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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips I

Besprechungen ausgewählter Videoclips

Andreas Mertin

  1. Ramstein: stripped
  2. Vangelis: Conquest of paradise
  3. Smashing pumpkins: Bullet with butterfly wings
  4. Dr. Alban: This time I'm free
  5. Youssou N'Dour & Neneh Cherry: 7 seconds
  6. Joy, Sugar & Cream: My land is your land
  7. Red Hot Chili Peppers: Scar Tissue
  8. Whitney Houston: My love is your love
  9. Madonna: Beautiful Stranger
  10. R. Kelly: "If I could turn back the hands of time"
  11. Orgy: Stitches
  12. Rage against the machine: Guerrilla Radio

Rammstein

Video-Clips spiegeln und antizipieren gesellschaftliche Entwicklungen. Heute, wo Auftritte der Gruppe "Böse Onkelz" schon beinahe zur anerkannten Kultur gehören, ist in der gesamten Musikszene das fast beiläufige Auftauchen nationalsozialistischer bzw. faschistischer Pathosformeln unübersehbar. So steht die deutsche Gruppe Rammstein beim Musiksender MTV bereits seit längerem im Verdacht, mit ihren Texte und Inszenierungen faschistoide Tendenzen zu verkörpern. Nicht erst bei ihrem Werk "stripped" wird tatsächlich deutlich, wie weit die Gruppe mit ihren Reinszenierungen belasteter Ästhetiken zu gehen bereit ist. Handelte es sich in ihrem Video-Clip "Du hast" um eine Auseinandersetzung mit Themen wie Treue und Treuebruch, Männerbünde und Verrat der intimen Beziehung, welche ohne Brechung mit dem Foltern, Verbrennen und Opfern von Menschen spielte, so werden im Video-Clip "stripped" nun explizit - und unter dem selbstgefälligen Beifall der Urheberin - Bilder aus Leni Riefenstahls Olympia-Film zitiert. Wie die Gruppe im Interview bekannte, war ihnen die Brisanz des Vorgangs überhaupt nicht bewußt. Man habe Riefenstahls Bilder einfach als zum Stück passend empfunden, es seien eben Szenen, die genau ausdrückten, was mit dem Lied transportiert werden sollte. Der verharmlosende Hinweis der Produzenten, Riefenstahls Ästhetik sei doch gar nicht nationalsozialistisch, sondern im Faschismus nur mißbraucht worden, wird von der Presse inzwischen positiv aufgegriffen ("Auch die Nationalsozialisten bedienten sich der Bilder der Fotografin und Filmemacherin." dpa) Und auch Rammstein gibt als Selbsteinschätzung zum Besten: wir haben keine politischen Inhalte. Nun weisen mehrere Inszenierungen der Gruppe, welche um die Themen Tod, Sexualität, Gewalt, Macht und Mord kreisen, typische Elemente nationalsozialistischer Bilderwelten auf. Saul Friedländer hat schon 1982 darauf hingewiesen, "daß ein neuer Diskurs über den Nazismus sich heute genau auf der imaginären Ebene, im Bereich der Bilder und Gefühle entfaltet". Vielleicht ist eine der Ursachen für diese Renaissance, daß die Inszenierungen der Nationalsozialisten so selten explizites Thema (medien-) pädagogischer Bearbeitung wurden. Wie ist sonst zu erklären, daß deren Re-Inszenieung auf so ungeteilten gesellschaftlichen Beifall stößt, wie dies etwa bei Henry Maskes Boxpromotionsong geschah.


