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Wie liest man eine Kathedrale?Notizen zum ZeitgeistAndreas Mertin 2019 TripAdvisor INicht erst seit den Abendstunden des 15. Aprils 2019 wird kontrovers über den „Mythos Notre-Dame de Paris“ diskutiert. Welches Bild haben wir von dieser Kirche, was sehen, was lesen wir in ihr? Als Menschen des 21. Jahrhunderts stolpern wir nicht einfach durch irgendeine Stadt namens Paris und stoßen plötzlich auf eine Kirche, die uns irgendwie interessant vorkommt und deren Bau- und Kulturgeschichte wir dann nachgehen. Vielmehr sind wir aus einer Vielzahl von Gründen gezielt nach „Paris“ gefahren, haben uns überlegt, was wir „unbedingt“ sehen müssen und haben dabei auf eine Menge von „Lektürevorschlägen“ zurückgegriffen. Die populärste und schnellste Lektüreform einer Stadt ist heutzutage die anhand von TripAdvisor. Wo immer man hin will, irgendjemand, vermutlich aber Zigtausende waren schon da und haben auf TripAdvisor ihr Urteil abgegeben und so das zu Sehende vorsortiert. Die Urteile sind freilich nicht unbeeinflusst von den Lektüren vorheriger Jahrhunderte, das macht die TripAdvisor-Notiz am Anfang deutlich, nach der man sich anhand der Kathedrale gut in den Disney-Film hineinversetzen könne. Oder diese: Zugleich sind die Urteile ungeheuer subjektiv, zufällig, darin aber scheinbar authentisch. Jemand kann von der Kathedrale noch so beeindruckt sein, wenn ihm auf dem Vorplatz eine Diebesbande die Brieftasche klaut, wird Notre-Dame de Paris in der Bewertung abgestraft. Geschieht ihr Recht, war sie doch schon immer ein Anziehungspunkt für Lumpengesindel wie wir seit Victor Hugo wissen. Sachkenntnis braucht man freilich nicht, um ein Urteil abzugeben, es reicht das Gefühl, das Geschmacksurteil, die Empfindung: Das zeigt schön, wie unberechenbar unser Gefühl ist. Das umbaute Raumvolumen des Kölner Doms ist viermal größer als das von Notre Dame de Paris, das der Kathedrale von Amiens doppelt so groß. Darüber hinaus sollte man die Fenster (wenn man nicht die Rosetten meint) mit Saint Chapelle vergleichen, bevor man ein Urteil abgibt. Aber TripAdvisor achtet das subjektive Geschmacksurteil es ist so gesehen die dunkle Seite der Schwarmintelligenz (wenn Wikipedia die helle Seite ist).[1] Aber auch die Schwarmintelligenz ist nach fast 190 Jahren immer noch elementar von Victor Hugo und seinem Kathedralen-Roman beeinflusst vielleicht aber auch eher von seinen Verwertern a la Walt Disney. 1831 Victor HugoNoch im Erscheinungsjahr 1831 nennt Goethe Victor Hugos Roman „Notre-Dame de Paris“ das „abscheulichste Buch, das je geschrieben worden“ sei, genauer:
Ein hartes Urteil, das wohl selbst mehr dem Affekt als einer vorbehaltslosen Lektüre entsprungen sein dürfte (aber es wird heute immer noch als Werbemittel genutzt). Wirkungsgeschichtlich dürfte aber kein anderes Werk so sehr die Aufmerksamkeit auf die Kathedrale von Paris und ihre Gestalt gelenkt haben wie dieses. Selbst in den weit entfernten Verzerrungen bzw. Verdichtungen der Disney-Verfilmungen und dem sich daran anschließenden Musical klingt Victor Hugo noch durch. Auch Goethe musste schließlich gegenüber Victor Hugo einräumen:
Ob wirklich Victor Hugo für das neu erweckte Interesse der Pariser und der Franzosen an ihrer Kathedrale verantwortlich ist oder ob er nicht selbst schon Ausdruck eines neuen Interesses an historischen Bauten und Dokumenten ist, bleibt in der Forschung umstritten. Der Theologe Walter Hollenweger hat darauf verwiesen, dass Räume immer nur mit Mythen bzw. die Phantasie anregenden Erzählungen funktionieren können, was die Rolle von Victor Hugo eher hervohebt:
