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Magazin für Theologie und Ästhetik


Magic Glass

Zur Kunst von Bjørn Melhus

Andreas Mertin

Das Zauberglas

In RAINER WERNER FASSBINDERs Film "Welt am Draht" werden drei Ebenen von Wirklichkeit komplex ineinander verschachtelt. Es beginnt mit einer Ebene, von der aus man in eine virtuelle Wirklichkeit hinabsteigen kann und die zur Simulation der ersten Wirklichkeit dient. Diese stellt sich jedoch am Ende selbst als virtuell heraus, weil es offensichtlich noch eine übergeordnete gibt.

Ähnliche Erfahrungen macht der Betrachter mit der Arbeit "Das Zauberglas" (1991) von BJØRN MELHUS. Am Anfang unterhalten sich zwei Personen, ein sich Rasierender führt einen Dialog mit einem Individuum in einem Fernseher. Was für eine merkwürdige Kommunikation. Und ganz am Ende stellt sich heraus, dass beide ihrerseits nur Gefangene des Mediums sind. Ihr Gespräch - übernommen aus dem Western Der gebrochene Pfeil mit JAMES STEWART(1) - ist eine merkwürdige Form der aufklärerischen Kommunikationsverwirrung. Während alle Dialoge ins Leere zu gehen scheinen, geben sie doch beredt Auskunft über das Kommunikationsmedium, in dem sie stattfinden, das "Fernsehen": So oft du hineinsiehst, wird es dir verraten, wie wunderschön du bist. - Darin sieht man sich besser als in einer Wasserpfütze.

Der Videokünstler BJØRN MELHUS, 1966 geboren in Kirchheim/Teck, Absolvent der Freien Kunst an der HBK Braunschweig, ist als Künstler ebenso eine Art "Archäologe" wie ein "Futurologe" unserer Kultur. Das archäologische Material sind Fundstücke aus der Medien- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, das futurologische Thema ist das Klonen des Menschen und die Frage seiner Identität im Kontext einer durch und durch mediatisierten Kultur. Im gerade erschienenen Katalog "Du bist nicht allein" kann der Leser mittels der beigefügten CD-ROM einen Einblick in BJØRN MELHUS' Oeuvre nehmen.

Weit weit weg

Kommunikation in Zeiten der Tele-Kommunikation ist ein mehr als schwieriges Unterfangen. In BJØRN MELHUS' Arbeit "Weit weit weg" (1995) geht es um Beziehungsarbeit durch Tele-Kommunikation, die aber - weil medial vermittelt - an ihren eigenen Bedingungen und der Logik des Mediums scheitert: "Das Mädchen Dorothy versucht sich mittels eines Handys eine Doppelgängerin zu schaffen und diese zu sich zu holen. Doch die in der Phantasie gespiegelte Dorothy beginnt ein Eigenleben zu führen, und will eine Agentin der großen, weiten Welt werden, die immer wieder in Form von Fernsehsendungen erscheint."(2) Ist Kommunikation "der wie auch immer geartete Austausch von Informationen und das damit einhergehende Teilnehmenlassen des anderen am eigenen Empfinden und Denken, Meinen und Wollen" (so das Lexikon MS Encarta), dann kommt sie hier nicht zustande, denn das mediale Geschehen überlagert jede menschliche Regung.

No Sunshine

In PLATONS Höhlengleichnis können die Menschen die wirkliche Welt nicht erkennen. Sie halten Schatten künstlicher Gegenstände, die eine Lichtquelle an die Höhlenwand wirft, für die Wirklichkeit. In BJØRN MELHUS' Arbeit "No Sunshine" (1997) stammen die Bilderwelten aus dem Computer und vom Bildschirm. Also sind auch sie nur von künstlichen Maschinen erzeugte Schatten und niemand weiß, in welcher Relation sie zur Wirklichkeit stehen. Wie in Platons Höhlengleichnis dringt keine Sonne ins Innere zu den Menschen, die konsequenterweise wie Play-Mobil- Figuren erscheinen. Die Bilder des Videos fragen aber nicht nur: Was ist Wirklichkeit? Was ist Wahrheit?, sondern vor allem auch: Wer bin ich? Was ist der Kern der Dinge? Wenn die Welt der Menschen nur aus künstlich (= medial) erzeugten Spiegelungen besteht, was bildet dann seine Identität aus? Und wie kann er einen Blick auf die Realität erhaschen, der nicht schon medial gebrochen ist?

Blue Moon

Durch und durch ironisch wendet sich das Video "Blue Moon" (1997/98) dem "erfolgreichsten Comic-Export Europas" zu, wie BERND SCHULZ im Katalogbuch notiert.(3) Im Video wird der europäische Schlumpf (auf der Bildebene) kontrastiert mit Elementen aus Songs des amerikanischen Popsängers Elvis Presley (auf der akustischen Ebene). Die Reflexion der Geschichte des transatlantischen Kulturtauschs - hier also: der Schlumpf in Amerika und Elvis Presley in Europa - und ihrer Folgen bildet, wie auch die korrespondierende Arbeit "Out of the Blue" ausweist, einen wichtigen Bestandteil des Werks von BJØRN MELHUS.