Vangelis

Im September 1994 mußte Henry Maske eine neue Erkennungsmelodie für seine Boxkämpfe bestimmen. Seine Wahl fiel auf die Titelmelodie des Films "1492 - Conquest of paradise" von Vangelis. Aufgrund dieser Entscheidung wurde das Lied monatelang die Nr. 1 in vielen Ländern Europas und damit auch zum größten kommerziellen Erfolg von Vangelis. Brisant macht die Verknüpfung von Körperkult und epischer Musik aber erst der Video-Clip, das heißt die Kombination mit dem Bild. Es war vielleicht ein Fehler, den Clip von einem Künstler produzieren zu lassen, der normalerweise statische Bilder herstellt. Der Schweizer Michel Comte ist seit langem ein berühmter Fotograf der Mode- und Prominentenszene. In Interviews hat sich Comte immer engagiert links-liberal geäußert, zuletzt auch dezidiert gegen neo-nazistisches Gedankengut: "Die Jugendlichen wissen einfach nicht, was vor fünfzig Jahren passiert ist. Das sind heimatlose Menschen aus der Mittel- und Unterschicht, die von den Schulen fliegen und drogensüchtig werden. Die Neonazis geben ihnen ein Heim und waschen ihre Hirne ... Man darf dies auf keinen Fall unterschätzen und muss alles dafür tun, dass diese Jugendlichen wieder auf den richtigen Weg kommen". Das hat aber nicht verhindert, daß der fertige Video-Clip als Reinszenierung faschistischer Pathosformeln angesehen werden kann. Er konnte bruchlos an jene Ästhetisierungsstrategien des Faschismus anknüpfen, die mit den Filmen Leni Riefenstahls verbunden sind. So wie in deren Film über die Olympiade 1936 sportliche Siege als Taten von Übermenschen erscheinen, so wird auch Henry Maske in seinem Clip als "Übermensch" in Szene gesetzt. Henry Maskes sportliche Bemühungen werden präsentiert als Sieg des Herrenmenschen, als Triumph des Willens und der Kraft über den unterlegenen Gegner. Dazwischen eine Fülle von Einzelszenen, die nicht zuletzt ästhetische Inszenierungen Arno Brekers fotografisch reinszenieren. Die religiösen Assoziationen, die Michel Comte angeblich inspiriert haben sollen (unter anderem soll Maske im Clip wie Jesus über das Wasser laufen), wirken keinesfalls so, wie beabsichtigt. Vielmehr wird vor allem die von den Nationalsozialisten vorangetriebene Ingebrauchnahme derartiger religiöser Formeln durch die Deutschen Christen reaktiviert. Der Herrenmensch als Erlöserfigur oder der Erlöser als Herrenmensch.


Smashing Pumpkins

Als Gegenstück zu den gerade beschriebenen Werken kann der Video-Clip "Bullet with butterfly wings" der Gruppe Smashing Pumpkins bezeichnet werden. Der Clip behandelt das Gefühl des hoffnungslosen Eingeschlossenseins. In seinen Bildern an Szenen aus Konzentrationslagern erinnernd, stellt er die Frage nach der möglichen Befreiung aus der Ausweglosigkeit. Im Clip sieht man eine Menschenmenge beim Versuch, einem namenlosen Ort zu entfliehen. Ihre tägliche Fronarbeit besteht darin, mit Spitzhacke, Schaufel und Keilhammer endlos die Erde zu bearbeiten. Dicht auf dicht klettern die ärmlich Gekleideten dann einige hoch. Gerade noch auf dem Weg nach oben, müssen sie aber schon wieder herunter und weiter graben, hacken, schlagen. Ihre Aktivitäten werden immer hektischer und heftiger, die Schaufeln stoßen in konzertierter Aktion in die Erde, einzelne wühlen sogar mit bloßen Händen darin. Letztlich bedrängen sich alle gegenseitig, wenden ihre Aktivität gegeneinander und fallen übereinander her. Eine undurchdringliche Masse menschlicher Körper entsteht. Dann sind zwei parallele Ereignisse zu beobachten: einer der Männer stirbt beim Gerangel, ein anderer findet beim Graben mit der bloßen Hand in der grauen Erde einen schönen, lebendigen, handgroßen roten Schmetterling. Plötzlich fängt es an zu regnen und alle Beteiligten freuen sich, daß der Regen den Dreck von ihren Körpern abwaschen wird. Doch die Erde wird durch den Regen nur zum Matsch, so daß sich die Menschen im Schlamm winden wie Fische in einem Teich, in dem zu wenig Wasser ist. Mittendrin versucht der Finder des Schmetterlings, die Flügelbewegung des Tieres mit seinen Armen nachzuahmen. Aber seine Flucht aus dem Elend durch Imitation bzw. Imagination scheitert. Am Ende sinkt er resignierend auf seine Knie. Der Liedtext beschreibt die Situation der in ihrem Elend gefangenen Menschen: Despite all my rage I am still just a rat in a cage. Wie für Ratten im Käfig oder Lagerinsassen ist der Weg nach draußen versperrt. Der Clip verweigert positive Lösungen. Der Wunsch, der Hölle zu entfliehen, wird nicht erfüllt: And I still believe that I cannot be saved. Als "Pop noir" ist die Musik von Smashing Pumpkin bezeichnet worden. "Bullet with butterfly wings" regt gegen alle verklärenden Inszenierungen von Männerbünden und Lichtgestalten zum Nachdenken an.