1841 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben
Das dichtet August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 in seinen unpolitischen Liedern. Unverkennbar ist dies eine Reaktion auf den Roman „Notre Dame“ von Victor Hugo, der in Deutschland unter dem Titel „Der Glöckner von Notre Dame“ verbreitet wird. Vielleicht ist es aber auch nur eine Reaktion auf eine Theateraufführung des Romans, der Hoffmann von Fallersleben beigewohnt hatte.[4] 1839 besucht Hoffmann von Fallersleben Paris, ist aber doch enttäuscht:
1867 Mark Twain
Das ist die Lesart, die uns der Schriftsteller Mark Twain von der Kathedrale Notre Dame de Paris liefert. 1867 unternimmt er eine mehrmonatige Schiffsreise nach Europa und in den Nahen Osten, die er in „The Innocents Abroad“ (1869; dt. „Die Arglosen im Ausland“, 1875) zusammenfasst. Neben den Einblicken in die zeitgenössische Wahrnehmung des Paris der 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts, ist es vor allem der touristische Blick, dem er folgt. „Wir erkannten den alten braunen gothischen Bau augenblicklich, er war ganz wie auf den Bildern“ schreibt Twain einleitend. „Ganz wie auf den Bildern“ das ist der Satz, der von da wir sind nun im Zeitalter der Fotografie - an die Wahrnehmung der Welt charakterisieren soll. Marco d’Eramo, in dessen Buch „Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters“ ich den Verweis auf die gerade zitierte Passage von Mark Twain gefunden habe, betitelt das entsprechende Kapitel seines Buches so: „TripAdvisor, gez. Mark Twain“. Und er schreibt:
Marco d’Eramo meint, das Motiv unserer unermüdlichen Reisen rund um den Globus liege nun darin, die uns bereits vorliegenden Bilder in den Medien mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen. „Der Paristourist Twain sucht eine Bestätigung dessen, was er gelesen hat, eine Gegenprobe zu den Bildern, die er in den Zeitungen gesehen hat, von Abbildungen kennt.“[8] Eine Lektüre von Notre Dame de Paris heißt also eine Re-Lektüre vorzunehmen, nicht etwas als herausragend zu entdecken, sondern als bereits Bestätigtes wiederzuerkennen. So ähnlich schreibt auch Theodor W. Adorno in den ‚Minima moralia‘ (übrigens ohne jeden Anflug von elitärem Denken, den d’Eramo ihm sofort unterstellt):
Der Schriftsteller Mark Twain jedenfalls folgt vorgängigen, ihm bereits aus Amerika bekannten Bildern. Das wird bestätigt durch ein weiteres Zitat aus seiner Schilderung, das von seiner ersten (Kutsch-) Fahrt vom Bahnhof de Lyon zum Grand-Hotel Louvre handelt:
Der Vergleichspunkt bzw. der angelegte Maßstab wird von Twain sofort benannt: Die Wiedererkennbarkeit. „Wir erkannten den echten (genuine) Platz des Louvre, wie wir sein Bild kannten“. Daraus kann man entnehmen, dass er auch die Kathedrale Notre Dame de Paris als Bestätigung vorausgehender Bilder liest. Aber Twains Beschreibung ist natürlich umfassender als eine solche, die sich ‚nur‘ auf Bilder stützt. Twain nennt einen geschäftstüchtigen und redseligen französischen Reiseführer (den er einfach ‚Ferguson‘ nennt), den er mit seinen Mitreisenden gebucht hatte, und der ihn jeweils mit Erläuterungen und natürlich auch mit kurzweiligen Anekdoten versah. Dem englischsprachigen Baedeker, der 1867 bereits in der 2. Auflage erschienen war,[11] scheint Mark Twain jedenfalls nicht gefolgt zu sein. Er ist „old school“ und verlässt sich mehr auf die Einflüsterungen und Erzählungen seines ortsansässigen Guides. 1867 Karl BaedekerBevor ich zur Lektüre der Kathedrale Notre Dame de Paris durch den frühen Baedeker komme, noch ein paar Notizen zur „Funktion“ und zur Bedeutung des seit 1832 erscheinenden Baedekers für die Erfahrung und Erschließung der Welt für ein breites Publikum:
1855 erscheint der erste deutschsprachige Baedeker über „Paris und seine Umgebung - nebst Rouven, Havre, Dieppe, Boulogne und den Eisenbahn-Strassen vom Rhein bis Paris“. Diese Tradition, nicht nur den Ort selbst, sondern auch die interessanten Orte bei der Eisenbahnanreise vorzustellen, verbindet den Baedeker mit anderen Publikationen dieser Zeit. In rascher Folge werden bis 1867 sechs Auflagen des Buches erscheinen, die Ausgabe von 1867 trägt dann den Titel „Paris und Nord-Frankreich nebst den Eisenbahn-Routen vom Rhein und der Schweiz nach Paris.“ Das ist auch die Ausgabe, die ins Englische übersetzt wurde. Derartige englischsprachige Ausgaben erschienen zwischen 1865 und 1937. Der Baedeker über Paris steht auf dem englischsprachigen Markt in Konkurrenz zu John Murray’s „Handbook for Visitors to Paris“ aus dem Jahr 1866. Dort wird im Vorwort kritisch anmerkt, bisher sei kein korrekter Reiseführer, sei es in Englisch oder Französisch über Paris erschienen.[13] John Murray hatte die Idee zu Handbook for Visitors, die der Verlag seines Vaters nach 1836 publizierte. Der Aufbau ist etwas anders als der Baedeker, da Murray die vorgestellte Objekte in seinem Buch alphabetisch organisiert. Dagegen findet man beim Baedeker nahe beieinander liegende Objekte bzw. ähnliche Objekte auch zusammen dargestellt. Das Buch teilt sich in die rechte und die linke Seite der Seine. Die Kirchen werden (vor den Friedhöfen) als vorletzte Rubrik abgehandelt. Der Baedeker selbst ‚liest‘ die Kirchen in Paris und insbesondere die Kathedrale sehr kritisch, geradezu burschikos (und lässt dabei manche historisch interessante und relevante Kirche weg):
Auch das ist eine interessante Anmerkung, weil es ein „Bild des Mittelalters“ der Erfahrung vor Ort vor ortet. „Repräsentativ“ müssen die Gebäude sein, damit sie auf das Interesse des Baedekers stoßen, es geht weniger um historische Bedeutsamkeit. Zehn katholische Kirchen auf der rechten Seine-Seite erwähnt der Baedeker, davon bekommen sechs ein Sternchen, keines zwei (Notre Dame, St. Eustache, Madeleine, Notre Dame de Lorette, St. Vincent de Paul, St. Jean Baptiste). Auf der linken Seine-Seite erwähnt der Baedeker vier Kirchen, von denen eine ein Sternchen und eine zwei Sterne bekommt (St. Sulpice, St. Etienne du Mont).[15] Als wichtigste der zu besuchenden Kirchen von Paris betrachtet der Baedeker also nicht Notre Dame, sondern St. Etienne du Mont. Eine romanische Kirche wie St-Julien-le-Pauvre, immerhin einmal Grablege der Merowinger, kommt vielleicht wegen ihres damaligen Zustandes gar nicht in seinen Blick. Dafür aber natürlich Notre Dame, die aber nicht auf Wohlgefallen stößt:
Durch Verschönerungen traurig beschädigt eine interessante Formulierung angesichts der kürzlichen Renovierung der Kathedrale durch Viollet le Duc. Der Baedeker vertritt hier eine konkurrierende denkmalpflegerische Tradition, die sich mit dem Namen John Ruskin verbindet. Ruskin wollte alles so lassen, wie es ist und den Verfall höchstens aufhalten, während Le Duc Dinge (wieder)herstellt, die es so gar nicht gegeben hat. IntermezzoIch mache nun einen Sprung von über hundert Jahren, aus der Mitte des 19. ins späte 20. Jahrhundert. Die Generation meiner Eltern war noch sehr vorsichtig was Reisen und den Tourismus angeht aus ganz unterschiedlichen Gründen, ökonomischen und politischen. Aber dieses Phänomen ist nicht nur für Deutschland zu beobachten, es gilt weltweit:
Und Frankreich ist der Touristen liebstes Ziel.
