Weltbürger sein – Weltbürger werden – weltweit

Zur Kritik des Kosmopolitismus

Frauke A. Kurbacher

„Wir erfahren die Welt nicht, weil wir hineinfahren, sondern weil sie uns angeht.“
aus: Vilém Flusser, Er-fahrung, S. 80

Präambel[1]

Vilém Flusser und Hans Blumenberg zum 100. Geburtstag[2]

Nun jähren sich in diesem Jahr nicht nur runde Philosophen-Geburtstage, sondern auch die von Ereignissen, deren Jubiläen jedoch zum Zeitpunkt der Geburt der beiden Genannten noch nicht absehbar waren. Mit Blick auf die Entstehung von weltbürgerlichen Gedanken als Erfordernis für eine Befriedung der Welt können und sollen sie hier nicht unerwähnt bleiben: der 75. Jahrestag der Beendung des Zweiten Weltkrieges und der 30. Jahrestag der Wiedervereinigung[3]. Sie könnten uns Verpflichtung sein, – sie sollten es wohl sogar.

Vorlauf – Die Bühne der Welt (erste Umrundung)

Das Thema der Welt, auf dem jeder Kosmopolitismus fußt, ist groß und weit. Ich möchte mich ihm in konzentrischen Kreisen nähern. Freilich sind es keine geschlossenen Kreise, sondern eher poröse Schlaufen, die um eine letztlich nicht zu eruierende Mitte schlingern, die offen bleibt.

Bereits dieser Vorlauf ist eine erste vorsichtige, methodisch reflektierende Annäherung mit einer ebenso vorsichtigen wie grundlegenden Hypothese. Die zweite folgt Bildern, sprachlichen Bildern, die unsere Kultur bereit hält und versucht darüber, grundsätzliche Fragen zu entwickeln und Grundelemente wie Grundkonstellationen vorstrukturierend zu erkunden, bevor in einer dritten Annäherung in kritisch-hermeneutischer Weise im Besonderen ein Konzept zum Weltbürger, nämlich das Kants, das vielen als Grundlage dient, zunächst eigens und dann im Ausblick auf seine Relevanz für die Gegenwart bedacht wird.

Was hat nun der homo cosmicus mit dem homo migrans zu tun, wenn er nicht sogar derselbe ist? Beiden – oder eben dem einen, dessen conditio humana die Migration ist, eignet als Menschen die Fragilität, die sie auch mit der der Welt teilen.

Das ‚theatrum mundi‘ des Kosmopoliten (zweite Umrundung)

Vielleicht beginnt mit dem theatrum mundi des Kosmopoliten jene Kritik am Kosmopolitismus, die angesichts der Weltverhältnisse und Weltbegebenheiten notwendig erscheint. Sehen wir angesichts von selbstverschuldeten Klima- und Umwelt- und humanitären Katastrophen gerade dem eigenen Schiffbruch,[4] dem eigenen Versagen und Scheitern zu? Auch auf die Gefahr hin, dass es so ist, führt Kulturpessimismus allein nicht weiter. Es bedarf tragfähiger Überlegungen, wie mit uns selbst auf der Welt umzugehen ist.

Doch wer ist der Kosmopolit und wie lässt sich die Weltbühne, die er betritt, am trefflichsten beschreiben? Sowohl die Vorstellung des Kosmopoliten wie die des Welttheaters sind alt und ebenso die dadurch evozierte Spielsituation.

