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Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Wiege der Zapping-Kultur?

Eine Analyse jugendlicher Rezeptionsgewohnheiten 

im Umgang mit audiovisuellen Videoclipkanälen wie MTV und VIVA

Kathleen Boedemann

Als fest etablierten Bestandteil, nicht nur der deutschen Medienlandschaft, sondern auch der Pop(pulär)kultur, haben sich Musikvideosender, wie die amerikanische Vision MTV und das Kölner Gorny Imperium VIVA in den letzten Jahren behaupten können. Das ist weder ein Geheimnis noch neu.

Bis dato wird jedoch in den Debatten und populärkulturellen Diskussionen der Umgang der jugendlichen Zielgruppe mit den eben genannten Giganten oft recht sparsam referiert. Oder genauer, die Ergebnisse dessen von den Musikmultis selbst strengstens unter Verschluss gehalten.

Deshalb stand die brennende Frage nach dem jugendlichen Nutzungsverhalten, bezogen auf die knallbunten und rasend schnell auf dem Bildschirm dahin flackernden Videoclips, im Herbst 1999 im Zenit einer Diplomarbeit an der FH Lausitz in Cottbus.

Dazu wurde eine Befragung an drei Cottbusser Schulen verschiedenen Schultyps(1) von insgesamt 193 Jungen und Mädchen im Alter von 13-19 Jahren anhand eines standardisierten Fragebogens vorgenommen.(2) Ziel war es zu erörtern, welche Position diese audiovisuellen Phänomene als Bestandteil der Jugend(pop)kultur einnehmen. Wie oft, wo und mit wem Musikvideos konsumiert werden und in welchem Medien-Umfeld diese eingebettet sind, um bei Jugendlichen die beschworene Faszination auszuprägen.(3) Dabei galt es, sowohl das familiäre Umfeld, als auch die Bedeutung von Peergroups genauer zu untersuchen und die erhobenen Daten im Kontext des beobachteten Nutzungsverhalten der Schüler auszuwerten und darzustellen(4).

Die Ergebnisse: Jugendlichen Ende der 90er Jahre leben in medientechnisch hervorragend ausgestatteten Familien. Dabei kann durchaus von einer "Vollversorgung" der Haushalte an Geräten der Unterhaltungselektronik gesprochen werden. Und die 13-19jährigen stehen dem in keiner Weise nach.

Das hohe mediale Ausstattungsniveau der Schüler steht erwartungsgemäß in engem Zusammenhang mit der Intensität der Mediennutzung, die Jugendliche dieses Alters ausprägen. Die große Anzahl an Geräten, die 13-19jährigen heutzutage uneingeschränkt zur Verfügung stehen, unterstützt den Medienkonsum allem Anschein nach quantitativ (schauen öfter Fernsehen), aber auch qualitativ (können das schauen was sie möchten). Geschlechtsspezifisch zeigt sich, dass Jungen medientechnisch besser ausgestattet sind, als Mädchen. Der Zusammenhang zwischen Medienausstattung und Medienkonsum wird an der unterschiedlichen Nutzungsintensität deutlich: Mädchen müssen sich häufiger mit anderen über das Fernsehprogramm abstimmen und schauen weniger fern als Jungen. Sie nutzen aber Musikkanäle in gleicher Intensität wie ihre männlichen Mitschüler. Bezogen auf das Alter zeigen sich die 15-16jährigen als die lebhaftesten Fernseh-, Radio- und Musikvideokonsumenten.

Bildungsspezifisch bleibt anzumerken, dass die Gesamtschüler, begründet durch ein hohes mediales Ausstattungsniveau und einen unkontrollierteren Zugang zu den gewünschten Programmen und Sendungen, ein sehr aktiveres Nutzungsverhalten in bezug auf den Umgang mit visuellen Musikmedien entwickelten als z.B. Waldorfschüler, die durch die familiären Einflüsse und die alternative Unterrichtsmethodik andere Schwerpunkte in bezug auf ihr Mediennutzungsverhalten auszuprägen scheinen.

Auch ist das Ausstattungsniveau an Geräten der Unterhaltungselektronik dort weniger hoch, was auf eine untergeordnete Präferenz der fehlenden Geräte schließen lässt, nicht aber auf den finanziellen Passus.

Insgesamt sind die bildungsspezifischen Unterschiede nicht durch die intellektuellen (kognitiven) Fähigkeiten der Schüler bestimmt, sondern werden durch den elterlichen Erziehungsstil und das schulische Unterrichtskonzept mit beeinflusst.

Musikfernsehen, inklusive den dort gespielten Videoclips, ist bei Jugendlichen zwischen 13-19 "angesagt", trifft die Erwartungen der Jugend (sonst würden sie Musikvideos nicht anschauen) und gehört zu ihrem Selbstverständnis dazu.

