gesprochen, weil dieser Begriff in besonderer Weise für die kulturellen Wirkungen reformatorischen Christentums steht. Insbesondere im Bereich der Sprache - vor allem vermittelt durch Luthers Bibelübersetzung - oder im Bereich der Musik sind die kulturellen Wirkungen des reformatorischen Christentums unverkennbar. Sie sind ein Erbe, das nicht nur neu angeeignet, sondern auch weiterentwickelt werden muß. Dieses Erbe sich neu anzueignen und weiterzuentwickeln bedeutet aber, es einzubringen in den ökumenischen Dialog und in den Austausch mit den verschiedenen Bereichen heutiger Kultur. (3.2.) Das Verhältnis des christlichen Glaubens zur Kultur ist umstritten: Aus der Perspektive der Kultur wird von manchen behauptet, der christliche Glaube sei eine kulturfeindliche Macht. Der Durchbruch zur autonomen Kultur im modernen Sinn des Wortes wird mit der Emanzipation von der Vorherrschaft der Kirche und des Christentums in Verbindung gebracht. Die Säkularisierung gilt geradezu als Bedingung freier kultureller Entfaltung. Aus der Perspektive des christlichen Glaubens ist im Gegenzug der Versuch unternommen worden, den Anschluß an die Kultur der Moderne zu gewinnen. Vor allem im Protestantismus ist immer wieder das Bemühen zu erkennen, sich in die Entwicklung der Kultur einzufügen. Eine solche Symbiose zwischen Glaube und Kultur gehörte zur Lebensform des protestantischen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert; im Rückblick erhielt sie den Namen "Kulturprotestantismus". Im Widerspruch gegen diese Anpassung des Glaubens an die Kultur wurde die Trennung zwischen beiden Größen proklamiert. Der Kern des Glaubens besteht für eine solche Betrachtungsweise darin, daß er sich der Wirklichkeit Gottes zuwendet, die der Wirklichkeit der Welt unendlich überlegen ist. Deshalb zeichne sich die Botschaft der Kirche durch eine unverrechenbare Fremdheit gegenüber den kulturellen Ausdrucksformen der jeweiligen Gegenwart aus. Keine dieser drei Behauptungen trifft den Kern. Die These von der Kulturfeindlichkeit des christlichen Glaubens verkennt die kulturelle Prägekraft, die das Christentum in allen Phasen seiner Geschichte entwickelt hat und noch entwickelt. Die These von der Symbiose zwischen christlichem Glauben und Kultur verdeckt die kritische Kraft, die der christliche Glaube in die Deutung und Weiterentwicklung der Kultur einbringt. Die Trennung zwischen Glaube und Kultur schließlich ist schon deshalb unzureichend, weil der christliche Glaube selbst, wann immer er geschichtlich wirksam wird, kulturelle Gestalt annimmt. Eine zureichende Verhältnisbestimmung von Glaube und Kultur kann nur gelingen, wenn beide zwar voneinander unterschieden, gerade deshalb aber auch in ihrer Verbundenheit gesehen werden. Denn nur so kann eine Verhältnisbestimmung jenseits der fatalen Alternative von Beziehungslosigkeit und bloßer Bestätigung, von Trennung und Anpassung gefunden werden. (3.3.) Zum christlichen Glauben gehört die Anerkennung der Weltlichkeit der Welt. Es gibt nicht nur eine Verweltlichung der Kirche in dem Sinn, daß die Kirche ihren Auftrag vergißt und deshalb von einer "weltlichen" Vereinigung nicht mehr zu unterscheiden ist. Es gibt auch nicht nur eine Verweltlichung des Glaubens in dem Sinn, daß der Glaube seine Kraft verliert und gegenüber den Mächten der Entkirchlichung und Entchristlichung das Feld räumt. Sondern es gibt darüberhinaus eine Verweltlichung der Welt in dem Sinn, daß diese von aller Vergöttlichung befreit und in ihrem weltlichen Charakter anerkannt wird. Eine solche Verweltlichung der Welt ist ein ureigenes Anliegen des