Und was meinen die Paris-Besucher, was man auf jeden Fall besuchen müsse? Darüber gibt der jährliche Report des Comité régional de tourisme Auskunft.[18] Hier unterscheiden sich allerdings die absoluten Besucherzahlen (rechts) von den Angaben zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Danach ist die Kathedrale Notre Dame die zweitwichtigste Sehenswürdigkeit in Paris, deutlich nach dem Eiffelturm, in etwa auf gleicher Höhe wie der Arc de Triomphe, dem Louvre und Sacre Coeur. Tatsächlich aber ist Notre Dame die am meisten besuchte Sehenswürdigkeit. Die Differenz ergibt sich daraus, dass der Eiffelturm ja besucht werden kann ohne bestiegen zu werden. Nur Letzteres wird statistisch erfasst. Mit 12 Millionen Besuchern fasziniert Notre Dame also die Besucher am stärksten. Die statistischen Zahlen geben aber noch keine Auskunft darüber, was die Besucher eigentlich an diesem Ort fasziniert: die Kulisse des Glöckners von Notre Dame, das Zentrum (Nullpunkt) des Zentrums (Paris) von Frankreich, das kirchen- bzw. kulturgeschichtliche Symbol, oder was sonst? Natürlich geben die heutigen Reiseführer durch das weit verbreitete Sternchen-System eine gewisse Hierarchisierung vor. Das erklärt aber die Auszeichnung von Notre Dame noch nicht wirklich. Es kann nicht das historische Interesse sein, dann müssten viel mehr Menschen Saint Denis besuchen. Es muss eine Mischung aus allem sein. 1980 ADAC-ReiseführerNach dem Abitur wollte ich mit einem Freund Europa erkunden, zunächst ging es darum, ein Jahr mit dem VW-Bus durch Europa zu fahren. Einen guten Teil dieser Reise haben wir auch in unterschiedlichen Etappen geschafft (bis der VW-Bus irgendwann verreckte). Im Zuge dessen schaffte ich mir ein Buch an, das für mich so stellt es sich im Nachhinein dar eine Art Minimalkonsens des zu Besuchenden formulierte. Es war der im Verlag Das Beste erschienene ADAC-Reiseführer Schatzkammer Europa. Nun kann man heute lächeln über das Bildungsgut-Denken, das hinter so einem Buch steckt, aber für mich wurde es seit damals eine Art Abhak-Liste für die Kultur-Aneignung. Wann immer ich in den letzten knapp 40 Jahren eine Stadt besucht habe, mache ich einen Punkt in diesem Buch. Seinen Anspruch erklärte es im Vorwort wie folgt:
Das Blickfeld war natürlich ziemlich eingeschränkt, viele Länder Osteuropas kamen schlicht nicht vor. Europa das war West-, Nord, Südeuropa plus DDR und Jugoslawien. Länder wie Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei waren nicht verzeichnet, geschweige denn Rumänien oder Bulgarien. Der Teil über Frankreich umfasste 57 Seiten, 10% davon befasst sich mit Paris. Mit welchen Worten unterbreitet nun dieses Buch seinen Lektürevorschlag für Notre Dame?
Erkennbar arbeitet der ADAC-Reiseführer, der sich ja an die wachsende Gruppe der Auto-Touristen[20] wendet, mit motivierenden, verstärkenden Worten: vollkommen, herrlich, berühmt, ohne Zweifel. Jeder Satz betont: das ist ein Kulturschatz, den man sich anschauen sollte, er ist herrlich, vollkommen usw. Die Sätze sind thetisch: „Die Kathedrale Notre Dame ist ohne Zweifel das vollständigste Bauwerk, das die gotische Kunst in Frankreich geschaffen hat.“ Eine Begründung dafür fehlt. Der Besucher soll eben nicht nur den Eiffelturm, der in einer beiläufigen Bemerkung am Ende des Textes erwähnt wird, nicht nur das Viertel Montmartre mit Sacre Coeur, sondern auch „richtige“ Kunst besuchen. Eine Art volkspädagogisches Empfehlungsprogramm für eine mobil werdende Gesellschaft. 2011 Jean Claude GautrandIch springe zeitlich noch einmal dreißig Jahre. Zuvor aber noch eine kleine Information:
Das heißt, dass der Zeit, die ich hier beobachte, also die Zeit nach 1830 (nach Victor Hugo), auch die Fotografie als Form einer dokumentierenden Lesart zur Verfügung stand. Es sind gerade die Ikonen dieser Form der Aneignung der Welt, die für breite Massen Mythen erzählen, ja begründen konnten. Viel von dem, was Paris als Mythos ausmacht, ist auch der Fotografie zu verdanken. Die Bilder, von denen Mark Twain spricht, sind ja vor allem auch die Fotos des aufkommenden Medienzeitalters, die Fotos der großen Fotografen. Die beste Möglichkeit, sich Paris über die Geschichte der Fotografie zu nähern, bietet meines Erachtens Jean-Claude Gautrands Buch „Paris. Porträt einer Stadt“.[21] Es „liest“ die neuere Geschichte von Paris, die städtischen Veränderungen konsequent mit Hilfe der Fotos der bedeutenden Fotografen der jeweiligen Zeit. Das ist überaus spannend und man sich ja vorab durchaus fragen, ob Notre Dame darin überhaupt vorkommt und falls ja, ob sich das Vorkommen durch die Zeitschichten nach 1830 gleichmäßig verteilt. Um die Frage zu beantworten: ja, Notre Dame kommt immer wieder vor, am Anfang und auch später, nur in den wilden Zwanzigern fokussiert sich der fotografische Blick eher auf Montmartre. Das erste große Bild ist eine Aufnahme vom Dach von Notre Dame Richtung Osten, gefolgt von einer Fotografie mit einem Blick auf das unrestaurierte Notre Dame selbst, eine Perspektive, die zuvor auch schon Corot als Gemälde erfasst hatte: Es folgen Aufnahmen vom Turm der Kirche mit den ‚Monstern‘ und mehrere Fotos der Kirche selbst. In dieser Zeit, es ist das Kapitel des Buches das zwischen 1830 und 1871 angesetzt ist, steht Notre Dame für die Fotografen durchaus im Blick. Es folgt die Zeit zwischen 1871 und 1914. Hier tritt natürlich vor allem der Eiffelturm und die Weltausstellung in den Fokus, aber die Fotografen dokumentieren auch die schonungslose Neuorganisation von Paris und dabei eben auch der Île de la Cité durch Hausmann rund um die Kathedrale. Das ist deshalb interessant, weil man die Umgebung der Kathedrale immer als gegeben hin- bzw. annimmt, was sie natürlich nicht ist. Es folgen die wilden Pariser Jahre, mit dem Leben der Boheme, aber auch mit viel Stahl, jedoch wenigen Blicken auf die Kathedrale. Das nächste Bild zeigt den Eingang der Kathedrale, wie er im 2. Weltkrieg von Sandsäcken vor Bombenschäden geschützt wurde. Dann aber kommt wieder lange Zeit nichts, bis schließlich in der Gegenwart eine kunstvolle Fotografie von Wolfgang Tilmanns das Farbenspiel über Gemälden im Innern von Notre Dame zeigt. Wenn man sich die Fotografien im Überblick anschaut, dann dominieren zunächst die Frontalansichten der Kathedrale, dann folgen die Seiten- bzw. Rückansichten. Schließlich gibt es eine überraschende Zahl von Fotografien auf der Balustrade des Nordturmes mit den berühmten Gargoyles, wie auf dem „Vampir“ benannten Bild von Charles Nègre, die man ohne größere Schwierigkeiten in die Wirkungsgeschichte von Victor Hugos „Glöckner von Notre Dame“ einordnen kann. Richtig neutral erkundende Lesarten durch die Fotografie gibt es dagegen nur wenige, vielleicht noch am ehesten die stereoskopischen Fotos von Notre Dame. Exkurs: Notre Dame in der StereoskopieMan kann im Rijksstudio des Amsterdamer Rijksmuseums zahlreiche stereoskope Aufnahmen der Pariser Kathedrale finden. Sie datieren weitgehend in die Zeit des späten 19. Jahrhunderts. Ich habe mehr als 30 derartiger 3D-simulierender Aufnahmen gefunden und in einem Studio zusammengestellt. Hier eine nachträglich etwas kontrastreicher gesetzte anonyme Aufnahme aus der Zeit, in der der jetzt verbrannte Dachreiter gerade auf die Kirche gesetzt wurde: 2019 Der Brand der Kathedrale und seine/ihre (Miss-)DeutungenAls am Abend des 15. Aprils 2019 die Flammen am Dachstuhlreiter der Notre Dame de Paris züngelten und sich die ersten Agenturmeldungen weltweit verbreiteten, wussten vermutlich nur wenige, wie sie die Kathedrale einordnen sollten. War sie ein bedeutendes Zeugnis der religiösen Geschichte Frankreichs? War sie ein nationales, zentrales, französisches Symbol? War sie ein rechts-nationales Symbol im Sinne des Rechtsradikalen Dominique Venner, der sich vor 6 Jahren vor dem Altar der Kirche erschossen hatte?