Fast 70% aller befragten Schüler gaben an, Videoclips täglich bzw. mehrmals in der Woche, überwiegend vor dem heimischen Fernseher anzuschauen. Das Interesse wirkt aber eher diffus, es scheint vorrangig auf der Tatsache zu beruhen, dass es diese Clips gibt. Man nimmt sie zur Kenntnis, und da sie nun mal da sind, bildet man sich beiläufig auch eine Meinung über sie. Eine Bedeutung von Videoclips ist im Alltag ihrer Zielgruppe demnach zwar vorhanden, aber nicht so stark ausgeprägt, wie man es auf Seiten der Musikindustrie offenbar vermutet oder erhofft.(5)

Die Motive, weshalb junge Leute Videoclips anschauen, sind nachweislich performance- und konzeptorientierter Natur. Im Sinne der Betrachter ist es, die Musiker nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Musik steht also auch in punkto Musikvideos immer wieder im Mittelpunkt. Musikfernsehen wird vom Publikum nicht in erster Linie als Fernsehen, sondern vor allem als Musikmedium wahrgenommen.
Audiovisuelle Musikmedien sind mehr als nur Spartenkanäle. VIVA und MTV dienen vor allem dem ‚Musikhören' und sind dabei offensichtlich für einen Teil des Publikums auch an die Stelle des Radios gerückt. Es erfüllt dabei vor allem für Jugendliche eine Vielzahl von Bedeutungen, die über die klassische Funktion des Fernsehers weit hinausgehen. Musikfernsehen scheint eine eher sporadische Kommunikationsfunktion in den subkulturellen Lebensbezügen einzunehmen: Sie sammeln dort eine Fülle von Informationen über Musik und Interpreten und eignen sich Wissen an, um ‚mitreden' zu können.

Die Videoclipsender sind für die Jugend heute offenbar ein audiovisueller Klangteppich, der die meiste Zeit, wie ein smartes Hintergrundrauschen funktioniert und nur von Zeit zu Zeit in den Vordergrund tritt!

Die vielschichtige Bedeutsamkeit der erwähnten Clipkanäle steht einer oberflächlichen Nutzung als Nebenbeimedium auf den ersten Blick konträr gegenüber. Gerade diese Möglichkeit der ‚Nebenbeinutzung' liegt einer allgemein medienbiographischen Entwicklungstendenz zugrunde. Man ‚schaut nicht mehr so genau hin'. Jugendliche nehmen Fernsehen, respektive Musikfernsehen offensichtlich nicht mehr so ernst, wie es noch ihre Eltern getan haben. Das veränderte Angebot und die Vielzahl an Kanälen hat dazu geführt, dass man Fernsehen beinahe erwartungslos konsumiert und den einzelnen Medieninhalten weniger Bedeutung zuweist. Dieses Phänomen muss nicht notwendig kulturpessimistisch als ‚Unkonzentriertheit' im Sinne eines Fähigkeitsverlustes der Jugendlichen gedeutet werden. Es kann ebenso die Distanzierung zu einem Medium, das mit seiner Bilderflut zu überfordern droht und damit einen sehr wohl souveränen Medienumgang beschreiben.

Der große Bekanntheitsgrad des Genre der Musikvideos im allgemeinen täuscht nicht darüber hinweg, dass in den Augen der befragten Schülerinnen und Schüler Videoclips vorrangig als Gebrauchs- und Wegwerfartikel ohne Langzeitwirkung fungieren. Abzulesen ist dies daran, dass immerhin 80% der Befragten ein Videoclip einfiel, aber war dieser nur selten älter als ein paar Monate. Fast ohne Ausnahme gaben die Jugendlichen Clips aus der aktuellen Cliprotation bzw. den Charts an. Speziell bei diesen aktuellen Clips dominierten als Gefallensmomente wiederum bestimmte Interpreten (Bloodhound Gang, Eiffel 65, Ann Lee, Britney Spears...), nicht aber tatsächliche Gestaltungsmerkmale der jeweiligen Clips. Das von den Befragten oft genannte "Crazy" der amerikanischen Sängerin Britney Spears unterscheidet sich auch bei einiger Gutwilligkeit weder visuell noch musikalisch von der allgemeinen Stangenware; der Titel ist inzwischen wieder aus den Radios und Hitlisten verschwunden, ohne dass dies besonders aufgefallen wäre. Mit Sicherheit würde diese Befragtengruppe, fragte man sie heute erneut, inzwischen andere, neue Clips favorisieren. Die Austauschbarkeit vieler Videoclips lässt sich darüber hinaus auch an der Vielzahl der insgesamt genannten Lieblingsclips ablesen.

