Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Das Kreuz am Körper

Dem religiösen Phänomen von Tattoo und Piercing auf der Spur

Marcus Ansgar Friedrich

"Lerne zu leiden, ohne zu klagen"

"Lerne zu leiden, ohne zu klagen", steht Tattoo-Theo auf den Leib geschrieben. Der Körper des Originals aus St. Pauli ist von Kopf bis Fuß tätowiert und mit Ringen behängt. Das wandelnde Kunstwerk, älter als siebzig, hätte sich selbst nicht träumen lassen, dass die Botschaft seiner Körperkunst eine solche späte Renaissance erleben würde. Heute ist er Ehrengast auf jeder Hamburger Tattookonvention und lässt sich nur noch von seinem Sohn "restaurieren", wie er selbst berichtet.

"Tattoos sind Kult!" Seit ungefähr fünf Jahren hat sich ein neuer Trend der Körperkultur in der westlichen Welt verbreitet. Auch in Deutschland sind, besonders in den Großstädten, Piercing- und Tattoo-Shops wie Pilze aus dem Boden geschossen. Immer mehr Menschen - nicht nur die Anhänger einer Subkultur - lassen sich freiwillig stechen und Farbe unter ihre Haut treiben. Die Tätowierkunst hat ihr "Schmuddel"-Image abgelegt und erreicht breite Schichten der Bevölkerung, vor allem die Jugendkultur. Fünf verschiedene Tattoo- und Piercing-Magazine lassen sich heute am Kiosk erwerben.

Kirchliche Werbung mit Tattoo und Piercing

Nach jahrelangen überwiegend passiven Rezeptionen von Theologie im Film  hat sich der Medienbeauftragte des Sprengels Kassel, Pfarrer Christian Fischer, erstmals des kulturellen Massenmediums Kino offensiv bedient und mit Tattoo und Piercing für die Kirche der Gegenwart geworben - doppelt "starker Tobak" für Anhänger einer bilderkritischen Buchreligion, statt mit würdigen Worten im Medium der Bilder, statt mit Gegenständen mit Körpern zu konfrontieren. Denn Tattoos sind nichts anderes als dies: Bilder, die der Körper trägt.

Der Werbespot des Sprengels Kassel geht unter die Haut: Drei kleine Filmsequenzen werden in Nahaufnahme gezeigt, die beim Zuschauer echte "Sensationen", Gefühle in der Magengrube auslösen. Eins: Eine surrende Tattoo-Maschine wird von versierter Hand geführt; auf dem Oberarm entsteht ein ornamentales Kreuz. Zwei: Mittels eines Scheermessers fallen lange Haare und im Nacken bleibt eine Rasur in Kreuzesform. Drei: Erst zeigt sich eine spitze Nadel, dann die Großaufnahme einer männlichen Brustwarze. Der Zuschauer ahnt Schlimmstes und rutscht in den Kino-Sessel. Er wird aus nächster Nähe Zeuge eines schmerzhaften Stichs. Zurück bleibt ein Ring durch die Brust, ein Kosmos mit Kreuz, und der überraschende Satz - weiß auf schwarz: "Die Zeiten haben sich geändert. Evangelische Kirchen von Kassel".

Tätowierung kreuzweise

Der Betrachtende bekommt es im Kinospot mit Bildern zu tun, die um das zentrale Symbol christlicher Religion schlechthin kreisen: dreimal geht es ums Kreuz am Körper, jenes Kreuz, das mitten ins Schwarze trifft, in den finstersten und für Protestanten lichtesten Moment der Selbstentäußerung Gottes. Allsonntäglich schauen Christen mehr oder weniger bewegt auf einen gefolterten und dreifach durchstochenen Menschen an diesem Kreuz in dem Glauben, dies sei das Zeichen Gottes, gar der "gekreuzigte Gott"  selbst. Ist da nicht zu erwarten und zu hoffen, dass, wer an diesem Bild rührt und das Kreuz wieder in Bewegung bringt, ein Skandalon  riskiert und wagt?