[22] War sie für die Pariser Bevölkerung ein identitätsstiftendes Element ihrer Stadt? Kamen die Millionen Touristen tatsächlich wegen Notre Dame nach Paris oder doch nicht eher wegen des Eiffelturms? Die überall zu spürende Betroffenheit suchte nach Erklärungen und Deutungen, sie suchte nach Zeichen und Verantwortlichen. Wer es gewohnt war, in bestimmten Schablonen und Verdächtigungen zu denken, brachte diese schnell in Anschlag (wahlweise Muslime, Freimaurer, Laïcité, Gottesstrafe, Menetekel). Alle diese Schablonen sind aber weniger Lesarten, als vielmehr Projektionen. Wenig sprach dafür, es im konkreten Fall in Anschlag zu bringen. Ich gehe im Folgenden kurz auf einige dieser Projektionen ein. Die Geldzähler Die Zeitschrift „WELT“ machte in der Wirtschaftsredaktion kurz nach dem Pariser Brand unter der Überschrift „So teuer war der Bauwahn der katholischen Kirche“ darauf aufmerksam, dass der Bau der gotischen Kirchen den Fortschritt behindert und das Mittelalter verlängert habe, weil die Baumaßnahmen ungebührlich hohe Finanzmittel für nicht produktive Bereiche gebunden hätten.[23] Die WELT beruft sich für ihre Lesart auf eine Thesenreihe zu einer Magisterarbeit, die 2011 in Florida erschienen ist.[24] Nun sind Magisterthesen für eine so weitreichende Schlussfolgerung schon eine sehr dürftige wissenschaftliche Quelle ohne der Autorin zu nahe treten zu wollen. Die Zeit der Kathedralen ist relativ gut erforscht, kulturgeschichtlich, architektonisch, ökonomisch. Man müsste also mehr dazu sagen können, als dass „die“ katholische Kirche ungeheuerlich viel Geld im Bau von Kathedralen gebunden habe. Nun ist die kulturökonomische Lesart, die etwa Robert Ekelung und andere vorgelegt haben,[25] nicht eo ipso falsch, sie ist vielmehr überaus erhellend. Nur dass sie nicht vom „Bauwahn“ sprechen, sondern von einer geradezu modern anmutenden ökonomischen Logik der katholischen Kirche, ihre Weltmachtstellung zu halten und auszubauen. Sie agiere wie ein „Trust“, um ihr Monopol zu sichern.[26] Und da ordnet sich der Kathedralbau ein, der ein neues Paradigma aufbaue, um die Menschen zu faszinieren:
Dieser Lesart wird man folgen können, wenn man beachtet, dass die katholische Kirche nicht so monolithisch ist, wie sie im makro-ökonomischen Blick erscheinen mag. In der Binnendifferenzierung der Bistümer herrscht nicht ein einheitlicher Impuls vor, sondern - das lässt sich bis heute beobachten ein höchst konkurrenter Überbietungsgestus. Das kann man gut bei George Dubys „Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980-1420“ nachlesen:
Daraus ergibt sich, dass die französischen Kathedralen durchaus ostentative Gesten sind, aber nicht im Sinne eines römischen Monopolsystems, sondern eher im Sinne selbstbewusst agierender regionaler Zeichensetzungen, sozusagen symbolischer Kapitalbildungen, die innerhalb des Trusts „katholische Kirche“ eigenständig agieren. Mit anderen Worten: es brannte am 15. April nicht das oder auch nur ein Symbol der monopolartig aufzufassenden katholischen Kirche (das erklärt auch die verhaltenen Reaktionen aus dem Vatikan), sondern ein spezifisch französisches, ja Pariser Symbol. Nicht das Herz der Christenheit, sondern etwas spezifisch Französisches war getroffen und andere Völker litten solidarisch mit. Die Gotteslästerer Natürlich kann man den symbolischen Charakter auch ins Unendliche ausweiten, dann wird die menschengemachte Kathedrale zum Zeichen Gottes. „Aber sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ spricht Salomo (1. Könige 8, 12f.). Das hindert einige nicht daran, den Brand der „Wohnung Gottes“ als ein göttliches Zeichen der gottverlassenen Gesellschaft zu deuten. Zu den heute schon beinahe endemisch auftretenden Gotteslästerern, die im Namen Gottes Gott zum Instrument ihrer Gewaltphantasien machen, habe ich an anderer Stelle in diesem Magazin geschrieben: „Der missbrauchte Gott. Zur poliitischen Bildertheologie der Reaktion“. Die Verschwörungstheoretiker Es gibt immer wieder Äußerungen zum Geschehen in Paris, bei denen man sich fragt, ob die Betreffenden schlicht verblödet, gestört oder wirklich so bösartig sind, wie sie sich darstellen. Natürlich kann eine Brandstiftung durch Moslems nicht von vorneherein ausgeschlossen werden. Genauso wenig wie eine Brandstiftung durch Homosexuelle wegen der Haltung der katholischen Kirche zur Ehe für Alle. Oder eine Brandstiftung durch die katholische Kirche, um vom Missbrauchsprozess abzulenken. Oder eine Brandstiftung durch Gelbwestler, weil die ja gerade im Krawallmodus sind und zudem unter den Arbeitern auf dem Turm kaum auffallen würden. Es fallen einem so viele potentielle Brandstiftungsverdächtige ein, dass es einen Roman füllen würde. Ich finde ja auch die Außerirdischen gute Kandidaten, wir wissen ja, dass sie gerne Brandstrahlen auf die Erde richten. Der verschwörungstheoretische Gestus, xyz könne aber doch auch nicht ausgeschlossen werden, ist reflexionslos. Der im Leserkommentar zitierte Blog wird der Altright-Bewegung zugerechnet. Das im Artikel zu findende Zitat von Jean Clair lautet in anderen Quellen anders, etwa in der Süddeutschen:
Das mögen die apokalyptischen Visionen eines Kunsthistorikers angesichts der fortdauernden Spaßgesellschaft sein, aber dadurch treffen sie noch nicht zu. Kulturpessimismus ist noch keine Prophetie. Man könnte im Gegenteil den nun erfolgenden Wiederaufbau als Symbol eines geeinten Europas deuten, das wäre genauso (un)plausibel. Bleibt noch der verschwörungstheoretische Witz mit dem Islam als der größten Religionsgemeinschaft in Frankreich. Zerohedge schreibt:
Da 51% der Franzosen der katholischen Kirche angehören, 31% keiner Religion und nur 9% Muslime sind, wird diese Lesart der religiösen Verhältnisse in Frankreich kaum vernünftig genannt werden dürfen. Die Leichenfledderer Es gibt auch jene, die von der Kirche Notre Dame leben, die sozusagen ein parasitäres Verhältnis zu ihr haben. Das sind u.a. die Guides, die die Touristen aller Länder in und durch die Kathedrale schleusen und mit Informationen versorgen. Wir hatten ja schon bei Mark Twain erfahren, dass er sich einen solchen Anekdoten erzählenden, von ihm Ferguson genannten Guide zugelegt hatte (in Wirklichkeit hieß er Billfinger, aber das war Twain zu blöd). Heute ist die Kultur der Guides eine ganze Kulturindustrie, die man für nichts und alles buchen kann. Und ähnlich wie bei Mark Twain weiß man nie, wie es um die Kompetenzen dieser Kulturvermittler bestellt ist. Ich greife einmal einen etwas willkürlich heraus, nämlich getyourguide. Dort finde ich Folgendes: Ja natürlich überlebte die Kathedrale die französische Revolution, die Hugenotten und den 2. Weltkrieg. Und zwar exakt in dieser Reihenfolge. Aber weder die Hugenotten noch der 2. Weltkrieg waren eine Gefährdung für die Kirche. Hätte sein können, war aber nicht. Und im Rahmen der französischen Revolution wurde sie zwar geplündert, aber auch zum Tempel der Vernunft gemacht. Überstanden hat die Kirche vor allem die Nachlässigkeit der Mitmenschen, die sich um ihren Erhalt nicht gekümmert haben. Und das gilt 1830 wie 2019. Die umfangreiche Restauration, wir haben es schon gelesen, wurde von anderen als schreckliche Verschandelung begriffen. Es geht aber noch lustiger. Ohne Superlative scheint kein Guide auszukommen, immer geht es um die berühmtesten und bedeutendsten Dinge, in diesem Fall um „Relikte“ für „Anhänger der Religion“. Das klingt schon sehr distanziert (und unbedarft: ein ‚Kruzifix‘, an dem Jesus gekreuzigt wurde). Kann man sich als Tourist ja dennoch angucken. Und nun zeigt sich, dass die „Relikte“ sogar noch wundertätig sind, denn es gelang ihnen persönlich, das Feuer zu überleben. Das wird den Feuerwehrkaplan wundern, der sie unter Einsatz seines Lebens gerettet hat. Und „leben“, das ist ihnen sozusagen eingeschrieben, vermögen Reliquien als das nach dem Leben Übrigbleibende gerade nicht. Jedenfalls würde ich den Erzählungen von Guides, die in so wenigen Zeilen schon so viel Unsinn verbreiten und in ihrer Sprache ein solch distanziertes Verhältnis zum vorzustellenden Gegenstand zum Ausdruck bringen, kaum Glauben oder gar Zeit schenken. 2019 TripAdvisor IIMehr als 69.000 Bewertungen mit 44.000 Fotos bietet TripAdvisor dem Interessierten zum Thema Notre Dame de Paris.[30] Neunundsechzigtausend Lesarten mit einem umfassenden Spektrum und natürlich extrem vielen Überschneidungen. 4,5 von fünf möglichen Punkten bekommt das Gebäude und steht damit auf Platz zwei der Pariser Sehenswürdigkeiten, nach dem Musée d’Orsay, noch vor dem Louvre (der freilich mehr, nämlich über 94.000 Bewertungen hat) und dem Eiffelturm (mit 124.000 Bewertungen).