Einige Überlegungen zu Kants Begriff des homo cosmicus legen den Kosmopoliten weniger in politischer als vielmehr in übergreifender anthropologischer Perspektive nah – als einen Gedanken der Weltoffenheit, die uns qua Menschsein mitgegeben ist und sich mit einer vor allem phänomenologisch inspirierten Lesart, wie sie von Maurice Merleau-Ponty im 20. Jahrhundert gegeben wurde, verbindet – als einem „der Welt zugeeignet sein“. Konfrontiert mit den ‚Brettern, die die Welt bedeuten‘ – zumindest metaphorisch – weist dies auf eine andere anthropologische Bestimmung: die des homo ludens, dessen Potential insbesondere Schiller im Ästhetischen entdeckt: Denn nirgends sind wir offenbar freier und menschlicher als im Spiel. Doch der Blick hinter den Vorhang des theatrum mundi – doch was bedeutet hier davor und was dahinter? – legt auch einen Blick frei auf das „Theater des Subjekts“, dessen Bestimmung uns noch als Stimme der persona durch die Maske des Schauspielers in seiner Rolle erreicht. Gibt es uns jenseits von Darstellung, Inszenierung und Verkörperung? Und falls nicht, in welchem Verhältnis stehen sie dann zur Auffassung unserer selbst in Eigen- und Fremdperspektiven? So gesehen ist mit dem theatrum mundi auch deutlich eine subjekt- und persontheoretische Dimension des Kosmopoliten angeschlagen, die auf Interpersonalität hoffen lässt und deren Weltbürgertum oder Weltbürgerlichkeit sich nicht nur in politischen Stilen niederschlägt, sondern auch generelle Fragen nach dem Verhältnis von Zuschauer und Weltgeschehen, nach Involviertheit und Distanz aufruft. Ist der Kosmopolit Betrachter oder Spieler oder beides? Oder gehören die Zuschauer ohnehin mit zum Spiel wie Distanz notwendig zur Beurteilung, zur Kritik und Selbstreflexion, für die nicht selten gerade das ‚Spiel im Spiel‘ im Theaterstück genutzt wird, das seinerseits wiederum ‚Spiel im Spiel‘ auf der Weltbühne ist. In dieser mehrfach gespiegelten Brechung steckt kritisches Potential. Es ist eine ‚verkehrte Welt*, die uns das Theaterspiel vorzuführen vermag und damit doch vielmehr in kritischer Absicht all das richtig rückt, was in der Gegenwart verrutscht und im Wortsinn als ‚ver-rückt’ erscheint. Denn wer steht eigentlich Kopf – wir oder die Welt? Und wer, wenn nicht wir, sind die Welt? Kein geringerer als Georg Büchner hat mit diesem Motiv einer auf den Kopf gestellten Welt einige seiner Figuren und Stücke versehen und uns u.a. als „Kopffüßler“ kenntlich gemacht. Die Welt- wie die Theatermetapher können als Ordnungsvorstellungen begriffen werden, ihre jeweilige Phänomenalität aber bietet Brechungen und Fremdes. Ist die Theatermetapher auch seit der Antike im Umlauf, so nimmt bezeichnender Weise die des theatrum mundi vor allem in der Neuzeit ihren Aufschwung. Da, wo Ordnungsgefüge sich lösen oder gar zusammenbrechen, tritt die Ordnungsvorstellung selbst plötzlich deutlich zutage, doch als eine mindestens einmal in sich gespiegelte und reflektierte. In der mehrfachen Schachtelung – des Spiels im Spiel im Spiel – wird uns ein Spiegel vorgehalten, einer der zumeist Grenzen aufzeigt und Probleme, aber auch bisher Ungesehenes, Unbedachtes. So vermag die Dimension des Spiels Reflexion in die oft allzu opak und gesetzt erscheinende Kategorie des Kosmopoliten einzuziehen, als einer Vorstellung, von der immer erst noch auszumachen ist, ob wir sie erfüllen, weiter verfolgen, modifizieren, reaktivieren oder lieber verlassen wollen. Kann der Migrant als eine besondere Spielart des Kosmopoliten verstanden werden? Der Migrant in Flusserscher Diktion jedenfalls, der den Vogelzug noch im Namen trägt wie die Freiheit, die uns dieses Bild verkörpert, nimmt ohnehin im wahrsten wie im schrecklichsten Sinne des Wortes – und zwar bar eines Zuhauses – eine „bodenlose“ Vogelperspektive, nämlich in der ungebundenen „Schwebe“ ein. Mit dem Thema wie der Situation der Migranten erhält die Thematik des Kosmopoliten endlich jene merkliche Tuchfühlung mit dem Fremden, die in den bisherigen Konzeptionen des Kosmopoliten genauso oft schmerzlich vermisst wird, wie ein faktisches Zuhause vom Migranten. Die Vorstellung des Kosmopoliten gehört insofern begrifflich eher zu den ‚Stubenhockern‘ und müsste offenbar tüchtig in solchen Weisen aufgewirbelt werden, die in einem offenbar fälschlicher und doch sprechender Weise Alexander von Humboldt zugesprochenem Bonmot kritisch als Gefährdung zu bedenken weiß, dass jene Weltanschauung zurecht als die gefährlichste angesehen werden kann, die die Welt nicht kennt. Insofern ist mit einem modernen Verständnis vom Kosmopoliten auch in besonderer Weise Anspruch auf Erfahrung zu erheben, die wir nach Bernhard Waldenfels selbst schon als eine genuine, unmöglich-mögliche Erfahrung mit dem Fremden verstehen dürfen. Der Weltbürger als weltgewandtes autonomes Subjekt, wie es uns das Zeitalter der Aufklärung noch vorzustellen vermag, ist in zeitgenössischer Perspektive eher als fragiles anzunehmen, das nicht nur durch Aktivität, sondern auch ebenso durch Passivität gekennzeichnet ist. Was könnte solch eine angenommene Basis an unseren Blicken auf Welt, uns selbst und vor allem auf die Anderen, die Fremden, die anderen, fremden Weltbürger und Weltbürgerinnen verändern? Inwiefern wäre damit eine Dimension der kantischen „erweiterten Denkungsart“ angedacht, die uns nicht nur jederzeit an die Stelle eines Andern denken, sondern vielleicht auch fühlen lässt? Und doch bergen auch die passiven Momente Problematisches, denn nicht nur von Anbeginn der Welttheater-Metapher, sondern auch im akuten politischen Befinden ist die Vorstellung der „Weltmarionette“ eher nah als fern. An dieser Stelle verknüpft sich der Welttheater-Kosmopoliten-Diskurs auch mit dem der Autonomie, denn die hier mit ihr verbundene Dimension des Spiels erweist sich als konstitutiv ambigue. Erfahren wir uns nur als abhängige Spielerpuppen an den mehr oder minder seidenen Fäden des kontingenten Weltgeschehens und einer Geschichte, die über uns hinwegrollend nichts wissen will von unserer Autonomie, – oder, die sich wieder anders herum betrachtet, eben gerade dort in der Welt und im Spiel in freier Wahl, kreativer Kombinatorik oder Spontaneität immer erst entfaltet? Uns immer wieder auch als Akteure und nicht bloß Determinierte auf der Weltbühne zu begreifen, ist daher Verantwortung wie Aufgabe. Sie vollzieht sich offenkundig im Spannungsgefüge von Freiheit und Bedingtheit.

Die Figur des Zuschauers und mehr noch seine Rolle bleiben so – wie übrigens ebenso die Indifferenz – ambivalent. Wir benötigen Abstand, um etwas beurteilen zu können, jenes Urteilen, um das es Kant wie Arendt als politischer Denkerin im Besonderen geht. Doch als Dauerzustand oder Haltung wird sowohl das Zuschauerdasein wie die Indifferenz zum Problem – und zwar zu einem der ‚Weltflucht‘. Von hierher betrachtet wird deutlich, dass wir dauerhaft auf kritische Reflexion angewiesen sind und uns längere Ausfälle von Gedankenlosigkeit – bei aller Alltäglichkeit derselben – schwerlich leisten können.

Der Kosmos des Kosmopoliten (dritte Umrundung)[5]

Der Kosmopolitismus gehört zu einer der Ideen, was wir als Menschen auf diesem Planeten, auf dieser Welt sein können oder sogar müssten bzw. sollten – und gehört daher einerseits zu einer unserer alten, geradezu angestammten Vorstellungen von Bildung, andererseits wird der Kosmopolitismus jedoch auch oft als Konzept kritisiert. Einige Gründe oder Vorbehalte könnten sein, dass es sich um eine universelle Idee handelt, die die Unterschiede, die zum Beispiel für das Denken des Interkulturellen wie der Interkulturalität notwendig und gegeben sind, nicht ausreichend berücksichtigt, oder dass es sich um ein europäisches Konzept ohne kritische Selbstreflexion und damit um einen unreflektierten Eurozentrismus handelt, der politisch und philosophisch in Frage gestellt werden sollte, oder dass der Kosmopolitismus selbst ein unter der Maske der Universalität verborgenes politisches Konzept ist. – Es gibt viele Gründe für Kritik.