Dr. Alban: This time I'm free

In Zeiten wie den gegenwärtigen fällt es schwer, unbefangen über Popmusik zu schreiben. Krieg - nicht nur der Krieg auf dem Balkan - ist auch in Video-Clips thematisch. Da gibt es zunächst die genretypischen Trivialisierungen a la Captain Jack (Soldat sein als erotisches Abenteuer) oder Mariah Carey (welche Marilyn Monroes Truppenbesuche reinszeniert). Aber es gibt auch ernsthafte Auseinandersetzungen. In Michael Jacksons Earthsong finden sich Anspielungen auf den letzten Balkankrieg, beim Clip Zombies der Gruppe The Cranberries Hinweise auf die Folgen von Bürgerkriegen für die Psyche von Kindern. Anlaß des Liedes This time I'm free von Dr. Alban war das Entsetzen über die Ereignisse in Ruanda und der Umstand, daß in Afrika Zehntausende grundlos im Gefängnis sitzen. Zentrales Stichwort ist die Freiheit, im weiteren Sinn: die Menschenrechte. Was gehört zu den Rechten der Menschen, was charakterisiert Freiheit? Diese Frage ist zwischen den Industrienationen und den sog. Entwicklungsländern stark umstritten. Während die Industrienationen die Menschenrechte als Bürgerrechte definieren, interpretieren andere sie als soziale Rechte, also als Recht auf ein Leben ohne Hunger, Unterdrückung und Elend. Der Leitsatz des Clips - Freiheit ist kein Privileg, sondern ein Recht - deutet im Kontext der Verhältnisse in Afrika auf die soziale Komponente der Menschenrechte. Die Bildersprache des Clips ist hoch artifiziell. Drei Bildebenen strukturieren den Clip: die erste, die Dr. Alban auf einer Ruine, dann durch ein Feld streifend und schließlich mit seiner Band in der Ruine zeigt; die zweite, die Dokumentarbilder aus der ganzen Welt von Aufständen, Demonstrationen, Verfolgung usw. zeigen; die dritte, die sozusagen als Metapher eine Reisegruppe vorführt, die durch fotografierend durch Elendsgebiete fährt: Schiffbruch mit Zuschauer - oder das gut dokumentierte Elend. Damit sind auch die Diskussionspunkte vorgezeichnet: was sind elementare Rechte der Menschen? Was können, was müssen wir bei Menschenrechtsverletzungen tun?


Youssou N'Dour & Neneh Cherry: 7 seconds

Youssou N'Dour ist nicht nur in seiner Heimat Afrika ein Star. Er ist der Schöpfer des mbalax, einer Mischung von traditioneller senegalesischer mit karibischen und internationalen Pop-Rhythmen. Mit seinem afrikanischen Pop-Stil hat der N'Dour in den letzten Jahren viele seiner Kollegen beeinflusst. 1988 war N'Dour einer der Höhepunkte der Amnesty International Human Rights Tour. 1994 produzierte er seine vierte internationale Platte The Guide, auf der auch der Erfolgssong 7 seconds enthalten war, ein Duett mit der durch Punk, Rap und Dance-Pop bekannten Neneh Cherry, das in kürzester Zeit weltweit in den Charts vertreten war. Thema des Liedes ist das problematische Zusammenleben der Menschen, die Blicke die sie aufeinander werfen, die Gedanken, die sie sich übereinander machen und die Möglichkeiten der vorurteilsfreihen gegenseitigen Annäherung. Don't see me from a distance / Don't look at my smile / And think that I don't know / What's under and behind me / ... / I would like us to forget about / Their color / So they can be optimistic / ... / Let's leave the doors wide open / So they can talk about their pain / Then we can give them information / That will bring us all together ... Der Video-Clip zum Lied ist durchgängig in Schwarz-Weiß gedreht worden und ist eine äußerst zurückhaltende Inszenierung. Er zeigt Youssou N'Dour vor einer Hausfassade im Wechsel mit Neneh Cherry und kontrastiert dies mit Bildern von unbekannten Menschen verschiedener Hautfarben, verschiedener Lebensalter und dementsprechend vermutlich auch äußerst unterschiedlicher Lebensumstände. Hinzu kommen diverse, z.T. verschwommen dargestellte Szenen aus einem städtischen Ambiente. Die Bilder wirken gerade in ihrer Schlichtheit sehr eindrücklich und transportieren eine äußerst intensive Atmosphäre. Was Youssou N'Dour und Neneh Cherry mit ihrem Clip vortragen, ist ein ganz unpathetischer, unprätentiöser Appell für ein unvoreingenommenes und friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Menschen: Let's leave the doors wide open.