Bevor wir zu schnell in theologische Aburteilungen dieser sichtbaren Provokation geraten, möchte ich auf den folgenden Seiten dem religiösen Phänomen des Tattoo-Booms erst einmal auf die Schliche kommen. Einige Einsichten des schottischen Ritualforschers Viktor Turner ziehe ich heran, um die überlieferte und gegenwärtige Praxis der Körperzeichnung zu deuten.  Aus Turners Unterscheidung einer liminalen und liminoiden rituellen Praxis im Umgang mit Körperzeichen ergeben sich Möglichkeiten, die Konflikte um den Spot zwischen innerkirchlichen und außerkirchlichen Betrachtenden genauer zu klären.

"Vergleichende Symbologie"

Religiöse Praxis ist immer vielschichtig und mehrdeutig, das gilt binnen- und außerkirchlich, selbst das Symbol des Kreuzes ist nicht vom Himmel gefallen. Gegen Symboltheorien, die den Gehalt eines Zeichens ontologisch oder semantisch festlegen, verstehe ich mit Turner ein Symbol als Zeichen, das von der "vielfältigen Variabilität der lebendigen, sich bewusst, emotional und willentlich verhaltenden Menschen" immer wieder neu und verschieden geprägt wird. Seine Bedeutung ist damit auch vom "spezifischen Milieu und Kontext"  abhängig. Für den heutigen Umgang mit Tattoo und Piercing heißt dies, konkret nach den Vorgängen und Erfahrungen des Tätowierens und den aktuellen Bedeutungen der Körperbilder zu fragen: Wer lässt sich wie und warum stechen? In welcher Gesellschaft, in welcher Erinnerung und mit welcher Zukunftsperspektive - heißt, in welchem Glauben? Und vor allem: Was passiert? In einer "vergleichenden Symbologie"  setzte ich die Gegenwart in Beziehung zur Tradition der Körperzeichen. Phänomenologische Anschlüsse geben sich zwischen den verschiedenen Zusammenhängen zu erkennen.

Passage

Zweifelsohne muss sich beim Tätowieren und Piercen irgendetwas Außergewöhnliches ereignen. Tatsächlich passiert etwas im wörtlichsten Sinne. Genauer: der zu Tätowierende passiert, er überquert die Schwelle des Tattoo-Studios und überwindet auch eine innere Schwelle, entscheidet sich, bereitet und vollzieht einen Schritt in eine verändertes und unumkehrbares Körperbild hinein. (An dem Eindruck der Unumkehrbarkeit ändern auch die neueren Möglichkeiten der Schönheitschirurgie nichts grundsätzlich.) Er verlässt schließlich das Studio mit einer anderen Leibeigenschaft als jener, mit der er in das Tattoo-Studio hineingegangen ist. Das Tätowierungsgeschehen ist ein Schwellenritual, ein "rite des passage"  par excellence. Victor Turner hat die Theorie des Schwellenrituals aufgenommen, die der Religionsgeschichtler Arnold van Gennep erstmals 1909 entwickelte. Turner hat für das Geschehen die Kategorie des Liminalen (limen: lat. Schwelle/Damm) geprägt. Turners Bearbeitung ist für unsere Zusammenhänge deswegen interessant, weil er über van Gennep hinaus versucht, die Unterschiede zwischen Schwellenerfahrungen vorindustrieller und nachindustrieller Gesellschaften zu kennzeichnen. Zwischen dem Liminalen, dem Schwellenerlebnis, und dem Liminoiden, einer schwellenartigen Erfahrung, die beide in der postmodernen Gegenwart vorkommen, gibt es prägnante Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die auch auf die Kultur des Tätowierens zutreffen.

Von liminalen zum liminoiden Riten am Beispiel Tattoo

Tätowierungen, Körperstechungen und Ritzungen haben sich in den verschiedensten sesshaften Kulturen der Welt zunächst weitgehend unabhängig voneinander entwickelt. Weil sie mit den Gezeichneten ins Grab gehen, gibt es wenige direkte Zeugnisse vergangener Zeiten. Herodot, Marco Polo und James Cook haben sie auf Reisen in die "neue Welt" kennen gelernt und schriftlich davon berichtet. Bis heute blieben Seefahrer die wichtigsten Überlieferer der Tattoo-Traditionen in die westliche Welt.

