Im Fridericianum

„Crossroads“

Andreas Mertin

Prolog

Es ist viel geschrieben (und kritisiert) worden zur Entscheidung der documenta-Leitung, das Fridericianum, den langjährigen Glutkern jeder documenta, dieses Mal dem Athener Museum für zeitgenössische Kunst (EMST) zu überlassen. Zum einen, weil dies dann doch eine fast schon herablassend chauvinistische Geste ist, zum anderen, weil so ökonomische Konflikte kulturalisiert werden, zum Dritten, weil so Kunstwerke in den Fokus der documenta-Besucher treten, deren zeitgeschichtlicher Bezugs- und Höhepunkt manchmal doch arg weit zurück liegt. ‚Zeitgenössisch‘ ist daran oft nur der Name des Museums, in dem es ausgestellt wird. Wenn man etwa auf Fotoarbeiten aus den späten 70ern stößt, fragt man sich schon, was dies denn noch mit der Gegenwart der Kunst zu tun hat. Es ist eher ein Angebot für einen veritablen Kunsttourismus in die 70er und 80er Jahre. So wie man manchmal im Hamburger Bahnhof in Berlin vorbeifährt um Relikte der Fluxuskunst zu betrachten. Das kann aber nicht der Sinn der documenta sein. Hier bietet die Kunst- und Kulturszene viel bessere Angebote.

Der Kunst- und Kulturbetrieb besteht nach einem Wort von Bazon Brock aus „Gemeindebildung durch Differenzerzeugung“. Und anscheinend tut sich jede neue documenta-Leitung schwer, sich auf das Fridericianum als orientierendes Gravitationszentrum der Besucherströme einzulassen und versucht, eigene Markierungen zu setzen. Ein solches Zentrum bleibt das Fridericianum aber auch dann, wenn man sich wie im vorliegenden Fall seiner orientierenden Funktion ganz entledigen möchte. Die Geschichte eines Gebäudes und seiner Nutzung „ist nicht gleich einer schwarzen Tafel, auf der man Zahlen und Gestalten aufzeichnet und dann auswischt" um Maurice Halbwachs zu zitieren.[1] Sie schreibt sich vielmehr in die jeweils neue Inszenierung ein. Und das gilt auch in diesem Fall. Das heißt, man liest das dort Gezeigte unter dem Aspekt einer übergreifenden Bedeutung für das Ganze.

Unbeschadet von dieser Grundsatzentscheidung der documenta-Leitung, das Fridericianum dem EMST zu überlassen, bedeutet das aber nicht, dass man auf den Besuch des Fridericianums verzichten könnte oder sollte. Vielleicht ist gerade der Rückblick auf manche Positionen der früheren Jahre hilfreich, um das Ganze der aktuellen documenta beurteilen zu können. Und dann ist da noch der Umstand, dass man die eine oder andere Entdeckung von Künstlern und Kunstwerken machen kann, die man bis dato nicht im Gedächtnis hatte.