Joy, Sugar & Cream: My land is your land

Ein fast unspektakulär zu nennendes Lied einer jungen Berliner Gruppe über die multikulturelle Gesellschaft, über die Möglichkeiten des friedlichen Zusammenlebens, über die Sinnsprüche und Leitmotive, an denen einzelne ihr Leben orientieren. Farblich ist der Clip dem verblichenen Braunton alter Fotos angenähert worden. Präsentiert wird ein Fotostudio, in welchem am laufenden Band Standfotos geschossen werden und zwar von Menschen ganz unterschiedlicher Nationen und Hautfarben, aber auch offensichtlich unterschiedlicher Einstellungen und Lebenskonzepte. Die fotografierten Personenkonstellationen haben einerseits Ähnlichkeit mit den typischen gestellten und darin ganz unwirklich erscheinenden Familienbildern, zeigen andererseits aber auch formale Bezüge zu aktuellen Werbefotos. Zu einzelnen der im Verlauf des Clips fotografierten Personen werden Schriftzüge eingeblendet, die als Kurzvorstellung mit Leitmotiv verstanden werden können: Nick, Liverpool: Tatoos; Luires Ramires, Costa Rica: Don't worry; Yasmen, Sweden: Get along; Ebu, Zaire: Loveparade; Cillia, Italy: Take me as I am; Jan, Russia: Friends; Matthew, USA: We'll be; Koon, Malaysia: Like the moon; Wilson, Nigeria: Colors; Madiene, Israel: Side by side; Khuanhatat, Bali: The world is my oyster; Hilko, Germany: One world; Pete Australia: It will be allright. Allmählich füllt sich das Studio mit den vielfältigen Menschen, die für einen Augen-Blick zusammenkommen und miteinander verbunden sind. Der Liedtext ist klar und deutlich und wird in Englisch, Italienisch, Spanisch und Griechisch im Schlußbild festgehalten: My land is your land. Was so freundlich und friedlich wirkt, ist empirisch und kontra-faktisch zugleich. Tatsächlich leben natürlich in Städten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt Menschen verschiedener Nationen nebeneinander, ob sie aber immer miteinander leben, ob sie überhaupt miteinander leben können, ist die Frage, auf die die appellative Inszenierung keine Antwort geben kann, sondern konkret im Leben beantwortet wird.


Red Hot Chili Peppers: Scar Tissue

Motive der Unentschlossenheit und des wiederholten Zugriffs auf bereits bekannte musikalische wie dramaturgische Elemente beherrschen die aktuellen Musikcharts. Als ob man nicht wüßte, wie es weitergehen soll, reaktiviert man die Musik der 20er- bis 60er-Jahre, zitiert, ironisiert, covert usw. und das Ergebnis ist Postmoderne in schlechtester Form. Selbst da, wo die Virtualisierung des Lebens und der Popkultur weiter vorangetrieben wird, wie in Jennifer Lopez' Clip "If you had my love", hat man doch immer das Gefühl, alles schon einmal und vor allem besser gehört und gesehen zu haben. Erst gar keinen Versuch, etwas Originelles zu produzieren, unternehmen Red Hot Chili Peppers mit dem Clip "Scar Tissue" ihres Albums "Californication". Bemüht, endlich wieder an die Erfolge früherer Zeiten anzuknüpfen, hat man den Gitarristen John Frusciante reaktiviert und spielt den gewohnten "cosmic trip-hop funk". "Scar Tissue", die erste Single des Albums, ist, wie ein Kritiker schrieb, ein greller Monolog über Einsamkeit und sexuelle Frustration: "Push me up against the wall / Young Kentucky girl in a push-up bra / Fallin' all over myself / To lick your heart and taste your health." Im Clip sehen wir die Band on the road again im klapprigen Wagen durch eine end- und trostlose Landschaft fahren. Aber in diesem Roadmovie ist alles, was geschehen kann, schon geschehen. Die müden Helden sind von schweren Wunden nur so übersät, Stirn, Ohren, Hände, Bauch mit dreckigem Verbandszeug verklebt. Und so ziehen sie ihre einsame Bahn durch die Ödnis, verletzt, frustriert und gelangweilt - eine Art 60er-Jahre-Chill-out nach einem gescheiterten Verbrechen. Ihre einzige Perspektive scheint die ihres berühmten Vorfahren Don Quixote, des Ritters mit der traurigen Gestalt: "Wisse Sancho, sprach der Ritter, all die Stürme, die uns jetzt nacheinander getroffen haben, sind nur Zeichen dafür, dass der Himmel sich aufklären und unser Schicksal sich bald bessern wird; denn weder Glück noch Unglück können jemals lange dauern, und da das Unglück uns so lange verfolgt hat, muß also das Glück jetzt vor der Schwelle stehen."


