Weltbegebenheiten

Erkundet in Ausstellungen

Barbara Wucherer-Staar

es hat doch seinen groszen nutzen, in einer glorreichen zeit gelebt zu haben; man faszt die weltbegebenheiten anders auf und verzweifelt nicht gleich, wenn die welt aus ihren fugen zu gehen scheint Stromeyer erinn. e. dt. arztes (1875) 1, 47;
liesz sich die zeitung geben, mehr um sich zu zerstreuen als weil er neugierig auf weltbegebenheiten war qu. a. d. j. 1913;…
                                          Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm[1]

Unterschiedliche Blicke auf Bilder und Ikonen im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft aus der Sicht eines Landschafters (Bernhard Fuchs), eines Streetworkers (Keith Haring) und eines „Bildweltensammlers“ (Aby Moritz Warburg).

Natur als Gegenüber - Achtsamkeit und Transzendenz: Bernhard Fuchs

Der österreichische Fotograf Bernhard Fuchs [(*1971), ausgebildet bei Bernd Becher und Timm Rautert] konzentriert sich auf seinen Wanderungen durch das ihm von Kind auf vertraute Mühlviertel nahe Linz in seiner neuen Serie Mühl auf einzelne Objekte in der Landschaft. Die Dinge in ihrer Umgebung – Fels, Baum, Steine, Wasser – werden in ihrer menschenleeren Umgebung zu skulpturalen Ereignissen, die dem Fotografen gegenüberstehen. Fuchs selbst kommentiert diese achtsam gesehenen Dinge mit einem Zitat Adalbert Stifters: „Ihr empfangt also das Gefühl von den Gegenständen, und tragt es nicht in dieselben hinein“ (nach: Adalbert Stifter, Der Nachsommer, 1857). Er warte, so der Fotograf, auf den idealen Moment - würden Licht, Form und Farbe für seine „Erzählung von Heimat“ stimmen, dann, sagt er, wird es ein Foto – unspektakulär und intensiv, in nuancierten Farben und unterschiedlichem Licht. Er „erlebe … heute noch beim Schauen und Gehen durch das Gelände die Wälder als eine anhaltende Erzählung.

Sind es für Fuchs persönliche regionale Erinnerungen, die an diese Region gebunden sind, werden es für den Betrachter scheinbar vertraute Orte, die eigene Assoziationen an ähnliche „stille“ Momente auslösen. Das Material der Landschaft erinnert an Werte wie unverwüstlich, beständig (Granit, Fels, Stein, Baum), vegetativ, wachsend, vergehend, Kreislauf der Natur zu verschiedenen Jahreszeiten (Waldboden, Baum) und stetig fließendes Wasser. Meist werden die Bilder am späten Nachmittag mit einer handlichen Rolleiflex-Kamera aufgenommen.

  • Ausstellung: Bernhard Fuchs. Mühl, Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, 25. Juli bis 8. November 2020, Fotobuch Mühl, 2020

Kunst in der Stadt - Streetart: Protest und Apokalypse: Keith Haring

In U-Bahnstationen, auf Plakaten, in Galerien und Museen geht Keith Haring (1958-1990) dagegen an eine große Öffentlichkeit mit einem brandaktuellen Thema. Sein „Kreuzzug“ für Außenseiter der Gesellschaft, für an Aids Erkrankte, ist heftig umstritten. Monumentale Graffiti, scheinbar heitere Strichmännchen, die eine Treppe herunterfallen, tanzen, ein verstrahltes „Atom-Baby“ sind längst zu weltweit bekannten Ikonen geworden. Eine der Besonderheiten der aktuellen Ausstellung ist eine Serie von Collagen, in denen er das Bildnis der Mona Lisa von Leonardo da Vinci zitiert (Apocalypse (Detail), 1988, 10 Siebdrucke zu einem Text von William S. Burroughs).

