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Magazin für Theologie und Ästhetik


Populäre Kultur als Fundamentalismus für alle

Eine Untersuchung zur "Dramaturgie des populären Films"

Eine Rezension von Jörg Herrmann

Jens Eder, Dramaturgie des populären Films. Drehbuchpraxis und Filmtheorie, Lit-Verlag, Hamburg 1999, 142 S., 29.80 DM.

Nie war der populäre Film so erfolgreich wie in den 90er Jahren. Auf der Hitliste der Kassenschlager finden sich auf den ersten zehn Plätzen allein sieben Filme aus den 90er Jahren. Nach wie vor unbestrittener Spitzenreiter: "Titanic" (1996) von James Cameron. Das 200 Millionen Dollar teure Untergangsspektakel hat bis heute weltweit rund zwei Milliarden Dollar eingespielt.

Populäre Filme wie "Titanic" sind die Leitmedien heutiger Erzählkultur. Kein Eisberg kann sie daran hindern, in kürzester Zeit die Leinwände und Fernsehschirme des gesamten Globus zu erobern. Was macht das Geheimnis ihres Erfolges aus?

Sicher ist: Damit ein populärer Film "funktionieren" kann, müssen viele Faktoren zusammenwirken. Dabei spielt neben bekannten Stars, einer effektiven Werbung und einem aktuellen Sujet auch die Dramaturgie des Films eine wichtige Rolle. Wie die Muster aussehen, die den Handlungsaufbau des populären Films bestimmen, hat nun der Hamburger Medienwissenschaftlers Jens Eder herausgearbeitet.

Sein Buch "Dramaturgie des populären Films. Drehbuchpraxis und Filmtheorie" ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen ist es die erste filmwissenschaftliche Untersuchung der Thematik, zum anderen unternimmt es erstmals den Versuch, Erkenntnisse der anwendungsorientierten Dramaturgie-Theorie der Filmemacher und Ergebnisse der analyseorientierten Theorie der Filmwissenschaftler aufeinander zu beziehen. Dabei werden vielfältige Konvergenzen deutlich. Eder kann zeigen, daß die Beschreibungen der Praktiker und der Theoretiker auf gemeinsame Strukturen verweisen. Im Zentrum steht das Dreiakt-Modell des Handlungsaufbaus. Nach diesem Schema folgt die Filmhandlung dem Dreischritt von Exposition, Konflikt und Auflösung. Der amerikanische Filmtheoretiker David Bordwell, Eders Hauptgewährsmann aus dem Bereich der Filmwissenschaften, hat dieses vom Theater herkommende Schema auch als "kanonische Geschichtenform" bezeichnet. Es bildet laut Eder das allgemeinste Strukturmerkmal der populären Dramaturgie. Von dieser Grundstruktur ausgehend beschreibt Eder weitere 25 Merkmale der Mainstream-Dramaturgie, illustriert sie am Beispiel des amerikanischen Films "Twister" (1996) und erläutert ihre Wirkungen.

Zu den zentralen Spezifika gehört danach die Tatsache, daß der populäre Film nur eine Hauptgeschichte erzählt. Mit einem Paukenschlag oder mit einem Anfang in medias res versucht er, den Zuschauer von Beginn an zu fesseln. Eine konzentrierte Exposition etabliert in kurzer Zeit Figuren und Situationen. Spätestens an dieser Stelle weiß der Zuschauer, was für eine Geschichte ihn erwartet und in welchem Genre sie sich bewegt. Im Folgenden wird der Konflikt verdeutlicht, der im Mittelteil im Verlauf einer sich spannungsvoll zuspitzenden linearen Erzählung ausgetragen wird. Dabei treibt eine kontinuierliche Frage-Antwort-Struktur die Haupthandlung auf den Höhepunkt zu. Begleitet und unterstützt wird sie von mindestens einer Nebenhandlung, die zumeist in einer heterosexuellen Liebesgeschichte besteht und gleichfalls nach dem Dreiakt-Schema aufgebaut ist. Die Auflösung des zentralen Problems geschieht kurz vor dem Ende des Films. Mit der Auflösung wird der Zuschauer emotional und kognitiv belohnt: Seine wesentlichen Fragen werden beantwortet, seine Erwartungen und Wertorientierungen bestätigt. Die Auflösung hat - wir wissen es längst - die Form des Happy-End. Der Handlungsaufbau ist insgesamt durch affirmative Geschlossenheit gekennzeichnet. Er umfaßt im Durchschnitt 24 Sequenzen, die ihrerseits aus Szenen aufgebaut sind. Ziel dieser hier nun in einigen Grundzügen wiedergegebenen Form der Dramaturgie ist eine möglichst ungebrochene Illusion. Dem Zuschauer soll, so Eder, das Gefühl der unmittelbaren Teilnahme am Filmgeschehen vermittelt werden. Hinweise auf die Erzählsituation, wie sie im Kunstkino üblich sind, werden im populären Film vermieden. Das Unterhaltungsinteresse und seine Favorisierung affektiver Renditen haben Vorrang. Gesteigerte Komplexität, Selbstreferentialität und ästhetische Innovation sind hingegen Sand im Getriebe der populären Unterhaltung. Gefragt sind einfache Geschichten und große Gefühle. Ihre kulturelle Funktion sieht Eder vor allem in "der Versicherung einer sinnvoll geordneten, einfach strukturierten und beherrschbaren Welt".

Wer Eders Untersuchung gelesen hat, kann sich eines gewissen Schauers nicht erwehren. Denn sie macht deutlich: Was einerseits immer wieder als Novität "bigger than life" daherkommt, ist genau besehen doch nur die neueste Variation eines wiederkehrenden Schema F - populäre Kultur als Fundamentalismus für alle.

Ein gewisses Problem des Buches liegt darin, daß die gesamte Filmgeschichte in Eders Perspektive auf ein zentrales Paradigma zusammenschmilzt. Bei dieser Herangehensweise droht die historische Entwicklung der filmischen Erzählformen aus dem Blick zu geraten. Darum läßt Eders systematischer Zugriff sogleich nach Ergänzungen durch historisch orientierte Untersuchungen des filmischen Erzählens fragen. Das von ihm herausgearbeitet Paradigma des populären Erzählens kann dabei möglicherweise als Folie dienen, vor deren Hintergrund sich die Entwicklungen der Erzählweisen umso deutlicher sichtbar machen lassen. Der in der von Knut Hickethier herausgegebenen Reihe "Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte" erschienene Band ist aber nicht nur für Filmwissenschaftler von Interesse. Das gut lesbar geschriebene Buch leistet einen Beitrag zum Verstehen des populären Films, von dem jeder Kinobesucher profitieren kann.


© Jörg Herrmann 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 6/2000
https://www.theomag.de/06/jh2.htm