Tattoo funktionierte immer nach dem gleichen technischen Prinzip: mit feinen Nadeln wird die Haut durchstochen und Farbe aus verschiedenen natürlichen Substanzen unter die Haut getrieben. Dazu wurden einzelne Nadeln oder, wie in der Bokaschi-Technik, kleine Nadelkämme benutzt. 1891 erfand Samuel O´Reilly die Tattoo-Maschine, die bis heute technisch unverändert geblieben ist. Mit einer hohen Frequenz saust die kleine Nadel durch eine Führungsröhre, die der Tätowierer wie einen Kugelschreiber führt. Sie durchsticht die Haut so fein, dass sie in wenigen Stunden über der Farbe wieder zuwachsen kann.

In vormodernen agrarischen Stammesgesellschaften hatte die Praxis des Tätowierens ihren bestimmten kultischen Ort und jede Tätowierung ihren intersubjektiv klar gefassten Bedeutungshorizont in liminalen Riten. Am Beispiel der Tätowierung wird nun anschaulich sichtbar, wie liminale Riten, Schwellenrituale, die durch Allgemeinverbindlichkeit in einer Gesellschaft gekennzeichnet sind, ihre religiös soziale Initiationsfunktion verlieren, wenn eine geschlossene Gesellschaft durch interkulturelle Begegnung aufgebrochen wird. Während der Seefahrer John Rutherford, der von den Maoris 1823 eine Ganzkörpertätowierung anlegen ließ, noch interessiert war an der Initiation in eine Stammesgesellschaft, adaptierten die folgenden Seeleute als Reisende zwischen den Kulturen zunehmend verschiedene Motive aus verschiedenen gesellschaftlichen und religiösen Zusammenhängen.

Westliche Tattoo-Meister verstanden sich als Künstler und nicht mehr als Schamanen oder Priester. Sie übernahmen die Technik, brachten ihre Bildideen ein und variierten exotische Motive. In den zwanziger Jahren gab es bereits ganze Motivbücher, in denen Rosen oder Herzen, Marien-Motive und Kruzifixe, und immer wieder Dürers betende Hände neben asiatischen Drachen und Delphinen oder filigranen Ornamenten aus der Südsee abgebildet waren. Mit dem Schwinden der Verbindlichkeit eines kultischen Zusammenhangs verloren auch die Bilder und Symbole ihre traditionelle Bedeutung und wurden mit neuen Bedeutungen aufgeladen. In der mobilen Gesellschaft hat dies immer wieder zu Irritationen geführt: Es konnte folgenreich sein, wenn ein Hamburger Tattoo-Meister ein Motiv aus der Stammeskultur der Maori an einer falschen Körperstelle platzierte, weil er dessen symbolischen Code nicht kannte, und der Seefahrer sich dann in Neuseeland sehen ließ. Henk Schiffmacher berichtet im Buch  "1000 Tattoos" von einem israelitischen Mädchen, das sich in Unkenntnis der symbolischen Bedeutungsschlüssel des Nationalsozialismus in Indien ein Hakenkreuz auf die Hand tätowieren ließ und bei der Rückkehr nach Israel auf tiefes Unverständnis stieß.

Die Verpflichtung zur körperlichen und geistigen Leibeigenschaft, die den liminalen Ritus der Initiation prägte, wich der individuellen Wahlfreiheit einer liminoiden Tätowierpraxis.  Das Tätowierungsgeschehen blieb weitgehend gleich, der kultisch-religiöse Deutungszusammenhang verblasste. Tätowieren wurde zu einer jener Freizeitbeschäftigungen, die en Kick inszenieren.  Gegenwärtig ist nun fast alles möglich, jeder kann seine eigene Zeichenvorlage mitbringen und auf den internationalen "Tattoo-Conventions"  ist die Motivauswahl nicht mehr zu überblicken.