  • Ausstellung: Keith Haring, Museum Folkwang Essen, 21. August – 29. November 2020, Katalog


Pathosformeln in Bilderfahrzeugen auf Wanderstraßen der Kultur, Bildgedächtnis zwischen Kosmos und Pathos – Aby Warburg

Die dritte Sichtweise ist nicht die eines Künstlers, sondern die des unkonventionellen, renommierten Hamburger Kunsthistorikers. Aby Moritz Warburg (1866-1929) konzipierte 1927-29 den legendären, umstrittenen, unvollendeten Bilderatlas Mnemosyne. Das Fragment, das heute als eigenständiges Kunstwerk gilt, beinhaltet knapp 1000 Schwarz-Weiß Fotografien und Abbildungen aus Büchern, Zeitungen, Magazinen. Fachübergreifend sind Bilder und Objekte aus Hochkultur und Alltag, Mode und Werbung aus unterschiedlichen Epochen – von der Antike über die Renaissance bis hin zur Gegenwart – auf 63 schwarzen Tafeln thematisch assoziativ angebracht. In diesen Bild-Konstellationen erschließen sich untereinander neue inhaltliche Bezüge, die von Warburg selbst nicht näher erläutert werden.

Seine ikonologische Methode, wiederkehrende Themen und Bilder (Motivwanderungen) epochenübergreifend von der Antike über die Renaissance bis in die Gegenwartskultur hinein zu verfolgen prägte nachfolgende Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler – verstärkt seit den 1990er Jahren.

Kulturwissenschaftliche Bibliothek

In Warburgs Bibliothek fand sich in den 1920er Jahren um Warburg ein interdisziplinäres Team – Fritz Saxl und Gertrud Bing, Ernst Gombrich, Erwin Panofsky, Ernst Cassirer, Edgar Wind (die so genannte Hamburger Schule) die vor allem an diesem Projekt arbeiteten. Geplant war, den Atlas für Experten und Laien zu veröffentlichen.

Als die Bibliothek nach Warburgs Tod (1929) 1933 in das Warburg-Institut in London in Sicherheit gebracht wurde, wurde die in mehreren Versionen auf Lesbarkeit hin überprüften 63 Bildtafeln des Atlas in ihrer letzten Version (Herbst 1929) fotografiert.

Offene Denkräume heute

Er habe den Plan gefasst, schrieb der Gelehrte an seinen Bruder Max im Februar 1927, in einem großen Typenatlas seine „Forschungsergebnisse zusammenzufassen, soweit sie sich auf den Einfluss der Antike auf die europäische Kultur beziehen …. Diese Art der Publikation würde einen festen Rahmen, der zugleich verstellbar ist, für mein gesamtes Material ergeben.“[2]

Der Titel bezieht sich auf die griechische Göttin der Erinnerung – Mnemosyne – und auf den griechischen Titan Atlas, der als Ahnherr der Astronomen und Geografen gilt.[3]

Fotografien der (1933) dokumentierten Tafeln wurden 1994 in Wien ausgestellt und erstmals um 2000 in kleinem Format publiziert.

2016 zeigte das Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) Karslruhe die 2011 begonnene Forschungsarbeit von Roberto Orth, Axel Heil und anderen. 63 Bildtafeln wurden erstmals im Originalformat mit Kommentaren, recherchiert nach Warburgs Schriften, vorgestellt. Darunter zwei Tafeln mit Abbildungen, die Warburg 1929 verwendete: Tafel 32: Karneval, Tafel 48: Fortuna.

Das ZKM erweiterte das Projekt um 12 künstlerische Notizen im Sinne von Warburgs Paneelen mit Bildtafeln von Andy Hope 1930, Olaf Metzel, Albert Oehlen, Elfie Semotan und Peter Weibel.