Out of the Blue

Im Video "Out of the Blue (1997/98) erzählt eine scheinbar gesichtslose Person viel über ihre eigene Geschichte, was sie in der Jugend beeinflusst hat und was sie interessiert. Während der Betrachter rätselt (und es doch allzu gut weiß), wer sich wohl hinter der Maske verbirgt, erzählt der Schachtelmann über sich und sein Schaffen und enthüllt die Antriebe und Motive seines Werkes. "I'm a part of the first European TV generation ... Who am I?" Wie heißt es doch schon in der Bibel: "Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht."

Again & Again

Auch mit seiner Video-Arbeit "Again & Again" (1998) setzt sich BJØRN MELHUS mit dem Thema "Klonen" und der seriellen Produktion des Menschen auseinander. Gezeigt wird "eine bildnerische Horrorvision vom Klonen des perfekten und geschlechtslosen Menschen. Im Herzschlagrhythmus vervielfältigt sich die Figur, deren Selbstverliebtheit und Bewunderung seiner Doppelgänger wie ein sich selbst verstärkender Prozess erscheint."(4)

Das zunächst beruhigend wirkende Versprechen "Du bist nicht allein / You are not alone", das den Titel des aktuellen Kataloges bildet, bekommt so einen mehr als bedrohlichen Unterton. Die Gemeinschaft, in der sich der geklonte Mensch befindet, ist nur eine unendliche Wiederholung des Selbst. Und auch die Kommunikation der Wiedergänger ist nur eine scheinbare - es bleibt beim Ausspruch (und nicht einmal Austausch) von Stereotypen, Wortfetzen und Sentenzen. Die Anspielungen, die MELHUS dabei in sein intertextuelles Wort- und Bildmaterial einbaut, reichen vom legendären Raumschiff Enterprise bis zum Videokünstler Bruce Naumann.

In der Musik-Videoclip-Produktion der letzten Jahre, auf die sich BJØRN MELHUS implizit wie explizit ja mehrfach bezieht, spielt die kaleidoskopische Multiplizierung des Menschen ebenfalls eine Rolle, wie der nebenstehende Screenshot aus dem Videoclip zu "Let forever be" der CHEMICAL BROTHERS zeigt.(5) Das auf dem Bildschirm zunächst fast harmlos, ja sympathisch erscheinende Phänomen ist das ja keineswegs abwegige apokalyptische Szenario der hybriden Vervielfältigung des Menschen.(6) Ist es bei den CHEMICAL BROTHERS nur eine alptraumhafte Phantasie, die immer wieder aus dem normalen Bildablauf aufbricht, und die somit irreal bleibt, so wird bei BJØRN MELHUS die Multiplizierung fast schon zur Normalität, zur Vision einer scheinbar unvermeidlich auf uns zukommenden Realität.

Die MTV-Generation oder: Medienphilosophie(n)

In der Zeichentrickserie "Die Simpsons" antwortet die kleine Lisa auf eine entsprechende Äußerung ihres Vaters: "Oh, wir können alles ertragen. Wir sind die MTV-Generation. Wir fühlen keine Höhen oder Tiefen."(7) Die MTV-Generation lebt von der "Stimulation der Simulation": "Die MTV-Künstler definieren ihre Identitäten durch die Wahl kultureller Symbole ... Auf einer subtileren Ebene ist die Vereinnahmung von Medienversatzstücken und gesellschaftlichen Symbolen zum Zweck ihrer Wiederbelebung genau die in Aktion gewendete Philosophie von MTV und erzeugt eine neue Form sozialen Handelns."(8) Nach BAUDRILLARD "droht uns eine völlige Auflösung des Fernsehens in das Leben, die Auflösung des Lebens in das Fernsehen ... Wir kommen zu der Überzeugung, dass die Medien eine Art genetischen Code bilden, der aus dem Weltall die Mutation des Realen in das Hyperreale steuert, wie auf der anderen Seite ein mikromolekularer Code den Übergang des Signals von der repräsentativen Sphäre der Bedeutung in die genetische Sphäre des programmierten Signals steuert."(9)

Was alle Arbeiten von BJØRN MELHUS auszeichnet, ist die in ihnen konsequent durchgeführte künstlerische Medienreflexion jenseits aller oberflächlichen Strickmuster von Negation und Affirmation. Sein Thema ist dementsprechend nicht nur das Klonen des Menschen - also der verdoppelte Mensch -, sondern auch das geklonte Medium - der vervielfachte Bildschirm - und nicht zuletzt die geklonte Kultur - das selbstreferentielle und sich damit immer wieder reproduzierende Medium schlechthin. Die mediatisierte Kultur stellt ihrerseits wieder eine Realität dar, die vor allem im Medium selbst reflektiert werden muss. Das gelingt BJØRN MELHUS auf hohem Niveau und überzeugende Weise.


BJØRN MELHUS wird vertreten von der Galerie ANITA BECKERS, Frankfurt


Anmerkungen
  1. So Bernd Schulz im Katalog: Du bist nicht allein, Heidelberg 2001, 18.
  2. Ebd.
  3. Ebd. S. 44.
  4. Ebd. S. 50.
  5. Vgl. dazu Verf., Videoclips VIII, https://www.theomag.de/12/am31.htm
  6. Ein amerikanischer Physiker äußerte schon 1998 die Absicht, eine Klinik für das Klonen von Menschen zu eröffnen.
  7. Zit. nach: D. Rushkoff, media virus, Frankfurt 1995, S. 115.
  8. Ebd. S. 153
  9. Jean Baudrillard, zit. nach. D. Rushkoff, Ebd. S. 154

© Andreas Mertin 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 12/2001
https://www.theomag.de/12/am32.htm