Die weiteren Überlegungen folgen auch dem Gedanken der Kritik, aber in einem anderen Sinn: Kritik wird hier als ein Konzept im Anschluss an das aufklärerische 18. Jahrhundert verstanden, dessen Kritikverständnis immer negative als auch positive Aspekte umfasst. Und es sei schon hier vorausschauend darauf hingewiesen, dass der Begriff des Kosmopolitismus‘ im europäischen Kontext Kritik an sich auf produktive Weise enthält, – so dass der Gedanke der Kritik dem Kosmopolitismus zugleich inhärent ist.

Es ist daher also nicht notwendig, nur ein Europaskeptiker zu sein (in all der großen Vielfalt der verschiedenen Formen von Europaskepsis). Die Spur des Kritischen erlaubt es, dem europäischen Gedanken der Weltbürger und des Weltbürgertums und der Weltbürgerlichkeit auf so selbstkritische wie selbstbewusste Weise zu folgen.[6] Der genitivus objectivus und subjectivus einer Kritik des Kosmopolitismus‘ lässt sich eben auf zweierlei Weise vorstellen, einerseits als Kritik am Kosmopolitismus selbst, vor allem aber andererseits als kritischer Reflex auf die bestehende Welt mit ihren Weltbegebenheiten im Spiegel einer erhofften Weltbürgerlichkeit.

Die hier anberaumte Revision des europäischen Kosmopolitismus beginnt mit Kant, der in diesem Zusammenhang zu Unrecht einer der am meisten kritisierten Denker ist.[7] Danach wird die Untersuchung sich kurz mit Hannah Arendt befassen, die speziell an Kants Position gearbeitet hat,[8] bevor der Blick auf Jacques Derrida fällt, der über beide nachdachte und die Idee des Kosmopolitismus‘ als eine Art „Weltoffenheit“, als „mondialisation“, als ein „Welt-weit-Werden“ in seinem Vortrag über die „université sans conditions“ – „die unbedingte Universität“ darlegt.[9]

Weltbürger sein

In Kants Spätwerk über den Ewigen Frieden. Eine philosophische Skizze von 1795/96,[10] lassen sich einige Ideen finden, die nicht nur die modernen Vorstellungen von globalen Verbindungen und Kooperationen – kurz Völkerbünden vorwegnehmen, wie sie dann erst im 20. Jahrhundert z.B. durch die Vereinten Nationen verwirklicht wurden, sondern auch grundlegende Reflexionen und Gedanken, die auf solchen Zusammenschlüssen basieren und gleichzeitig in der Idee der Weltbürgerschaft und der Weltbürger gründen.[11] Diese Gedanken sind eng mit Kants Konzept des sensus communis, des gesunden Menschenverstandes und seiner Vorstellung von einer gleichsam ‚geöffneten, ‚geweiteten‘ Art des Denkens oder sozusagen einer ‚offenen Haltung‘ verbunden, der „erweiterten Denkungsart“, die er zwei Jahre später in seiner dritten Kritik ausarbeiten wird, der Kritik der Urteilskraft von 1798.[12]

Doch zunächst sei die Darstellung der Weltbürgerschaft im Ewigen Frieden betrachtet, wo Kant ironischerweise den „ewigen Frieden“ von unserer letzten Ruhe auf dem Friedhof unterscheidet, um zu zeigen, dass der Anspruch auf ewigen Frieden ein realistisches Bedürfnis für uns in unserer Welt ist, wenn wir zusammenleben wollen – und zwar gut und für eine lange Zeit. Nur ein friedliches Miteinander könnte uns garantieren, dass wir uns auf bestmögliche Weise entwickeln können – als Individuen wie auch als Gesellschaften. – Ansonsten könnte uns eigentlich nur ein Kirchhof dauerhaften Frieden verheißen. D.h. diese Vorstellung eines friedlichen Zusammenlebens oder mindestens einer Koexistenz hat unmittelbaren Bezug und auch Auswirkungen auf unsere Entwicklung bzw. auch Fortentwicklung und Bildungsmöglichkeiten. Friedfertigkeit ist unerlässlich für menschlichen Fortschritt, den Kant nicht technologisch, sondern als einen Zugewinn in Menschlichkeit versteht, in der noch jene Herzensbildung anklingt, die im 18. Jahrhundert vielen Denkern wichtig ist.

Kant selbst ist sich des gravierenden Unterschieds bzw. einer tiefen Kluft zwischen der Idee der Weltbürgerschaft und der realen Politik in der Welt bewusst, aber diese Spannung zwischen beiden ist zumindest eine produktive für ihn, weil es eine kritische Spannung ist: der eine Gedanke könnte den anderen temperieren, mäßigen und vielleicht auch gemäßigt vermitteln.

Darüber hinaus bietet Kant die Idee einer Verbindung von vereinten eigenständigen Staaten an – die nach seinem Vorbild einige Jahrhunderte später umgesetzt wird –, aber die Idee eines einzigen Weltstaates wird hingegen strikt negiert, weil sie eine Art potentielle Totalität wäre, ein Totalitarismus, der nicht in Kants Sinn ist, weil er die Souveränität von einzelnen Ländern und Personen per se untergräbt. Denn für ihn wird ein Staat nach dem Vorbild der einzelnen Person aufgebaut – autonom und souverän. Die Weltbürgerschaft ist daher eine differenzierte Konzeption, ein Konzept, das Unterschiede in sich selbst trägt – kurz ein Differenzkonzept. Und das muss sie auch in Korrespondenz zum Weltbegriff sein.