Die assoziative Methode Warburgs war auch Anregung für Museen als „offene Denkräume“ (Diversitätsdebatte, Gleichstellungsversuche), zum Beispiel in der Ausstellung „Museum Global“, Kunstsammlung NRW, Düsseldorf 2019. Das Verfahren findet sich ebenso in Jens Harders kurioser, assoziativer Kursus der menschlichen Evolution. Hunderte von Vorlagen aus dem klassischen Bilderkanon sind - neu zu Collagen montiert - zu entdecken. Unter den Werken des kulturellen Bilder-Gedächtnisses finden sich Mona Lisa und Leonardo da Vincis menschliches Proportionsschema nach Vitruv.[4]

Warburg zeigte das Nachleben der Antike in Motiven und Gesten (Pathosformeln innerer und äußerer Bewegung), die bis in die Renaissance und in seine Zeit in Hoch- und Alltagskultur wandern, zeitgleich mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchsituationen. Gibt es, so die Frage des „ersten Medienwissenschaftlers“, eine elementare Bilder-Grammatik von Gesten, Körperhaltungen, bildnerischer Zeichenhaftigkeit?

Er entdeckt solche Wanderstraßen der Kultur (Warburg). Von ihm als Bilderfahrzeuge (heute: iconic turn oder pictorial turn) bezeichnete Bild-Vehikel - Kalender, Sternenkarten, Teppichen, Grafiken, Hochzeitstruhen, Briefmarken - transportieren sie.

Die Mnemosyne-Bilderreihe ist vorwiegend chronologisch aufgebaut und folgt diesen Wanderstraßen der Bilderfahrzeuge. Sie verbreiteten die neue bewegende Bildsprache in Europa - eine Geschichte voller Konflikte und Konfrontationen.

Jetzt - 2020 - zeigen Ohrt und Heil in Berlin im Haus der Kulturen der Welt die 63 Bildtafeln sowie 20 unbenannte Motivtafeln, nahezu alle vollständig rekonstruiert nach den Original-Vorlagen von Warburgs letzter Version des Atlas (Herbst 1929); die Rekonstruktion im Originalformat (von 170 x 140 cm ermöglicht eine Betrachtung der Einzelbilder im Detail (pro Tafel um die 30 / insgesamt knapp 1000). Sie wurden in einem Folianten mit einführenden Texten publiziert. Geplant ist für 2021 ein kommentierender Textband.

Einige Beispiele sollen exemplarisch den Transfer künstlerischer Vorstellungen und Ausdrucksformen verdeutlichen.

Zentral in Warburgs Forschung sind die in seiner Dissertation 1892 untersuchten Figuren, Botticellis Geburt der Venus und Primavera. Hier findet er in der Gestalt der Primavera die Gestalt der Ninfa, die zur zentralen Denkfigur der Bildwanderungen wird (Eilbringitte). Ihre Kennzeichen: wehende Gewänder und Haare, oft trägt sie einen Korb mit Früchten.[5]

Tafel A zeigt eine Sternenkarte (Sterre Kaert of Hemels Pleyn, 1684), Die Wanderstrassenkarte des Kulturaustausches zwischen Norden-Süden, Osten-Westen (1928) und den Stammbaum der Familie Tornabuoni (um 1905).

Tafel B zeigt den Menschen im Kreis der kosmischen Gewalten: die Darstellung einer Vision der Hildegard von Bingen (12. Jahrhundert), eine Einteilung des Körpers nach den Tierkreiszeichen zum Zweck des Aderlassens aus einer deutschen Handschrift (15. Jahrhundert, München), Leonardo da Vincis Proportionsschema nach Vitruv, (Vitruvian Man, Venedig, Academia). Weitere Werke sind: Erwehlung der Zeichen und Zeiten beym Aetzeneyen, Aderlassen und Schröpfen (Johann Heinrich Voigt, Verbesserter Hamburgischer Historischer Kalender auff das Jahr 1724), ein Zodiac Man (13-40-50), Ideale menschliche Proportionen nach Dürer, das magische Pentagramm Der Planetenmensch und Einteilung der Hand nach den Planeten (beide aus De Occulta Philosophia, Köln 1533, nach Agrippa von Nettesheim, 1910).