Das ist das Mantra der Social-Media-Welt: individueller Erfahrungsaustausch nicht mehr das Urteil abgehobener Eliten. Was aber ist „individuell“ an diesen Erfahrungsberichten? Subjektive Erfahrungsberichte träfe es besser, den individuell im Sinne von „sich von anderen unterscheiden“ sind die Erfahrungsberichte ganz und gar nicht. Denn niemand, der den 69.001 Kommentar zu Notre-Dame abgibt, kann meinen, er würde zu irgendeinem Erkenntnisgewinn oder zu einer neuen Lesart des Gebäudes beitragen. Das konnte vielleicht noch Mark Twain glauben, wenn er 1867 für die wenigen englischsprachigen Touristen in Paris schrieb (aber eigentlich mehr für jene seiner Landsleute, die niemals nach Paris kommen würden). Als eine Art Reise-Tagebucheintrag wäre die TripAdvisor-Bemerkung auf dem eigenen Blog besser platziert und auch für die eigene Erinnerung hilfreicher. Aber die Menschen drängt es auf den Marktplatz der Geschmacksurteile über Reiseziele. Und diese Geschmacksurteile sind von vielen Faktoren abhängig: vom Wetter, von der Tageszeit, von den anderen Besuchern, von Tauben und Dieben, von der Tageshelligkeit usw. In den seltensten Fällen sind es sachbezogene Urteile über die Sehenswürdigkeit selbst. Alles „verkümmert zur dürftigen Alternative des Für oder Gegen“ (Theodor W. Adorno). Hier reicht es in der Regel nur zu „schön“, „überwältigend“ oder eben „nicht schön“ oder „enttäuschend“: Und dabei ist die extreme Wiederholungsrate des Immergleichen schon erschreckend. Zu viele Touristen, Warteschlange zu lang, Eintritt kostet nichts, Kirche ist schön, aber dunkel. Punktum. Damit wären 95% der Bewertungen abgehandelt. Bleiben ein paar inhaltliche Wertungen oder Vergleiche.
Etwa der, dass einem die nach 1666 gebaute Kathedrale St. Paul in London besser gefällt als die nach 1163 erbaute Kathedrale Notre Dame in Paris. Das ist die Logik, die Neo-Romanik besser findet als Romanik oder in diesem Fall: Klassizistischen Barock an Stelle von Gotik. Sinnvoll sind solche Vergleiche kaum. Manchmal kommt es noch besser, wenn imaginäre Kathedralen zum Vergleich herangezogen werden. Oder wenn man auf Gebäude wie Westminster Abbey Bezug nimmt, die nur entstanden sind, weil es Notre Dame gab. Die Kritik an den Kerzen als Ausdruck von Disney World kann wohl nur ein amerikanischer Tourist äußern, jedem Katholiken auf dieser Welt wäre der Zusammenhang von Opferkerzen und katholischer Kirche einsichtig. Apropos Disney World: Quasimodo taucht immer wieder in den Kommentaren auf, selten so deutlich wie im nebenstehenden, in dem gefordert wird, Notre Dame doch etwas mehr Disney-Like einzurichten. Man wolle schließlich sehen, wo Quasimodo gelebt habe. FazitWie wird eine Kathedrale gelesen? Die vorstehenden Notizen konzentrierten sich auf jenen Zeitabschnitt der jüngeren Geschichte, in dem sich der Tourismus als eminenter Teil der Kulturindustrie entwickelt und schließlich durchsetzt. Die touristischen Aspekte überlagern jeden ursprünglichen Bedeutungsgehalt und reduzieren das Urteil zunehmend auf die Logik der Questionaires in Illustrierten: Gefällt es oder gefällt es nicht. Oder wie schrieb eine Zeitung: der Trend geht zum Daumen-System. Anmerkungen
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/119/am666.htm |