Christentums und zugleich eine unentbehrliche Voraussetzung von Kultur im modernen Sinn des Wortes. Sie hat ihre Grundlage einerseits in der Unterscheidung von Gott und Welt, andererseits in dem Gedanken, daß Gott, der die Welt geschaffen hat, in sie eingegangen und selbst Mensch geworden ist. Um der Menschwerdung Gottes willen "verweltlicht" sich auch der Glaube so, daß es der Welt zugute kommt. Das hat in unserer Kultur Spuren hinterlassen, denen nicht gerecht wird, wer die Säkularisierung ausschließlich als einen negativen Vorgang betrachtet. Denn der christliche Glaube selbst unterscheidet zwischen Glauben und Wissen und erkennt damit das eigenständige Recht der Wissenschaften an. Er selbst unterscheidet zwischen Kirche und Staat und räumt damit weltlicher Machtausübung eine eigenständige Berechtigung ein, sofern sie sich lebensdienlich vollzieht und sich nicht an die Stelle Gottes setzt. (3.4.) Für den so beschriebenen Zusammenhang von Glauben und Kultur ist die politische Kultur ein besonders deutliches und wichtiges Beispiel. Die christliche Forderung, man solle "Gott mehr gehorchen als den Menschen"(Apg 5,29), wendet die Unterscheidung von Gott und Welt auf den Bereich des Politischen an. Sie weist dem Politischen nur einen zweiten Rang zu und schützt dadurch vor politischen Heilserwartungen, die allzu schnell Unheil bewirken. Sie ermutigt zugleich zum geduldigen Einsatz für kleine Fortschritte, die von den Propagandisten des großen revolutionären Umbruchs zumeist verachtet werden. Sie macht geltend, daß politische Macht, die den Unterschied von Gott und Welt mißachtet, in Machtmißbrauch umschlägt. Sie sieht deshalb die vorrangige Aufgabe der politischen Ordnung darin, dem Machtmißbrauch zu wehren und einen Gebrauch politischer Macht zu fördern, der der Freiheit des Menschen zugute kommt. In der Geschichte des Christentums mußte die Kraft des Unterscheidens gerade auf dem Feld des Politischen oft gegen die großen Kirchen geltend gemacht werden. Nicht selten geschah das durch Christen, die das Evangelium ernster nahmen und konsequenter verwirklichten als das etablierte Christentum: Der Widerspruch gegen die Unterdrückung der Indios erfolgte im Namen eines christlich begründeten Naturrechts. Reformierte Kirchen und nonkonformistische christliche Gruppen leisteten den entscheidenden christlichen Beitrag zur Entstehung der modernen Grundrechts-Demokratie, während ein Teil der großen Kirchen ihr mit vermeintlich theologischen Argumenten Widerstand entgegensetzte. Aus dem christlichen Protest gegen die religiöse Bevormundung durch den Staat entstand das Konzept einer wechselseitigen Unabhängigkeit von Kirche und Staat. Christliche Einflüsse haben zur Entwicklung eines Demokratieverständnisses beigetragen, das die Machtkontrolle um der Freiheit willen ins Zentrum rückt. Sie vollzieht sich einerseits auf der Grundlage einklagbarer Grundrechte, andererseits kraft der Gewaltenteilung zwischen der gesetzgebenden Gewalt (Parlament), der ausführenden Gewalt (Regierung, Verwaltung) und der unabhängigen Justiz. Dieses Demokratieverständnis entspricht der christlichen Überzeugung, daß Menschen verführbare Wesen sind und daß deshalb gegen den Mißbrauch der Macht Vorsorge getroffen werden muß. Dasjenige Demokratieverständnis dagegen, das den unmittelbaren Vollzug des Volkswillens fordert (Rousseau) und um der Einheit des Volkes willen Grundrechte, Gewaltenteilung und Parlamentarismus geringschätzt oder gar als bloßen Formalismus ablehnt, lädt zu einer Diktatur im Namen des Volkes ein, die um einer imaginären Einheit oder Souveränität des Volkes