Zwei Tendenzen lassen sich also gegenwärtig feststellen: einerseits, dass Tätowierungsrituale heute überwiegend nur den oben beschriebenen liminoiden Charakter tragen: Zeitpunkt und Bedeutung des Schwellenrituals einer Tätowierung werden individuell bestimmt. Auch das Motiv - und dessen Deutung - unterliegt der persönlichen Wahl. Das Ganze geschieht als ein freiwilliges Selbstexperiment.

Andererseits hat die Tätowierung, trotz aller Instant-Tattoos, immer noch einen verbindlicheren Charakter, als es auf den ersten Blick scheint. Die Veränderung der Leibeigenschaft ist von Dauer. Auch die individualisierte Tätowierpraxis der Gegenwart drängt von daher eher in die Verbindlichkeit eines liminalen Rituals als bloß ein vorübergehendes liminoides Spiel zu sein: In der ersten Phase der "Absonderung" setzen Jungendliche die Akzeptanz des Elternhauses und Yuppies die Anerkennung ihrer Kollegen und Freunde aufs Spiel. In der zweiten Phase der "Umwandlung" überantworten sie sich den Händen eines fremden Tattoo-Meisters, sie geben einen Vertrauensvorschuss, auch Teil der Schwellenüberwindung, sie setzen sich gegen die eigene Angst einer körperlichen Gefährdung aus und ertragen freiwillig Schmerzen. In der dritten Phase der "Angliederung" in die Zusammenhänge der Gesellschaft lassen sie ihre Initiation mehr oder weniger sichtbar werden, zumeist in einem Wechselspiel von Zeigen und Verhüllen: In den seltensten Fällen darf jeder ein Tattoo jederzeit sehen.  Ihre Welt hat sich durch diese Erfahrung verwandelt, mindestens die Veränderung bleibt als sichtbares Körperzeichen verbindlich und gültig. Auch im  Hinblick auf das Motiv des Körperzeichens suchen die Tätowierten oft nach Verbindlichkeiten für sich und vor anderen. Häufig schildern sie, wenn sie zur "Angliederung" ihr Tattoo erklären, eine individuell biographische Entstehungslegende, die meistens ein Schlüsselerlebnis beinhaltet.

"Religio" im Unbestimmten

Wie ist es möglich, dass Tattooing als ein liminales Ritual erfahren, gestaltet und begriffen wird? Meine These lautet: Überall dort erlangt die Pop-Religion der Körperbilder Bedeutung, wo das Leben einer direkten Gefährdung durch natürliche und menschliche Feinde ausgesetzt ist und die Gruppenzugehörigkeit an Bedeutung gewinnt, während die kulturelle Beherrschung dieser Gefahren - etwa durch gesellschaftliche gesicherte Rechte und Institutionen - in den Hintergrund tritt.

Seemanns-Tattoos sind dafür immer noch ein gutes Beispiel: In der Subkultur der Seeleute sind Signale von Mut und Stärke, verbunden mit klaren Zeichen der Zugehörigkeit reichlich zu finden. Bei der imaginären und bebilderten Rückbindung, der "Religio" der Seeleute ans Festland sielt nicht nur der immer wiederkehrende Anker eine erstaunliche Rolle, sondern auch die Verewigung der Mutter: "Love, Mother" wird in flammende Herzen eingetragen.

Seemanns-Tattoos zeugen von nautischen Grenzerfahrungen. Die Äquatortaufe ist unbedingter ritueller Bestandteil der "Passage" im sozial unterbestimmten und lebensgefährlichen Raum des Meeres. Schwein und Huhn auf den Füßen des Seemanns halten den Kontakt zu den Planken des schwankenden Schiffes. Der Heimathafen und der Name der Geliebten zeigen an, wo der Seemann hingehört. Indem sie "verewigen", transzendieren die Körperbilder jeweils den unmittelbaren Gefährdungszusammenhang und mit ihnen das Leben des Individuums, sie sprengen damit die Leibeigenschaft der Raumzeitlichkeit aus. Weil den Tätowierten, was ihnen wert ist, auf dem Leib verewigt ist, können sie der gefährlichen Wirklichkeit standhalten. 