Whitney Houston: My love is your love

Der Religionssoziologe Peter Berger hat in seinem Buch "Auf den Spuren der Engel" die kontrafaktische Beruhigung "Alles ist in Ordnung", die eine Mutter ihrem ängstlichem Kind gibt, als eine bestimmte Form religiöser Aussage interpretiert: "Weil der Trost, den sie gibt, über sie und ihr Kind, über die Zufälligkeit der Personen und der Situation hinausreicht und eine Behauptung über Wirklichkeit als solche enthält." Wie dieses Motiv des vorausgreifenden Zutrauens in die Ordnung der Wirklichkeit Stück für Stück trivialisiert werden kann zeigt sich gut in Whitney Houstons Videoclip zu "My love is your love". In der Ausdrucksform der Generalreligion des 20. Jahrhunderts, der privatisierten Liebe, lautet dies so: If tomorrow is judgement day / And I'm standin' on the front line / And the Lord ask me what I did with my life / I will say I spent it with you. Über diese Interpretation von Matthäus 25 kann man sich nur wundern. Da kann auch die vorgeschlagene Bewältigung des 3. Weltkriegs nicht mehr überraschen: If I wake up in WW 3 / I see destruction and poverty / And I feel like I want to go home / It's okay if you commin' with me. Im Clip wird das so umgesetzt, dass gleich am Anfang alle Lichter ausgehen und Whitney Houston einsetzt mit dem wiederholten "clap your hands, its alright." Was zunächst noch wie Urvertrauen aussehen könnte, schlägt nach und nach in eine karnevaleske Inszenierung letzter Fragen um. Die gerade ausgefallene Stadtbeleuchtung geht auf einen Schlag zu einem Straßenfestival wieder an und eine rauschende Fete wird gefeiert. Im überschäumenden Happiness-Stil wird dann sogar der eigene Tod harmonisiert: If I should die this very day / Don't cry, cause on earth we wasn't meant to stay / And no matter what people say / I'll be waiting for you after jugdement day. "Wer unbekanntes und unpraktiziertes Christentum zur Theaterkulisse für harmonische Abendunterhaltung verkommen lässt, dem droht religiöser Analphabetismus", schrieb einmal der Soziologe Dirk Käsler. Und er fügte hinzu: "Den Preis dafür zahlen wir, nicht die Religion." Whitney Houstons Clip ist ein anschauliches Beispiel dafür.