George Hadjimichalis

Das ging mir zum Beispiel so mit der Position von George Hadjimichalis. Im Nachhinein und genauer erst beim Schreiben dieses Artikels wurde mir deutlich, dass ich Arbeiten von ihm schon auf einer früheren documenta-Ausstellung (1992) und vor allem im griechischen Pavillon auf der Biennale in Venedig (2005) gesehen hatte. Und als seit vielen Jahrzehnten regelmäßiger Leser des Kunstforums International hätte ich bereits 1995 eine Beschreibung von Paolo Bianchi zu der Arbeit studieren können, die mir erst jetzt auf der documenta 14 ins Auge fiel.[2] Die Arbeit trägt den Titel „Crossroad, The crossroad where Oedipus killed Laius. A description and history of the journey from Thebes to Corinth, Delphi and the return to Thebes, 1990 – 1997” und hat zumindest auf den ersten Blick noch wenig mit der so gesetzten mythologischen Rahmung zu tun. Der Besucher stößt im ersten Stock des Fridericianums auf einen riesigen Tisch (raumfüllend ist deshalb eine schlechte Bezeichnung dafür, weil Räume ja höchst unterschiedlich groß sein können). Rund um diesen Tisch herum sind auf einem Regalbrett 64 gerahmte Fotos angebracht, vor Kopfende dazu noch ein Video-Monitor. Der Blick auf die Oberfläche des Tisches zeigt dann eine raue, von der Witterung und der Luftfeuchtigkeit der Umgebung korrodierte Struktur, die an wenigen Stellen von eher glänzenden Flächen und einigen silbrigen Strichen durchzogen ist. Weil man als Betrachter aber keinen Blick von oben mit ausreichendem Abstand gewinnen kann, bleibt einem eine eventuell vorhandene Kartographie auf dem Tisch verborgen. Für einen Moment meint man, es handele sich „nur“ um einen Tisch mit merkwürdigen Dimensionen. Und daher wendet man sich den Fotografien rund um den Tisch zu. Diese scheinen sich als fast schon romantische Stimmungsfotos von Seenlandschaften und Gebirgszügen zu erweisen, die je nach abgebildetem Lichtstand andere Gefühle ausdrücken. Dann aber wird einem schlagartig klar, dass nahezu alle diese Fotos Detailaufnahmen des großen Tisches hinter einem sind. Poetische Wahrnehmungen von kleinen Flecken und Bereichen auf der riesigen Fläche. Und man beginnt – eine konkrete Fotografie vor Augen – nach ihrem Ursprungsort auf dem Tisch zu suchen. Das gelingt mal (vor allem dort, wo Linien abgebildet sind), in der Regel ist es aber ein hoffnungsloses Unterfangen. Es ist, als wolle man konkret vor Ort in Griechenland einen mythologischen Ort sagen wir auf der Strecke von Delphi nach Daulis durch Fotografie dingfest machen. Und das ist es natürlich, was George Hadjimichalis einem ansinnt. Und so sind unter den ausgestellten Fotografien auch solche, die nicht vom Tisch stammen, sondern den mythologischen Ort, wo Ödipus seinen Vater Laios erschlug, zeigen sollen. Wirklich verorten lässt sich dieser Ort aber weder in der Gebirgslandschaft Griechenlands noch auf dem Tisch, aber man kann seine Phantasie spielen lassen.

Wie gesagt, George Hadjimichalis Arbeit ist nun über 20 Jahre alt. Das macht die Arbeit aber nicht weniger interessant, weil ihre poetische Kraft, die Herausforderung, eigene Geschichten zu entdecken und zu beschreiben, nicht gebrochen ist.  

Nikos Alexiou

Persönlich nicht überzeugt hat mich die Arbeit im Foyer des Fridericianums, ich empfand sie als ästhetisierende Spielerei. Natürlich hat man als regemäßiger documenta-Besucher hier einen besonderen Erwartungshorizont. Man denkt an kreisende Köpfe, die „Feed me, eat me, Anthropology“ rufen, oder an Ameisen, die über die Wände zu krabbeln scheinen. Dagegen wirkt die Arbeit von Nikoas Alexiou doch etwas harmlos.

Die digitale Wieder-Holung und Rekombination eines aus dem 11. Jahrhundert stammenden marmornen Bodenmosaiks des Klosters Iviron bleibt zu unverbindlich und dem Ornamentalen behaftet.

Andreas Angelidakis

Die Arbeit von Andreas Angelidakis in der Rotunde ist schwer zu beurteilen. Denn bisher habe ich die Panzerform des Kunst-Objekts nur auf Fotos gesehen.

Bei meinen Besuchen vor Ort war die Rotunde des Fridericianum dagegen eher ein Spielplatz für Kinder und Chill-Platz für documenta-gestresste Eltern. Und dieser Eindruck verhinderte konsequent, dass man an so etwas wie Micha 4, 1-4 denken konnte. Besser wäre es, man würde den Panzer nicht zu einer Sitzlandschaft zerstückeln, sondern ihn belassen und so in der konkreten Wahrnehmung des Objekts die Potenz der Nutzung militärischer Objekte im Sinne von Micha 4, 1-4 erkennbar werden lassen.

[Update: Zwischenzeitlich scheint die Präsentation des Objekts vor Ort in diese Richtung zu gehen.]