Beim gegenwärtigen Tattoo-Boom fällt ebenfalls auf, dass das tätowierte Motiv oft die Gefährdung selbst symbolisch abbildet: Abschreckung ist in den Schutzzeichen unmittelbar erkennbar: Totenköpfe, Gerippe, wilde und giftige Tiere wie Löwe, Wolf und Skorpion sind verbreitete und beliebte Motive gegen die Bedrohung: Abwehr der Aggression durch ein Abbild der Aggression. In dieser Perspektive lässt sich auch das Kruzifix als Tattoo deuten: Wer eine naturalistische Pieta auf den verletzlichen Rücken tätowiert hat, handelt in der Überzeugung, keiner bringe es über sich, den Gekreuzigten und Auferstandenen anzugreifen.

Tattoo" und "Piercing" in Schrift und Tradition:
Kainszeichen im ersten Testament

Gegen das Vorurteil, Körperzeichen gehörten in den Bereich des heidnischen Okkultismus, ein Blick auf die jüdisch-christliche Tradition: Auch sie kennt Signale, die auf den Leib geschrieben werden, und diese Zeichen zeugen von Schwellenprozessen, die als Zeichen eines liminalen Ritus hoch verbindlich sind.

In der alttestamentlichen Tradition springt zuerst das Kains-Zeichen aus Genesis 4,15 ins Auge: Kain hat seinen Bruder getötet. Ihm selbst droht der Rachetod. Daraufhin bringt Gott ein Zeichen an ihm an. Exegetisch kann nicht sicher gesagt werden, ob dieses Zeichen eine Tätowierung, Ritzung oder Stechung war. Allerdings muss es ein Körperzeichen gewesen sein, denn Gott legt es ihm an, und es ist im unmittelbaren Umfeld Kains sofort erkennbar.  Was nun bedeutet dieses Kainszeichen? Die religionsgeschichtliche Auslegung geht von einer Tradition aus, in der das Kainszeichen ein Gruppenzugehörigkeitszeichen und Kain eine corporate identity der nomadischen Keniter ist. Die Tätowierung wäre dann als Initiationszeichen Ergebnis eines Schwellenrituals mit tragischem Hintergrund, das Kain hier stellvertretend für alle durchläuft. Eine solche Deutung berücksichtigt allerdings die Dramatik der Erzählung wenig: Im Drama der Geschichte erscheint das Körperzeichen Kains auf den ersten Blick als Schutz Gottes vor der Blutrache durch andere, und wird als ein Akt der Fürsorge oder gar der Gnade Gottes missverstanden. Aber Kain ist doch verflucht! Bei genauerem Hinsehen besteht laut Claus Westermann kein Widerspruch zwischen Verfluchung und Schutz durch das Zeichen, wenn das Körperzeichen neutral als eine Besitzanzeige Gottes wirkt: Gott reklamiert das Urteil über das Schicksal Kains für sich.  Auch wird Kain durch das Körperzeichen sichtbar abhängig von einer das Leben und den Tod transzendierenden Macht, die Macht Gottes. Diese Abhängigkeit ist ambivalent. Kain kann zwar nicht mehr gerächt werden, aber er ist verdammt zum Leben.

Für die Wahrnehmung von Tattoos als Leibeigenschaften der Gegenwart ist es aufschlussreich, noch einen Blick auf den Lebensraum Kains zu werfen, in den er verdammt wird. Es heißt: "Kain zog nun fort von der Stätte der göttlichen Offenbarung und wohnte im Lande Nod jenseits Eden, gegen Norden." (Gen 4,16) Das Land Nod gibt es geographisch nicht. Es ist das Land "Unrast", nach dem hebräischen Partizip "nad", das "unstet" bedeutet, ein Land in dem Kain niemand ist, ein Niemandsland. In diesem Land scheint die direkte Begegnung mit dem offenbaren Gott nicht mehr möglich, in diesem Land gibt es weder den göttlichen Schutz des Paradieses noch den irdischen Schutz einer soliden Siedlung. Im Land Unrast ist die Bedrohung an Leib und Leben groß, und die Sozialstruktur einer schützenden Gesellschaft wie im weiten Meeresraum der Seefahrt nicht gegeben. Im Land Unstet ohne schützende Grenzen werden Zeichen an der Haut, der Territoriumsgrenze des Körpers wichtig, in den sich Menschen der Verbindung zur Raum und Zeit überwindenden Transzendenz selbst versichern. Das Körperzeichen Kains ist der biblische Anfang der zweischneidigen Geschichte kultischer Praxis.