Die Rezeption von Videoclips steht im engen Zusammenhang mit der Art und Weise, wie Jugendliche normalerweise mit Musik umgehen. Demnach scheinen VIVA und MTV ihre Existenzberechtigung den hauptsächlich am Mainstream orientierten Jugendlichen zu verdanken, die ihren Musikgeschmack ähnlich flexibel, wie die aktuelle Cliprotation der Musiksender zu gestalten vermögen. Was das genau ist, das diese Art von Kurzlebigkeit für die 13-19jährigen so attraktiv macht, wäre ein interessantes Thema, um in einer anderer Diplomarbeit diskutiert zu werden.

Die befragten Jugendlichen jedenfalls scheinen da ihre eigenen Ansichten zu haben, und die Tatsache, dass sie sie haben, ist bemerkenswert. Zudem gibt es auch noch die gar nicht so kleine Gruppe der weniger oder nicht an Videoclips Interessierten (30,6% der Nennungen), und diese kleine Gruppe hebt sich nicht nur in diesem Punkt von den restlichen Befragten ab. Das Hobby Fernsehen spielt generell eine deutlich geringere Rolle als bei den sehr/auch an Videoclip Interessierten. Und das ist auch gut so! Denn schließlich gibt es auch noch ein Leben ohne die "Flimmerkiste".

Trotz aller Einschränkungen(6), konnte durch diese Studie belegt werden, dass Clipkanäle wie MTV und VIVA nicht nur ein Konstrukt der nach Profit strebenden Musikmultis sind, sondern dass die Existenzberechtigung dieser Musiksender in einem Bedürfnis der Jugendlichen zu suchen ist, das in erster Linie wenig mit den Absatzzahlen der Plattenindustrie zu tun zu haben scheint. Die Überwiegende Nutzung von MTV und VIVA als Nebenbeimedium weist auf den Unterhaltungscharakter der Sender hin.

Die Jugendlichen wollen Musik und sie bekommen Musik und die Videoclips als optische Zugabe. Wahrscheinlich gründet auf dieser Ungezwungenheit der Erfolg dieser Programme. Es gibt kaum ein Medium, das zwar ein Programm hat, aber nach dem sich eigentlich keiner richten muss, da das, was es im eigentlichen zu sehen gibt, es immer zu sehen gibt, nämlich Videoclips.

Doch scheiden sich gerade hier die Geister, ob die Musikvideos nun segensreich oder eher als düsterer Ausblick auf den Medienkonsum kommender Generationen zu beurteilen sind.

Kritiker sind der Auffassung, dass je länger die Fernbedienung in der Hand der Nutzer bleibt, desto mehr Gedanken sollte man sich über die Wirkungen der immer diffuser und hektischer werdenden Mediennutzung machen. Damit ist aber nicht die behaviouristisch angehauchte und verkürzte Frage eines Reiz-Reaktionsmodells gemeint (also, was bewirkt diese oder jene Sendung nach kurzem Sehen), sondern eher die Langzeitwirkungen der alltäglichen Mediennutzung. Befürchtet wird, dass sich der Umgang mit den Medien allmählich in das "nichtmediale" Alltagsverhalten ablagert und damit das Gesamtverhalten der Mediennutzer beeinflussen könnte. Getreu der Devise: "MTV wirkt!"

Diese Sorgen können nach derzeitigem Wissen weder vollständig vom Tisch gewischt werden noch sind sie relevant genug, um den pädagogischen Zeigefinger noch höher zu halten. Derzeitige Untersuchungen gehen über eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation kaum heraus. Der visionäre Charakter solcher Ergebnisse, wie sie auch jüngst in Cottbus erhoben worden, sollte in der Entwicklung praktischer Handlungskonzepte mit Jugendlichen und ihren Konsumvorlieben münden, nicht aber neue medienpädagogische Feinbilder entwerfen.

Anmerkungen
  1. Einer Gesamtschule, einer Waldorfschule und ein Gymnasium
  2. Die Studie ist zwar aufgrund der Befragtenzahl nicht repräsentativ, kann aber im Vergleich mit schon vorhandenen Untersuchungen aussagekräftigen Tendenzen darstellen.
  3. Nutzungskontext
  4. Analyse und Auswertung des empirischen Materials erfolgte nach medienwissenschaftlichen Gesichtspunkten mit dem SPSS Version 7.5. [weiter Infos in bezug auf das Datenmaterial unter: boedemann@gmx.de ]
  5. Verfolgt man die Selbstdarstellung der beiden großen in Deutschland etablierten Musikkanäle, glaubt man sich einem Gott ähnlichem Konstrukt gegenüber. Siehe Pressemitteilung VIVA-Fernsehen GmbH & Co. KG 1996
  6. Die Repräsentativität und der Einflussnahme eventueller Datenerhebungsartefakte

© Kathleen Boedemann 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 6/2000
https://www.theomag.de/06/kb1.htm