Madonna: Beautiful Stranger

Der Literaturwissenschaftler Ihab Hassan hat einmal eine Reihe von Aspekten benannt, die helfen sollen, den Gehalt von Postmoderne einzugrenzen. Dazu gehören Unbestimmtheiten, Fragmentierung, Entkanonisierung, Ironie, Perspektivismus, Reflexion, Hybridisierung, Playgiarismus, Karnevalisierung, Performance, Partizipation, Theater und Intertextualität. Wo nichts Neues mehr entwickelt werden kann, ist der einzige Ausweg die distanzierte Bezugnahme auf die Tradition. Vielleicht, so hat Hassan ironisch hinzugefügt, ist Postmoderne aber auch nur eine mysteriöse, gewissermaßen allgegenwärtige Ingredienz, etwa wie Himbeeressig, der aus jedem Rezept sofort nouvelle cuisine macht. Madonnas Beautiful Stranger ist nun aber ein gutes Beispiel dafür, wie leicht das postmoderne intertextuelle Anspiel daneben gehen kann, wie schnell Ironie in bloßen Klamauk umschlägt. Die Filmmusik zur US-Klamotte "Austin Powers: The Spy Who Shagged Me" ist - obwohl für den MTV-Award nominiert - im Rahmen von Madonnas Gesamtwerk ein Ausrutscher. Im Videoclip bekommt ein clownesker 007-Verschnitt den Auftrag, eine feindliche Agentin zu überwachen, die sich durch äußerst wechselhafte Verkleidungen auszeichnet. Diese Agentin ist natürlich Madonna - eine Anspielung auf die zahlreichen Selbstdarstellungsformen, die sie seit Beginn ihrer Karriere gepflegt hat. "Madonna wechselt ihr Erscheinungsbild wie eine Schlangenhaut: Einmal ist sie das schlimme Mädchen, Spielzeug für große Jungs, dann die unausstehliche Feministin, dann wieder die lüsterne Sexbombe, dann erscheint sie als Marilyn Monroe, wiedergeboren als Geist aus einer Wasserstoff-Flasche ... Alle ihre Identitäten haben nur eins gemeinsam: Sie sind offensichtlich verführerisch künstlich. Sie dringen darauf, daß sie sorgfältig kalkuliert erscheinen" notierte die TIME 1990. Von sorgfältiger Kalkulation und artifizieller Verführung kann in diesem Videoclip allerdings keine Rede mehr sein. Wenn in diesem Videoclip die 90er-Jahre die 60er imaginieren, dann sind die Anspielungen nur plump, alle Zitate der Pop-Kultur trivialisiert. Dann doch lieber das Original.


R. Kelly: "If I could turn back the hands of time"

"Funny, funny how time goes by" singt R.Kelly in seinem Lied "If I could turn back the hands of time". Das sagt sich der Betrachter des Videoclips auch, denn es ist ein Clip, den man sowohl vorwärts wie rückwärts betrachtet haben muß, um ihn nachvollziehen zu können. Was der Betrachter sieht, ist eine komplexe Collage mit zeitlich gegenläufig gesetzten Bildern. Während eine Bilderfolge offensichtlich chronologisch abläuft, läuft eine andere rückwärts. Während aber etwa in Michael Jacksons Clip "Earthsong" die dort eingesetzten rückwärtslaufenden Bilder einfach den zweiten Teil des Clips ausmachen und ohne weiteres nachvollziehbar sind, sind die Bildfolgen bei R. Kelly komplex ineinander verschachtelt. Thema des Liedtextes wie des Clips ist der Rückblick auf eine gescheiterte Beziehung. Im Liedtext singt R. Kelly, was er alles anders machen würde, if I could turn back the hands of time: I'd never hurt you (If I could turn back) - Never do you wrong (If I could turn back) - And never leave your side (If I could turn back) ... Auf der Bildebene wird das so umgesetzt, dass eine junge Frau die gesammelten Fotos einer Beziehung von einer Brücke herunter wirft. Sie wirbeln herum, fallen nach und nach auf den Boden und ergeben kurz vor dem Ende des Clips - in der zur Zeit so beliebten Technik aus tausenden von Einzelbildern ein neues zu schaffen - das Porträt des Sängers R. Kelly. Jede Beziehung besteht aus einer Fülle im Fluß befindlicher und geronnener Bilder, im Rückblick einer scheiternden Beziehung drängen sich die negativen Augenblicke in den Vordergrund. Diese werden - im rückwärts laufenden Blick - nach und nach vorgestellt: das Basketballspiel, das der Frau vorgezogen wird, der heftige Streit im Regen, ein fahrlässig verursachter Autounfall, eine Dreiecksgeschichte, ein verlorenes Baby. Das Besondere des Clips ist weniger die Beziehungsgeschichte (die findet sich auch bei den Fantastischen Vier mit "Sie ist weg"), als vielmehr seine den Betrachter herausfordernde Collagetechnik.