Die Welt, in der wir sind, ist notwendigerweise vielfältig und divers. Das ist es, womit wir uns auseinandersetzen müssen – und genau für diese Weltpluralität ist Kants Konzept eines Völkerbundes in zwei Perspektiven gegeben und geboten: sozial – politisch und persönlich.

Sein dritter „Definitivartikel“ aus dem Ewigen Frieden, der sich auf das „Weltbürgerrecht“ bezieht und sich in einem „allgemeinen“ Gesetz der „Hospitalität“ erschließt – oft zitiert und kritisiert bis heute – gibt weiteren Aufschluss darüber, was unter Weltoffenheit im kantischen Sinn verstanden werden könnte. Dort definiert er: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“.[13]

Auch wenn Kant gerade in diesem Punkt Kritik auf sich gezogen hat, – denn ein ‚Hospitalitätsgesetz‘ ist noch keine ‚Gastfreundschaft‘ und kein „Gastrecht“ – , muss darauf hingewiesen werden, dass Kant beide Arten von Recht kennt, sie beide behandelt, ansetzt und sich auch der Differenz dazwischen bewusst und daran interessiert ist, die Möglichkeiten und Grenzen beider herauszufinden und zu definieren. Aber sie sind bei ihm signifikant unterschieden – und es gibt Gründe dafür. Es gibt also auch ein „Gastrecht“ bei Kant, aber es bildet nicht die Grundlage für die Idee des Kosmopoliten.

Kants Vorstellung für den Weltbürger, wie sie im Ewigen Frieden gegeben wird, ist ein Minimalkonzept – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es spiegelt streng die Mindeststandards dessen wider, was wir notwendigerweise brauchen, um in der Welt friedlich zusammenzuleben. Dafür ist das ‚Gesetz der Hospitaltität‘ eine Art Gesetz für Besucher, die vor dem Hintergrund dieses „Besuchsrechts“ als Weltbürger in ihrer Weltbürgerschaft erst ansichtig werden, doch es ist kein „Gastrecht“ oder „Gesetz der Gastfreundschaft“, das für Kant exklusiver, anspruchsvoller, problematischer und darum weniger geeignet ist, eine Basis für die Idee der Weltbürgerschaft als eine Form des Miteinanders in der Welt zu schaffen. Und der Weltphilosoph aus Königsberg, der nicht reiste, begründet das.

Zuallererst reflektiert Kant die Welt, die Erde als eine „gerundete“. Welt bedeutet zugleich den begrenzten, aber gleichsam in alle möglichen Richtungen geöffneten Raum, weil er rund ist. Der erste Teil dieses Gedankens könnte in modernem Verständnis als Spiegelbild der beschränkten und begrenzten ökologischen Ressourcen verstanden werden, der zweite Teil scheint auf einen anthropologischen Gedanke zu deuten, der uns als das „nicht festgestellte Tier“ – wie später bei Nietzsche – evoziert, das frei ist und sich überall auf der Welt bewegen kann, mit Ausnahme all jener unwirtlichen Teile allerdings, wo wir nicht leben und existieren können – wie die Wüsten und Ozeane. Hier wird Kants Übertragung der Hospitalität als ‚Wirtbarkeit‘ bzw. hier ‚Unwirtlichkeit‘ sprechend. Die ohnehin begrenzte Erde, ihre Oberfläche, wird also durch all diese Räume, in denen Menschen nicht leben können, noch mehr eingeschränkt.[14] Dies, die Idee der räumlichen Beschränkung, bildet den Hintergrund für Kants Gedanken über das Gesetz des Weltbürgers. Wenn die Welt so begrenzt, aber im Allgemeinen offen ist – und das ist ein existenzieller Gedanke bei Kant – kann niemand beanspruchen, an einem besonderen Ort auf diesem Erdenrund geboren zu sein und daher mehr Recht zu haben, hier zu sein und zu bleiben als jeder Andere. Wenn das unsere grundgegebenen Bedingungen sind, dann sollte genau dies auch der Ausgangspunkt für weitere Überlegungen sein. Nicht nur die Idee dieser existenziellen Kontingenz, die „Geworfenheit“, ist hier bei Kant vorweggenommen, sondern es findet sich auch eine Basis für Kolonialkritik. Es scheint, dass Kant einen sensiblen Blick auf den Beginn der Asymmetrie zwischen dem globalen Norden und Süden auf der Erde (was wir heute das "Nord-Südgefälle" nennen) als einem künstlichen Ungleichgewicht hat, das eine globale Asymmetrie von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit provoziert. Dies ist der Rahmen, in dem es mehr als vernünftig erscheint, darüber nachzudenken, wie wir zusammenleben könnten. – Diese Gleichheit von Menschen in ihrer Beziehung zu dem Ort, an dem sie kontingent geboren wurden und ebenso kontingent leben, und auch die potenziell gegebene Ungerechtigkeit – sei es aufgrund natürlicher Vorkommen von Ressourcen, unwirtlichen Landstrichen oder als Folge historischer oder politisch ökonomisch-ökologischer Verhältnisse – zwischen Ländern und Kontinenten – gilt es in seinem Entwurf der Weltbürgerlichkeit zu reflektieren, wie wir unter diesen begrenzten Bedingungen in dieser begrenzten Welt friedlich zusammenleben wollen, von der wir auch nicht fliehen können. Kant fragt nach einer möglichen friedlichen Koexistenz von uns als Menschen auf der Welt. Auch die Aspekte der „Endlichkeit“ – die Grenzen des Lebens für den Menschen, ihre Fragilität und Sterblichkeit – werden als ein Aspekt im Sinne der Nachhaltigkeit berührt, denn diese Frage, wie wir mit der Welt und wie wir miteinander umgehen, hat genau immer jetzt globale Auswirkungen und damit auch solche für die nächsten Generationen.