"Keine Chance ohne Vaterland", lautet sein Körperkommentar auf die Erfahrung des Landes "Unstet". Ob das Vaterland die Alternative ist, bleibt fraglich!  Die Fatalität steht dem Gezeichneten bis zur Kehle: Vielleicht ist dies die Ausweglosigkeit, als Gefangener nicht leben und nicht sterben zu können. Ich vermute, es handelt sich um Knast-Tattoos, die die Grenzen der Verdammung ins gefährliche Niemandsland der Gefangenschaft zu sprengen versuchen. Es gibt eine lebendige Tattoo-Szene in Gefängnissen!

Beschneidung im Neuen Testament

Auch in der neutestamentlichen Tradition begegnet man Körperzeichen: Zu dem "Piercing", das religiöse Zugehörigkeit ausdrückte, gehörte zu Lebzeiten des Paulus bekanntermaßen die Beschneidung. Das Körperzeichen steht im Zusammenhang mit dem liminalen Initiationsritus der jüdischen Männer. Aufgrund der Beschneidungsregel konnte sich niemand um die Auseinandersetzung zwischen hellenistischen Juden- und Heidenchristen drücken. Es gab nur diese eine Alternative: beschnitten oder unbeschnitten? Auch in der Gemeinde Galatiens schien die Fraktion der Beschneidungsforderer unter den Christen an Boden zu gewinnen, so dass Paulus in seinem Galaterbrief für die Unabhängigkeit von einer kultisch-gesetzlichen Beschneidungspflicht kämpfte. "Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern eine neue Kreatur." (Gal 6,15) Paulus eröffnet mit dieser Formulierung einen Raum, den Turner mit "between and betwixt"   bezeichnet. Dieser Raum ist mit der Umwandlungsphase im Ritualschema Van Genneps identisch: Die Handelnden haben die Schwelle in das Initiationsritual überschritten, das Alte ist verlassen, aber die "neue Kreatur" ist noch nicht genau zu fassen, Beschneidung kann sie jedenfalls nicht mehr auszeichnen. Paulus führt eine Existenz in der Schwebe: In diesem Zwischenraum, im gedehnten "Tunnel"  zwischen Auferstehungserfahrung und Wiederkunftshoffnung Christi, in der eschatologischen Gegenwart, in der die Gemeinde steht, lassen sich die jüdisch-kultische Sozialstruktur und ihre rituellen Regeln brechen. Wandlung findet statt. Viele Bilder hält das Neue Testament für diese Gemeinschaft der "Passagiere" bereit; das Bild des im Abendmahl und in den Charismen vereinten einen Leibes Christi ist hier konstitutiv.

Die Funktion der körperlichen Vergewisserung durch ein Zeichen der Initiation erscheint - wie bei der Beschneidung - so wichtig, dass Paulus sich im liminalen Zwischenraum durch ein neues Körperzeichen autorisiert: "Hinfort mache mir niemand weiter Mühe; denn ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe." (Gal 6,17) Das neue Körperzeichen, die Male des Gekreuzigten, zeugen wiederum von Bindung an und Schutz des Apostels durch die Macht Jesu Christi. Gefahr, die dem Apostel aufgrund der Identifizierung mit Christus widerfährt, verliert ihre Bedrohlichkeit: "Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werden kann." (2Kor 4,10) Wieder stellt das Körperzeichen eine schützende und zugleich ausliefernde Bindung her, die die Grenzen des Todes und des Lebens überschreitet: "Denn wir die wir leben, werden immerdar in den Tod gegeben um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an uns."(2.Kor 4,11) Körperbild und Deutewort des Paulus entwerfen auf der Schwelle zum Christentum nicht nur eine "Anti-Struktur"  gegen die in der Beschneidung wirksame jüdisch-kultische Sozialstruktur. Das neue Körperzeichen lässt sich mit Turner auch als eine "Protostruktur"  des Christentums begreifen. Die Beschneidung verliert für das Christentum an Bedeutung.