Tafel C zeigt unter anderen Bildern Johannes Keplers Identifikation der Planetenbahnen mit den regelmässigen Körpern aus dem Mysterium Cosmographicum (1621), ein Sonnensystem (Brockhaus Koversations-Lexikon, 14. Ausg., Leipzig, 1908), Planetenkinder (Hausbuch, 15. Jahrhundert), Der “Graf Zeppelin“ über der japanischen Küste begegnet einem Flugzeug des Küstenwachdienstes (aus der Münchner illustrierten Presse, 1929).

Weitere bekannte Codes und ihre Transfomation sind der Sterbende Laokoon nach einem Fresco aus Pompeii, zusammen mit Szenen aus dem Isiskulut und tanzenden Mänaden (Tafel 6)

Es finden sich Tafeln mit Bewegungsmotive im Werk Dürers und Dürers humanistisches Trostblatt Melencolia I (1514), Welterobernde Pathosformeln aus den Fresken des Palazzo Schiffanoia, das zentrale Motiv der Medea.

Von der Nymphe zur Golfspielerin

Medeas Gegenpart, das bekannte Motiv der Nymphe findet sich auf mehreren Paneelen. Auf Tafel 55 collagiert Warburg, wie das Motiv einer sitzenden Frau in Manets Frühstück im Grünen (1863, Louvre, Paris) zeigt, durch Zeiten und Bilddarstellungen wandert. Etwa bei Marcantonio Raimondi, Urteil des Paris sowie Werke von Annibale Carraci, Tizian, Peter Paul Rubens und Anton Raphael Mengs.

Eine andere Tafel zeigt eine laufende Nymphe, die Eilbringitte Ninfa / Nympha fluida - in einer Fotografie Warburgs von einer laufenden Frau in Settignano, im Kontext weiterer Bilder.

Tafel 77 Eugène Delacroix´ Medea (1839) und Das Massaker von Chios (1821-24, Louvre, Paris), Sommer-Spiele des Hamburger Golfclubs in Flottbeck und eine Golfspielerin. Hinzu kommen eine Deutsche Hausfee (Reklame für Toilettenpapier mit dem Motiv der Victoria), eine Briefmarke von Barbados, den und der Einband eines Kochbuchs – Eßt Fisch dann bleibt ihr gesund und frisch (Berlin, 1928).

Bis auf wenige Ausnahmen, etwa Briefmarken oder Werbeblätter, sind alle Bilder Schwarz-Weiß auf originalen Passpartouts. In dieser Form entstehen konnte der Atlas mit dem Standard des relativ jungen Massen-Mediums Fotografie und Film in den 1920er Jahren, das das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aus der (auch von Kunsthistorikern gesetzten) Aura von Ort, Künstlerpersönlichkeit und Stilgeschichte löste.

  • Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – das „Original“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 04.09.–30.11.2020, dazu erschienen ist ein hervorragendes, monumentales Bilder-Buch-Werk, 2020, ein Textband ist für 2021 geplant
  •  Parallel dazu gezeigt werden 50 bemerkenswerte Werke Zwischen Kosmos und Pathos, Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne, Gemäldegalerie Berlin, 08.08.2020 bis 01.11.2020
  • Aby Warburg, Mnemosyne Bilderatlas, Rekonstruktion - Kommentar - Aktualisierung, ZKM Karlsruhe, 01.09.-13.11.2016, in: https://zkm.de/de/event/2016/09/aby-warburg-mnemosyne-bilderatlas
Anmerkungen

[1]    Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=weltbegebenheit

[2]    Claudia Wedepohl, The Making of Warburg Bilderatlas Mnemosyne, Atlas 2020, S. 16, Anm. 23

[3]    Zugleich steht der Begriff „Atlas“ für anschauliche Formen von Wissen: sei es die Zusammenstellung geografischer Pläne zu einem geschlossenen Kunstwerk, sei es eine Konstellation von Bildern, die auf ebenso systematische wie kritische Weise ganz unterschiedliche Hinweise und Gebiete verknüpft“ in: Medienmitteilung des ZKM Karlsruhe 2016.

[4]    Jens Harder, BETA … civilisations, volume I, Hamburg 2014

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/127/bws28.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2020