Unter diesen Bedingungen sollte es auch nach Kants Meinung möglich sein, dass wir einander das „Besuchsrecht“ gewähren und dies letztlich als selbstverständlich ansehen.[15] Das Weltbürgergesetz der Hospitalität gilt für alle Menschen auf der Erde, so wie sie sind, – sofern ihr Verhalten friedlich ist. Weiterhin gilt für Kant, dass Besucher nicht abgelehnt werden dürfen, wenn ihnen Gefahr an Leib und Leben drohen. Angesichts der unerträglichen Dauerzustände von Migrantenlagern in Europa, in denen Menschen ohne zeitliche Perspektive abgestellt, ‚geparkt‘ werden, wäre es erforderlich, die ‚Schädigungen der Seele‘ mit in diese Aufzählung zu nehmen.

Kant denkt über „Hospitalität“ als Grundvoraussetzung für die Verwirklichung einer Weltbürgerschaft nach. Der deutsche, ein wenig altmodische Begriff dafür ist – wie zuvor schon erwähnt: „Wirtlich“- oder „Wirtbarkeit“, auch Termini, die zumindest zum Radius von Gastfreundschaft gehören. Die Kneipe eines Gastwirts – um in Kants Bild zu bleiben – könnte ein so gastfreundlicher, eben „wirtlicher“ Ort sein oder nicht –[16] genauso wie unser Planet Erde, der auch ein gastfreundlicher Ort sein kann – oder nicht. – Es hängt von uns ab.

Weitere Rechte bedürfen aus Kants Sicht weiterer Kommunikation und müssen gemeinsam behandelt und miteinander ausgehandelt werden. Und dies bedeutet keine Verhandlungen über die die ‚Besucher‘, sondern mit den Besuchern respektive anderen Weltbürgern. Das „Gesetz der Hospitalität“ könnte in dieser Hinsicht der Beginn eines späteren „Gastrechts“ sein. Wenn jemand zu bleiben beabsichtigt, würden mehr als die Minimalstandards benötigt, wobei Kant diesen Prozess ausdrücklich als wechselseitigen begreift.[17]

Beim Nachdenken über dieses ‚Weltbürgergesetz‘ kritisiert Kant die Praxis der Kolonialisierung zu seiner Zeit, die kaum rücksichtsloser und grausamer sein könnte, und so entdeckt er schon als Zeitgenosse das 18. Jahrhundert als ein zweideutiges, in dem wir unsere Wurzeln für Menschenrechte und Menschenwürde, für die er selbst die Maßgaben bis heute liefert, ebenso finden wie aber auch verschiedene Quellen des Rassismus‘. Damit trifft er avant la lettre einen neuralgischen Punkt der jüngsten kosmopolitischen Debatte, aber auch der philosophischen Diskussionen über Alterität und Fremdheit, nämlich das Vorurteil, dass die kosmopolitische Position immer eine imperiale Haltung gegenüber Anderen in der Welt und damit zumindest selbst eine problematische im Wortsinn ‚postkoloniale‘ Position ist. Das ist sie mitnichten – zumindest nicht bei Kant. Der Philosoph des „Zeitalters der Aufklärung“ reflektiert die Tatsache, dass wir alle in der Welt mit dem gleichen Recht leben, hier zu sein, weil die „Oberfläche der Erde“ […] „gemeinschaftliche[r] Besitz“ ist,[18] und wir sollten diese Grundbedingung für unsere Menschheit nicht nur als positives Recht oder nur als Legalität missverstehen und darauf reduzieren. Das ‚Hospitalitätsgesetz‘ als „Weltbürgerrecht“ ist mehr als ein Gesetz und Recht, es ist eine Form für unser Selbstverständnis als würdevolle Menschen. Aber dass Kant den Begriff „Recht“ verwendet, hat ebenfalls Gründe: Als Recht ist es doch mehr als eine Regel, es gehört zu den Prinzipien, den Prinzipien der Vernunft, aber als Recht steht es für die damit geforderte Unabdingbarkeit des Anspruchs, den wir darauf als Recht erheben können. Allein schon unsere Zerbrechlichkeit als Menschen, unsere Fragilität bezeugt, dass ein Recht wie dieses notwendig ist. Wenn wir als Menschen in dieser begrenzten Welt leben wollen, gehört es zu unserer Würde als Menschen auf dieser Welt, jedem unter der Voraussetzung der Friedfertigkeit dieses „Besuchsrecht“ zu garantieren. Als solche, wie wir sind, zeigt uns dieses Gesetz in unserer Fähigkeit, uns überall zu bewegen und Weltbürger zu sein – Bürger und Bürgerinnen der Welt. Der erste Aspekt gehört zu unserer Flexibilität und Freiheit, der zweite zur Bildung und der Urteilsfähigkeit. Und deshalb brauchen wir eine Reflexion, die nicht nur in Gesetzen und Normen zum Ausdruck kommt. Aber die hier auch gegebene Rechtsform zeigt, dass diese Vorstellung von Besuchsrecht als das erste Gesetz für uns als Weltbürger die Dignität eines wirklichen Gesetzes hat und zugleich doch mehr ist als dies. Es ist der Anspruch, unter dem wir selbst verstanden werden wollen und uns selbst verstehen – als Weltbürger.

Paradoxerweise ist gerade dieses reduzierte Minimalkonzept des bloßen Besuchsrechts in der Lage, die Grundlage für Vertrauen und vielleicht sogar eine Kultur des Vertrauens zu schaffen, die offensichtlich konstitutiv für die Möglichkeit von Frieden und Freiheit ist. Dieses Vertrauen steht im Gegensatz zu einer Kultur des Misstrauens und eines Misstrauens, das Kant in kritischen Beispielen von abstoßenden Kriegen (‚Abschreckungskriege‘) und Aufrüstungskriegen thematisiert. Vertrauen und eine solche minimale Basis sind für die Idee von Frieden und Freiheit notwendig. Auch für die Souveränität der verschiedenen Länder und die Freiheit und Autonomie der einzelnen Person muss die Grundlage seiner Meinung nach minimal sein, weil sie so reduziert zumindest weniger exklusiv als anspruchsvollere Vorstellungen ist. In dieser Hinsicht erscheint Kants Konzept, das auf der einen Seite zunächst zu idealistisch und andererseits zu begrenzt zu sein schien, am Ende realistischer als andere Vorstellungen.[19]