Die Protostruktur geht in die christliche Körpertradition der Stigmata, der Wundmahle ein: Zahlreiche Heiligen-Legenden, am bekanntesten wohl die von Franziskus von Assisi, berichten von der sogenannten "Stigmatisierung" des Körpers mit den Wundmalen Christi. Immer wieder werden die Zeichen der Kreuzigung als besonderer Ausdruck der Autorisierung und Bestätigung gewertet, die die Bindung an den Gekreuzigten und Auferstandenen und die Überwindung von Leben und Tod sinnfällig zeigen.

Die einstmals im liminalen Raum der spontanen Communitas durch Paulus inspirierte Protostruktur wirkt bis ins Christentum der Gegenwart fort. Die "spontane Communitas"  der ersten Gemeinde hat sich in eine "normative Communitas"  der etablierten Organisation Kirche verwandelt. Das Körperzeichen hat seinen kultisch geregelten Ort bekommen: In der katholischen Kirche zeichnet der Priester am Aschermittwoch ein schwarzes Kreuzzeichen mit Asche auf die Stirn. In lutherischer Taufpraxis wird den Täuflingen das Kreuz mit Wasser auf den Leib geschrieben. Luther empfiehlt in seinem Abendsegen, der selbst im neuen Gesangsbuch immer noch zu finden ist, sich vor dem Schlafengehen zu bekreuzigen. Bekreuzigung kann im Zusammenhang der entfalteten jüdisch-christlichen Tradition folglich dies bedeuten: Wer sich bekreuzigt, will zur Leben und Tod überwindenden, transzendenten Macht Jesu Christi Körperkontakt aufnehmen.

Das Kreuz im Tattoo-Spot der Evangelischen Kirche von Kassel ist keine Neuheit. Das Kreuz als Tattoo hat bereits eine variantenreiche Tradition. Die Regionalzeitung HNA schreibt Anfang dieses Jahres unter Berufung auf einschlägige Quellen, dass in den USA mittlerweile bereits jedes fünfte Tattoo ein christliches Motiv explizit aufnimmt. Im Bedürfnis, Raum und Zeit des Körpers zu überwinden, wird zurückgegriffen auf eine religiöse Story, die für sich selbst beansprucht, bis an die Grenzen von Raum und Zeit und darüber hinaus führen zu können. Der Körper wird als Tempel des Geistes markiert, indem sich der Tätowierte die Geschichte einer Religion zur Leibeigenschaft macht, sie sich körperlich aneignet.

Da wird vielfältig kopiert, aber auch variiert und parodiert: Dürers betenden Hände an der verletzlichen Körperstelle der Halsschlagader. Ein Kruzifix, das die klassische Formensprache aufsprengt, wieder mit asiatischen Schriftzeichen, deren Bedeutung sich dem Unwissenden entziehen, Dialektik von Offenbarung und Geheimnis. Eine Parodie von Da Vincis letztem Abendmahl als Froschveranstaltung.

In diesem Fall hat der Künstler noch versucht, Da Vinci nachzuahmen. Die Tattoos setzen hier nicht nur Zeichen transzendenter Identität, sondern führen auch ethische Regeln ein. Sie bringen also gewissermaßen Ethik und Ästhetik, Glaube und Werte im Körperkult zusammen. Die Aufforderung: Liebt einander, und die sogenannte "goldene Regel" sind dort auf den Leib geschrieben Mt. 7,12 Sie lautet: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch." Diese Regeln verdeutlichen, was gelten soll auf dem Territorium und in den Begegnungen des Tätowierten. Diese ganz grundlegenden ethischen Maximen lassen vermuten, dass ein solcher Umgang im Lebensraum des Tätowierten gerade nicht mehr selbstverständlich ist im Land Unstet.