Vlassis Caniaris

Auch die Arbeit von Vlassis Canairis (1928–2011), die eine namenlose Gruppe von Exilierten zeigt, ist eine Wiederholung aus den 70er-Jahren. „Hopscotch ist ein Environment, das von kopflosen Attrappen bevölkert ist, die um ein Hüpfspiel herumstehen. Anstelle von mit Kreide geschrieben Zahlen weist dieses Worte auf, die auf Zustände und Mechanismen einer Arbeitsmarktpolitik für Immigrant_innen anspielen.“[3] So sehr das seit einigen Jahren brennende Aktualität zu haben scheint, weil es sich mit der Situation des Exils auseinandersetzt, erweist es sich vor Ort als Inszenierung für die historische Dokumentation. Nein, zeitgeschichtliche Aktualität bekommt das Ganze nicht, eher ein Gefühl der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts als eine der fortdauernden Exilierungen. Ich habe mehr an Walter Benjamin und Port Bou gedacht als an aktuelle Flüchtlingssituationen in Griechenland.

Kendell Geers

Diese Arbeit könnte ganz aktuell sein, wenn sie eben nicht aus dem Jahr 2004 stammen würde. Der Stacheldraht von Kendell Geers steht nicht in unmittelbarem Kontext der Schließung der kerneuropäischen Länder nach 2015. Er kann natürlich zeichenhaft darauf bezogen werden. Ich habe mich gefragt, ob man sich konkret objekthaft darauf beziehen kann wie auf das Pissoir oder den Flaschentrockner von Duchamp, ob man den Stacheldraht also als ein auf ein Ausstellungspodest gestelltes Artefakt begreifen kann, das einfach nur interesseloses Wohlgefallen auslöst. Ich vermute einmal, das geht nicht.

Lucas Samaras

Was soll man zur ausgestellten Arbeit von Lucas Samaras schreiben? Spiegel über Spiegel (Hebraic Embrace / Mirror Structure – Embrace. 1991 – 2005, Holz, Spiegel, Eisen). Interessant. Der Künstler war Teilnehmer der 4. Documenta, der 5. Documenta, der 6. Documenta. Jetzt sind wir auf der 14. Documenta. Und nein, die Arbeit ist keine Reflexion der Selfie-Kultur. Interessant erscheint mir die Varianz der Namen. Auf der documenta-Seite wird der Titel der Arbeit mit „Mirror Structure – Embrace“ angegeben, sonst finde ich immer die Bezeichnung „Hebraic Embrace“.

Bill Viola

An Violas Arbeit wurde mir die zwiespältige Haltung der Documenta im Blick auf die Einladung an die Sammlung EMST besonders deutlich. Gerade zurückgekehrt von der Viola-Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen, wo mich der Leiter, Dirk Luckow, auf Bill Violas Arbeit auf der documenta hingewiesen hatte, fiel mir auf, dass die documenta auf ihrer Künstlerseite Bill Viola gar nicht aufführt, wohl aber das Kunstwerk unter dem Veranstaltungsort verzeichnet. Wie ist diese Differenz zu erklären?[4] Violas „The Raft“ ist eine inzwischen 13 Jahre alte Arbeit, sicher wie immer bei seinen Arbeiten beeindruckend, aber ganz sicher nicht ein Beitrag zur Konzeption der diesjährigen documenta.


Gibt es also Abstufungen bei den Ausgestellten? Was unterscheidet die Arbeiten der Künstler mit den fettgedruckten Namen von denen, die sonst noch ausgestellt werden? Von den als Documenta-Künstlern aufgeführten Namen gehört nur einer zu einem noch lebenden Künstler.

ANTIDORON: Arbeiten der EMST Sammlung auf der documenta 14:

Alexis Akrithakis / Nikos Alexiou / Dimitris Alithinos / Andreas Angelidakis / Stephen Antonakos (1926-2013) / Janine Antoni / Eugenia Apostolou / Athanasios Argianas / Manolis Baboussis / Bertille Bak / Lynda Benglis / Chronis Botsoglou / Yiannis Bouteas / Andrea Bowers / Adam Broomberg und Oliver Chanarin / Constantin Byzantios / Pedro Cabrita Reis / Vlassis Caniaris (1928-2011) / Pantelis Chandris / Chryssa (1933-2013) / Bia Davou (1932-1986) / Pavlos (Dionysopoulos) / George Drivas / Eirene Efstathiou / Haris Epaminonda / Köken Ergun / Jan Fabre / Stelios Faitakis / Carlos Garaicoa / Kendell Geers / George Hadjimichalis / Joana Hadjithomas und Khalil Joreige / Mona Hatoum / Gary Hill / Emily Jacir / Gülsün Karamustafa / Nikos Kessanlis / Kimsooja / Panos Kokkinias / Joseph Kosuth / Dimosthenis Kokkinidis / Jannis Kounellis / Piotr Kowalski / George Lappas (1950-2016) / Yorgos Lazongas / Ange Leccia / Stathis Logothetis / Maria Loizidou / Andreas Lolis / Danny Matthys / Yiannis Michas / Nikos Navridis / Danil (Panagopoulos) / Nina Papaconstantinou / Maria Papadimitriou / Aimilia Papaphilippou / Ilias Papailiakis / Rena Papaspyrou / Nausika Pastra / Jannis Psychopedis / Alexandros Psychoulis / Walid Raad / Oliver Ressler / Lucas Samaras / Yorgos Sapountzis / Allan Sekula (1951-2013) / Vassilis Skylakos / Christiana Soulou / Aspa Stasinopoulou / Takis / Theodoros, Bildhauer / Thanassis Totsikas / Nikos Tranos / Stefanos Tsivopoulos / Costas Tsoclis / Dimitris Tzamouranis / Costas Varotsos / Kostis Velonis / Bill Viola / Vangelis Vlahos / Pantelis Xagoraris / Georgios Xenos


Stephen Antonakos (1926–2013)

Die Arbeiten von Antonakos gehören zu den documenta-Werken, ohne dass ersichtlich würde, inwieweit sie nun besser als andere Arbeiten in das Konzept dieser Documenta passen würden. Ich finde die Arbeiten ganz interessant, etwas verspielt, aber was macht sie nun in diesem Kontext bedeutsam? Die verantwortliche Kuratorin sagt, der 1977 auf der Documenta vertreten Künstler habe mit diesen Arbeiten das am häufigsten reproduzierte Werk über das Fridericianum geschaffen.[5] Das glaube ich eher nicht.

George Lappas (1950-2016)

Angesichts der Arbeit Gardener with Shovel (2012, Metall und Acrylpelz) fragte schon Sabine B. Vogel im Kunstforum International in ihrer Besprechung des Werkes in Athen: „Worauf soll uns der kleine Bär von George Lappas hinweisen?“[6] Das frage ich mich auch. Als künstlerische Position ist das ja vielleicht museumsreif, aber was macht es documenta-tauglich? Was macht es also zu einem Teil des Kunst-Diskurses des Jahres 2017? Oder ist das nur, wie der Stoffpanzer von Andreas Angelidakis ein Beitrag zur Unterhaltungskultur der Documenta?

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Anmerkungen

[1]    Halbwachs, Maurice & Maus, Heinz 1985. Das kollektive Gedächtnis. Ungekürzte Ausg… Frankfurt a. M.: Fischer. (Fischer, Bd. 7359 : Fischer-WissenschaftBd), S. 80.

[2]    Paolo Bianchi, Odyssee heute - Die Kunst der Reise, K. Palamas Building, Athen, 15.2. - 26.2.1995, Kunstforum 130, 1995, S. 347: „George Hadjimichalis ... schuf eine monumentale Landschaftsmalerei, die sich gewissermaßen als raumfüllende Tischplatte präsentierte. Ein in die Stahlplatten geritzter Strich markierte den Weg von Ödipus, über Land und über Wasser, sowie die Stelle, wo er unterwegs auf einen Mann stieß, mit dem er in Streit geriet und den er dabei erschlug. Es war König Laios, sein Vater. Ausgehend von diesem nomadischen Weg verläßt Hadjimichalis die Linie, um seine Idee der Landschaftsmalerei auf die Fläche zu übertragen und um von hier aus gekonnt zu einem Bild zu gelangen, das sowohl eine schöne Geschichte erzählt als auch die Geschichte der Malerei neu schreibt. Entlang den Raumwänden hat der Künstler Fotos vom "Tischplatten-Tableau" plaziert, dazwischen vier wirkliche Landschaftsaufnahmen vom Tatort. Die Wirklichkeit wirkt wie versteinert, die Malerei bekommt einen lebendigen Glanz. Ein gelungenes impressionistisches Verwirrspiel.“  

[4]    Analoges gilt übriges für viele andere Arbeiten auf der documenta 14. Faktisch wirkt es so, als ob sich die documenta von der Ausstellung dieser Künstler distanziert.

[5]    Kunstforum International Band 248, 2017, S. 222

[6]    Kunstforum International Band 246, 2017, S. 202.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/108/am591.htm
© Andreas Mertin, 2017