willen die Freiheitsrechte der Bürger opfert. Im Konflikt zwischen diesen beiden Auffassungen von Demokratie ist der christliche Glaube keineswegs neutral. Seine politischen Folgen haben ein deutliches Profil; zu ihm gehört gegebenenfalls auch die entschiedene Kritik an Positionen, die mit der Anerkennung der unteilbaren menschlichen Würde sowie mit der Einsicht in die Fehlbarkeit jedes Menschen unvereinbar sind. (3.5.) Wie in der politischen Kultur so sind auch in unseren kulturellen Grundüberzeugungen im ganzen die Auswirkungen christlichen Denkens deutlich zu erkennen. Dazu gehört der Gedanke, daß jeder Mensch seinem Gewissen folgen müsse. Dieses Prinzip individueller Verantwortung stammt aus der christlichen Überzeugung, daß jeder Mensch vor Gott rechenschaftspflichtig ist. Dazu gehört weiter das Prinzip, daß jeder Mensch einen elementaren Anspruch darauf hat, auf Grund seiner unveräußerlichen Würde als Rechtsperson anerkannt zu werden. Dieser Anerkennungs-Universalismus stammt aus der christlichen Überzeugung, daß jeder Mensch Ebenbild Gottes ist. Dazu gehört schließlich der durch das christliche Liebesgebot geförderte Solidaritätsgedanke, wonach es zur Abwendung der Not des Nächsten nicht nur privater, sondern auch staatlich und gesellschaftlich organisierter Vorkehrungen bedarf. Dem Einwand, daß diese Überzeugungen inzwischen auch unter dem Vorzeichen eines allgemeinen, ja sogar atheistischen Humanismus verstanden werden können, sollten Christen weder voreilig widersprechen noch vorschnell nachgeben. Wenn sie heute auf die christliche Herkunft wesentlicher Elemente unserer Kultur hinweisen, so nicht um kultureller Hegemonie- bzw. Besitzansprüche willen. Christen sind nicht im Besitz der Wahrheit, sondern unterstehen einer Wahrheit, die auch sie selbst richtet, von den eigenen Fehlern freispricht und so zu einem Neuanfang ermutigt. Aus christlicher Perspektive läßt sich deshalb sagen: Der Heroismus eines atheistischen Humanismus verdient zwar Respekt; aber er ist im Licht des Evangeliums von der zuvorkommenden Gnade Gottes überholt. (3.6.) Was am Beispiel der politischen Kultur besonders anschaulich wird, gilt für die Kultur insgesamt: Das Verhältnis des christlichen Glaubens zu ihr wird nicht zureichend erfaßt, wenn der Glaube einfach als Bestätigung der gegebenen Kultur angesehen und als Werthintergrund zur Anerkennung all dessen benutzt wird, was sich kulturell entwickelt. Es wird aber auch nicht zureichend verstanden, wenn zwischen beiden Größen Beziehungslosigkeit herrscht. Ein Rückzug der Kirche aus dem Feld der Kultur ist deshalb mit christlichem Selbstverständnis unvereinbar. Zu den Aufgaben der Kirche gehört es vielmehr, auch im Bereich der Kultur zwischen Lebensförderndem und Lebensschädigendem zu unterscheiden. Gestaltung und Kritik bestimmen zusammen das Verhältnis von Protestantismus und Kultur. Die Kirche ist deshalb zur kritischen Teilnahme an der kulturellen Entwicklung der eigenen Gegenwart verpflichtet. Wenn ihr das gelingt, leistet sie kulturelle Diakonie. Zu ihren Aufgaben gehört es aber ebenso, nach den kulturellen Ausdrucksformen zu suchen, ohne die der Glaube gar nicht Gestalt gewinnen kann. Denn nur wo der Glaube in überzeugender Form kulturell zum Ausdruck kommt, gelingt die Inkulturation des Christentums. Sie kann nicht auf überlieferte Ausdrucksformen beschränkt werden, sondern muß sich auf die kulturelle Sprache der Gegenwart einlassen und an deren Weiterentwicklung mitwirken. Auch in einer Kirche mit einer langen kulturellen Tradition stellt sich die Aufgabe der Inkulturation immer wieder neu. |