Um zu zeigen, dass dieser Aspekt keine reine Einzelgeschichte ist, ein Blick auf diesen Mann: er hat sich, statt des Schriftzuges einfach gleicht die Bibelstelle eintragen lassen. "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das ganze Gesetz und die Propheten", lautet der ganze Vers Mt 7,12. Er trägt also das Gesetz bei sich, er will diesen juristischen Minimalkodex verkörpern, womöglich in einem riskant rechtsfreien Raum.

Schluss

Tattooing ist eine schöpferische, synkretistische (ohne Abwertung), kreative religiöse Praxis. Sie setzt sich in einem verbindlichen Ritual der "Verewigung" mit den letzten Dingen auseinander: "Jump for joy, worlds end."

Diese religiöse Praxis sucht Kontakt mit Tod und Leben, Anfang und Ende der Zeit, Leid und Glück. Tattoo provoziert die Frage nach der Transzendenz und der Individualität des Menschen.

Leicht kann nun der Einwand gebracht werden, die Tattoos auf die ich mich bezogen habe, wären in keiner Weise repräsentativ. Tatsächlich ist mir gegenwärtig noch niemand begegnet, der Matthäus 7,12 eintätowiert hatte, nicht einmal auf der Tattoo-Konvetion. Die Motivauswahl spielt sich in der großen Breite auch nicht auf sonderlich hohem symbolischen Niveau ab. Aber die Übergänge zwischen Glaube und Fantasy sind fließend. Und der Boom der Körperzeichen geht mit einer "postmodernen Sensibilität" , mit einem Bewusstsein der gesteigerten existentiellen Gefährdung an Leib und Leben einher, die Bedürfnisse nach Selbstvergewisserung und Selbsttranszendierung, nach Religion, hervorbringen: In einer rastlosen globalen Gesellschaft mit unzähligen militärischen Krisenherden, in einem zunehmend riskanten, sozialen Alltag, in einer Zeit der Selbstvergiftung durch Hyperallergien und Gentomaten, im Lande "Unstet" des Cyberspaces und der offenen Grenzen, in dem wir herumsurfen, bilden Schutz und Abschreckungszeichen hautnah die letzte Bastion. Die großen kulturellen Bastionen, Kirchen und politische Institutionen sind in der Jugendkultur leer und bedeutungsarm geworden, und von unten wird mit Tattoos neu zu bestimmen und zu zeigen versucht, welcher Geist im Leibestempel wohnt. Im Bedingten lebend, binden die Zeichen zurück ans Unbedingte der Gemeinschaft, der Ethik, der Transzendenz.

Kritik

Religionskritisch ließe sich nun fragen, ob wir uns mit Tattoo und Piercing noch einmal antun, was uns ohnehin schon angetan wird. In einer Kultur der Selbstbeherrschung und -versklavung im Dienste des Kapitalismus ist "Lerne zu leiden ohne zu klagen!" oberstes Lernziel. Aber auch der Protest dagegen lässt sich als Tattoo umsetzen, wie das folgende Tattoo zeigt.

Das Individuum als ein genetisches Produkt mit Balkencode? Die Gegenbotschaft zur Kultur der klaglosen Härte, zur Leibeigenschaft des Marktes lässt sich nach wie vor wie folgt bebildern: "Ecce homo, seht, welch ein Mensch!" Sein Gesicht, Antlitz Gottes, ist auf diesem Foto nicht ganz zu sehen.


Dieser Vortrag wurde im Rahmen eines Studientages in der Ev. Akademie Hamburg gehalten. Dessen Thema lautete "Von Plateauschuh und Tattoo. Religion und Körperkulte des Alltags".


© Marcus Ansgar Friedrich 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 6/2000
https://www.theomag.de/06/maf1.htm