Der Weltbürger wird über dieses Besuchsrecht bei Kant in zwei Weisen beleuchtet, in einer intellektuellen und einer im Gefühl gegründeten. Im Ewigen Frieden gibt Kant einen Hinweis auf die emotionale Verbindung zwischen uns als realen Weltbürgern und damit einer Hoffnung auf einen Fortschritt in Menschlichkeit Ausdruck: Wenn es irgendwo auf der Welt Ungerechtigkeit, eine „Rechtsverletzung“ an diesem Weltbürgerrecht gibt, könnte sie an jedem anderen Ort der Welt „gefühlt“ werden.[20] Kant stellt so in Aussicht, dass wir eingedenk einer Entwicklung im Humanitären dahin kommen könnten und letztlich auch sollten, dass wir jeden Verstoß gegen diese Weltbürgerschaft empfinden, und damit auch jede Gewalt oder Ungerechtigkeit gegen Andere als ein Vergehen gegen die Menschlichkeit empfinden könnten. Zumindest stellt er klar heraus, dass es uns in unserer Menschlichkeit und Menschwürde gut anstünde. Als Philosoph des 18. Jahrhunderts vertraut er darauf, dass eine Entwicklung in Zivilisation und Menschlichkeit und auch Menschenrechtsbildung möglich ist. Wir sollten ihm zumindest in diesem Punkt folgen.

Weltbürger werden

Doch nicht nur im Ewigen Frieden, auch in Kants dritter Kritik, der Kritik der Urteilskraft von 1798, lassen sich weitere Reflexionen zum Verständnis des Weltbürgers finden. Ein Gentleman-Denker – ein „Mann von Welt“, den ich zu einem „Menschen von der Welt“ modernisieren möchte, – ist jemand, der in der Lage ist, über seine eigene Person hinaus zu denken. Bei dieser Fähigkeit und Bereitschaft[21] eigene Borniertheiten hinter sich zu lassen und den eigenen Horizont zu erweitern, in dem man zumindest innerlich zu neuen aufbricht, handelt es sich um die bereits erwähnte „erweiterte Denkungsart“. Dies ist Kants zweite Maxime des gesunden Menschenverstandes,[22] des sensus communis, des common sense, die der Königsberger Weltphilosoph auch als Maxime der Urteilskraft bestimmt. Das bedeutet konkret, dass eine Person in der Potentialität ihrer Weltbürgerlichkeit – also letztlich jeder – in der Lage ist, über sich selbst hinaus zu gehen, die eigenen Grenzen und eigene Voreingenommenheit in Form von Vorurteilen zu überwinden, zwischen denen Andere nach Kant „wie eingeklammert“ sind.[23] Diese kritische Selbstreflexion und Selbstaufklärung, die hiermit bezeichnet wird, lässt sich durch das Prozedere des erweiterten Denkens erklären. Unter der Voraussetzung der ersten Maxime des gesunden Menschenverstandes, dass wir selbst denken sollen, die auf die frühaufklärerische philosophische Tradition des „Selbstdenkens“ zurückgeht,[24] müssen wir unsere Urteile mit anderen möglichen Urteilen konfrontieren. Es ist wie ein ‚Kino im Kopf‘ oder ein ‚Theater der Pluralität‘, dem wir unseren Geist und unsere Gedanken öffnen. So könnte die durch Urteilskraft basierte Kritik in Kants Konzeption verstanden werden. Aufklärung impliziert Selbstaufklärung und die bedeutet eben einen „Ausgang“, als Bewegung ein ‚Herausgehen‘ aus alten, vielleicht lieb gewordenen Überzeugungen und Vorurteilen. Nach diesem kritischen Verfahren, in dem die eigenen Urteile mit denen Anderer ausgetauscht und konfrontiert werden, erreichen wir einen „allgemeinen Standpunkt“. Als Subjekte sind wir hierbei involviert – wie in jedem ästhetisch-reflektierenden Urteil, aber dennoch ist es nicht nur ein bloß subjektives Urteil, das allein mit individuellen, privaten Interessen verbunden ist, sondern es findet sich als ästhetisch-reflektierendes Urteil, dem das „interesselose Wohlgefallen“ konstitutiv ist und als ein Urteil der erweiterten Denkungsart gerade jenseits solcher Privatinteressen vielmehr auf den und die Anderen hin orientiert und sogar auf das Fremde ausgerichtet als ein interpersonales, differenziertes und differenzierendes Geschehen vor. Dies ist der intellektuelle Teil von Kants Darstellung des Weltbürgers, der zugleich im Gefühl des Subjekts wurzelt, in dem jedes ästhetisch-reflektierende Urteil begründet ist, nämlich in den Gefühlen von „Lust“ und „Unlust“. Für Hannah Arendt ist sich Kant ihrer Meinung nach des nicht-subjektiven Teils im „interesselosen Wohlgefallen“[25] des ästhetisch-reflektierenden Urteils bewusst und sie kommentiert die „erweiterte Denkungsart“ als „das nicht-subjektive Element im nicht-objektiven Sinn“, was für sie gleichbedeutend mit „Intersubjektivität“ ist.[26]