Orgy: Stitches

Ende 1997 aus der produktiven Heavy-Metal-Szene von Los Angeles entstanden, debütierte die Gruppe Orgy 1998 mit dem Album Candyass, auf dem sich auch Stitches befindet. Dieses Lied schreit sexuelle Frustrationen heraus und hämmert sie dem Hörer ein. Was aber macht man, wenn alle Bilder dazu schon gezeigt, alle provozierenden Inszenierungen schon erprobt, jede gewagte Illustration schon Konvention ist? Vor dieser Frage standen die Macher des Clips und beschlossen deshalb, nicht nur das Machen des Videoclips selbst ins Zentrum zu setzen, sondern den Clip zugleich zu musealisieren. Gleich am Anfang blickt der Betrachter auf das Treatment des Clips und liest - wenn er denn das Bild anhält - die fragmentarische Botschaft: This is a video of stunning simplicity, perfect aesthetics and supremely re... content. This could be considere... ultimate deconstrionist video. ..erything that is required to produce .. video is carefully place in a wh... / idea is: .heologists from the future have an ... most popular art form of the 20. Century = the music video is their case study of form. ...bjects and people are positioned an ..tographed with great at-tention to ..ail and aesthetics. Ty-pographic ... ns are placed next to each other ... which describes ist function ... Tatsächlich ist dieses Treatment schon Teil einer Ausstellung eines Museums der Zukunft, das sich Musikvideos widmet und dabei den Clip Stitches der Gruppe Orgy zeigt. Die Bandmitglieder werden im Museum als lebensechte Skulpturen vorgestellt (Die Off-Stimme warnt: Bitte die Ausstellungsstücke nicht berühren!). Daneben als weitere Museumsstücke ein Musikgruppen-Simulator, der die Band beim Spielen zeigt, das Honorar des Regisseurs, der Liedtext, die "obligatorische Frau", die produzierte CD, weiße Farbe, eine Fan-Devotionalie usw. Am Anfang und am Ende ein junger Mann, der im Museum der Videoclips sich die Informationen über dieses Stück der Videoclipgeschichte per Kopfhörer abruft. Der Videoclip wird autoreflexiv.


Rage against the machine: Guerrilla Radio

"Wer baute das siebentorige Theben?" Sozusagen eine modernisierte Variante der brechtschen "Fragen eines lesenden Arbeiters" ist der Clip Guerrilla Radio von Rage against the machine. Er transformiert die klassische Frage in die postmoderne: "Wer schneidert die Kleider der Reichen?" Die Gruppe, deren Herz erklärtermaßen links schlägt und die ihre Instrumente dekorativ mit rotem Stern und Che Guevara Porträt ausstattet, setzt sich mit den ungerecht verteilten Chancen auf der Welt auseinander: The cameras eyes on choice disguised / Was it cast for the mass who burn and toil? / Or for the vultures who thirst for blood and oil? / Yes a spectacle monopolized / They hold the reins, stole your eyes / All the fistagons the bullets and bombs / Who stuff the banks / Who staff the party ranks? Rage against the machine entstand Anfang der 90er Jahre aus diversen anderen Gruppen in Los Angeles und entwickelte wie die Kritik nicht ohne Ironie schrieb "a Molotov cocktail of punk, hip hop and thrash". Ihr Engagement gegen das Establishment und den US-amerikanischen Kulturimperialismus pflegen sie auch in Radio Guerrilla. Zu sehen sind am Anfang Menschen diverser Entwicklungsländer, die begleitet von harmloser Kaufhausmusik an einfachen Nähmaschinen Kleidungsstücke zuschneiden. Dann setzt die Musik der Gruppe ein und man sieht junge Yuppies (Plastikmenschen, die mit Plastikgeld bezahlen) beim lustvollen Shopping, gelangweilten Probieren und demonstrativen Ausführen neuer Kleidungsstücke und beim modischen Freizeitsport. Zwischendurch streicht ein Kapitalist bei den ausgebeuteten Arbeitern seinen Profit ein. Es folgt der Aufruf zur revolutionären Veränderung: "It has to start somewhere / It has to start sometime / What better place than here / What better time than now"? Alles kulminiert dann in einem unwirklichen Szenario eines über den smoggeschwängerten Großstädten thronenden Maschinenmolochs: Apocalypse now! Wie heißt es schon bei Brecht: So viele Berichte. So viele Fragen.


© Andreas Mertin 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 6/2000
https://www.theomag.de/06/am15.htm