Weltbürger/innen weltweit

Dieses ästhetisch-reflektierende Urteil beruht bei Kant auf beidem: der Autonomie des Subjekts, das selbst denkt, und gleichzeitig in der Intersubjektivität und Interpersonalität des gesunden Menschenverstandes, des sensus communis, der für die erweiterte Denkungsart grundlegend ist. Kant reflektiert den deutschen Begriff dafür kritisch: der gesunde Menschenverstand scheint nur als „Gemeinsinn“ – also wie ein bloß ‚gemeiner Sinn‘ vorgestellt, doch trotz dieser Definition ist der sensus communis für Kant ein besonders ausgeklügeltes Konzept: Es bedeutet unsere Fähigkeit, einen Anspruch darauf zu erheben, als Menschen miteinander verbunden zu sein, eine Art menschliches Miteinander.[27] Es ist die Idee einer potentiellen Gemeinsamkeit und damit eine veritable Basis für Vertrauen und Zwischenmenschlichkeit. Kant geht mit dieser vorsichtigen Distanzierung, die sich in einer Idee und einem bloßen Anspruch abzeichnet, nicht in die Falle, die der Phänomenologe Bernhard Waldenfels zurecht vermeiden will, nämlich bereits immer schon von einer Gemeinsamkeit als Basis auszugehen, was nicht gerechtfertigt wäre, eben weil die irritierende Fremdheit unserer Welt und uns selbst ebenso angehört. Aber Kants Reflexion weist auf die Vernünftigkeit und Notwendigkeit eines solchen Gedankens hin, dass wir zusammengehören könnten. Dies ist schließlich das Ansinnen des ästhetisch-reflektierenden Urteils in seiner subjektiven Allgemeingültigkeit, dass sich jeder meinem Standpunkt und meinem Urteil in einer Art Weltbürgerlichkeit anschließen könnte – wie es gerade das erweiterte Denken vorführt und plausibilisiert.[28]

Dieses von Kant vorgestellte und von Arendt weiterreflektierte kritische kosmopolitische Konzept gründet sich auf Pluralität, Zwischenmenschlichkeit und einer Art Selbstkritik und Korrektur, die sogar mögliche differenzierte Urteile Anderer in ihrem eigenen Wert und ihrer Gültigkeit in sich zu begreifen vermag. Dank der erweiterten Denkungsart ist der Weltbürger in der Lage, sich mit ihnen zu konfrontieren.

Das Weltbürgerliche als stete Erinnerung an unsere Menschlichkeit, die eigene und die Anderer, und als Überwindung unserer Borniertheit, während wir in der kritischen Urteilsbildung nach ästhetisch-reflektierender façon unsere eigenen Urteile auf kritische Weise erweitern, gehört offenbar Kants mundus des Weltbürgers an.

Hannah Arendt und Jacques Derrida folgen ihm in diesem Punkt, aber auf je unterschiedliche Weise. Arendt nimmt seinen Gedanken des sensus communis auf, um ihren Anspruch auf Pluralität in einer politischen Perspektive zu betonen, die jederzeit daran erinnert, dass wir alle in einer Welt zusammenleben, die wir teilen müssen – allesamt ausgestattet mit dem gleichen Recht, hier zu sein. Und unsere Fähigkeit zu urteilen – nach dem kantischen Modell des ästhetisch-reflektierenden Urteils – bereitet uns bestens darauf vor. Die kantische Idee unserer erweiterten Denkungsart garantiert unsere Weltoffenheit, die sogenannte „Weltlichkeit“ im Gegensatz zur problematischen „Weltlosigkeit“, die als Element der „Gedankenlosigkeit“ im schlimmsten, aber nicht seltenen Fall eine „Banalität des Bösen“ zu initiieren vermag.[29]

Und in Jacques Derridas Interpretation des kantischen Konzepts des ästhetischen Urteils ist es eine permanente Differenzierungsfähigkeit, die sich durch das kritische Denken und Entscheiden selbst fortschreibend erweitert. Es ist eine Parallele zur Bewegung einer „Mondialisierung“, der „mondialisation“ oder letztlich diese selbst. Es ist eine Bewegung der Welt, die für ihn zugleich vor allem eine Aufgabe, vielleicht sogar eine Mission für die Geisteswissenschaften bedeutet. Der Horizont für die humanities ist – wörtlich gedacht – die universitas, die Universität als Institution und Ort offener Fragen von Weltbürgern und für Weltbürger.

Mithilfe von und im Anschluss an Derrida könnte auch eine Lücke des Kosmopoliten-Diskurses in kritischer Absicht endlich angegangen werden. So wie Derrida die „Freundin“ als gravierendes und unhaltbares Defizit der Philosophie ausgemacht hat, müsste im Rahmen eines Kosmopolitismus‘ auch die „Weltbürgerin“ noch weitaus stärker entdeckt werden, denn es ist mit einem Blick auf die Gendergerechtigkeit ein erheblicher Unterschied, ob jemand als Weltbürger oder als Weltbürgerin das Licht der Welt erblickt, die Wahrscheinlichkeit an Bildung nicht oder nur geringfügig teilhaben zu können, verändert sich sofort und selbst hierzulande erhöht sich die Aussicht, im Alter arm zu sein, als Frau und allzumal als Alleinerziehende um ein Vielfaches, gerade auch für Gebildete.

Es wäre zu wünschen, dass sich Kants Prognose, dass solche Ungerechtigkeit auch von Anderen an anderen Enden der Erde gefühlt und kritisiert wird, bewahrheitet und damit eine bessere Basis für eine gemeinsam friedlich geteilte Welt geschaffen wird.

Die Erde ist rund wie der Kopf, und wir können uns auf der Welt bewegen wie in unseren Köpfen die Richtung ändern. Wir teilen die Welt, indem wir ihre Grenzen in sozialer Hinsicht erweitern und unsere eigene Voreingenommenheit überwinden – daher können wir mit Kant, Arendt und Derrida realistischerweise annehmen, dass gerade die im kritischen Gefühl wie im kritischen Gedanken verankerte uns allen offenstehende Weltbürgerlichkeit, uns hoffen lässt, friedlich zusammenzuleben.

[Redaktion:] Die Kunstwerke in diesem Artikel stammen von der Schweizer
Malerin, Bildhauerin und Architektin Sophie Taeuber-Arp (1889-1943)

Anmerkungen


[1]    Die Gedanken dieses Beitrages sind im Verlauf einer zusammen mit Soraya Nour Sckell entwickelten und gehaltenen Veranstaltungs- und Forschungsreihe am Collège international de philosophie in Paris in Kooperation mit dem IiAphR entstanden und gehen aber insbesondere auf zwei Vorträge zurück. Der eine wurde im Wintersemester 2017/18 auf dem internationalen Kongress „Cosmos“ an der Universität Lissabon gehalten und der andere im Kontext von „Philosophie kontrovers“ an der Universität zu Köln im Sommersemester 2018.

[2]    Vilém Flusser mit einem Beitrag in einer Edition zum Kosmopolitismus zum 100. Geburtstag zu beglückwünschen, erschließt sich nicht unmittelbar, zumal sich in seinem Werk auch immer wieder skeptische Seitenbemerkungen finden, gleichzeitig liefern seine Schriften so vielfältig Anlass, das Weltbürgerliche konstruktiv zu bedenken, vor allem mit seinen Ideen zur „Freiheit des Migranten“ als „Einsprüche[n] gegen den Nationalismus“, dass eine gegenwärtige Auseinandersetzung mit Weltbürgertum gar nicht umhin kann, dies für einen modernen Entwurf zu berücksichtigen. So sei im Folgenden im Sinne einer kritischen Würdigung das Weltbürgersein mit und gegen Flusser reflektiert. Hans Blumenberg fällt diesbezüglich nicht nur in den Sinn, weil er aktuell mit einem schönen Kunstrundgang in Münster bedacht wird, worunter sich vor allem eine treffliche Arbeit von Marcel Odenbach (aus dem Jahr 2011) im Westfälischen Kunstverein befindet, die zur Thematik passt und Migranten im Louvre in Betrachtung eben eines „Schiffbruchs mit Zuschauer“ zeigt und darüber den Betrachter ins Nachdenken bringt, sondern auch, weil angesichts unserer wenig weltorientierten und weltoffenen Diskurse der Gegenwart, die Arbeit, die wir daran und an unserer Wirklichkeit haben, so deutlich wird.

[3]    Siehe hierzu auch Flussers Text: „Wiedervereinigung oder Vernetzung“. In: Ders.: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Hamburg 2013. S. 85-88.

[4]    Siehe auch die Eingangsbemerkung zu dieser Ausgabe des Magazins tà katoptrizómena und Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigmen einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1979.

[5]    Den Gedanken dieses dritten Teils liegen Überlegungen aus dem Artikel: „Cosmopolitan Critique – Being a World Citizen with Kant, Arendt and Derrida”. In: Cosmos. Hrsg. v. Soraya Nour Sckell (erscheint demnächst) zugrunde.

[6]    Die Idee der Kritik und Selbstkritik als Modell für eine Lebensweise findet sich gleich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Position von Christian Thomasius als Gründer der deutschen Frühaufklärung. Siehe hierzu den Artikel von Stefan Heßbrüggen-Walter u. Frauke A. Kurbacher: „Self-Criticism as a Way of Life“. In: John McDowell: Reason and Nature. Vortrag und Kolloquium in Münster 1999. Hrsg. v. Marcus Willaschek. Münster 2000. S. 59-67. [Im Folgenden: Heßbrüggen-Walter/Kurbacher: Self-Criticism.]

[7]    Siehe zu dieser Kant-Exegese auch die ausführlichen Artikel: Frauke A. Kurbacher: „Zweckfreiheit und Weltbezug. Zum Gedanken der Weltbürgerlichkeit bei Kant“. In: www.theomag.de. Hrsg. v. Andreas Mertin, Karin Wendt u. Horst Schwebel. Heft 65, Juni 2010. Und: „Zwischen ‚Verwurzelung‘ und ‚Bodenlosigkeit‘. Gedanken zu einer ‚Philosophie der Migration‘“. In: Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift. KWZ, 2. Jg., Heft 1, S. 21-34, Berlin 2018. Sowie: „Zwischen Bedingung und Ermöglichungsgrund: Die Grenze? Philosophisch kritische Überlegungen zu einem grenzwertigen Phänomen“. In: Grenzen. Annäherungen an einen transdisziplinären Gegenstand. Hrsg. v. Barbara Kuhn u. Ursula Winter. Würzburg 2019. S. 53-80.

[8]    Siehe Hannah Arendts spätes Werk Vom Leben des Geistes. Bd.: Das Denken. Bd. 2: Das Wollen. Hrsg. v. Mary McCarthy. München 1998. Und dies.: Judging. In: Hannah Arendt: The Life of the Mind. Vol1: Thinking. Vol2: Willing. One Volume Edition. San Diego/New York/London 1978 (1971). S. 255-272. Der Anhang der einbändigen Ausgabe enthält auch Auszüge aus Arendts Vorträgen über Kants Politische Philosophie veröffentlicht unter dem Titel: Judging. [Im Folgenden: Arendt: Judging.] Und die deutsche Version: Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. Hrsg. v. Ronald Beiner. Übersetzt v. Ursula Ludz. München 1998. [Im Folgenden: Arendt: Urteilen.] Und Ronald Beiners Essay: “Hannah Arendt über das Urteilen“. In: Hannah Arendt: Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Hrsg. v. Ronald Beiner. München (1985) 1998. S. 115-197.

[9]    Jacques Derrida: Die unbedingte Universität. Übersetzt v. Stefan Lorenzer. Frankfurt a. M. 2001. S. 11. Es erscheint hierbei bemerkenswert und in kritischer Absicht zu geschehen, dass Derrida die Idee der Weltoffenheit mit dem Anspruch einer unbeschränkten Universität in Zeiten der großen beinah globalen Reformen der Universitätsstruktur zusammenbringt. Derrida reflektiert die alte Idee der Universität als universitas in beiderlei Sinn: eine Universität, die sowohl die ganze Welt verbinden könnte als auch ein ganzes Universum in einem geographischeren, räumlicheren Sinn – eben weltumspannend.

[10]   Siehe Immanuel Kant: „Zum ewigen Frieden. Eine philosophische Skizze“. In: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Vol. I u. Ⅱ. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1977. [Künftig zitiert: Kant: Frieden.]

[11]   Zu dieser Kant-Exegese bzgl. des Weltbürgergedankens siehe auch ausführlich: Frauke A. Kurbacher: „Zwischen Bedingung und Ermöglichungsgrund: Die Grenze? Philosophisch kritische Überlegungen zu einem grenzwertigen Phänomen“. In: Grenzen. Annäherungen an einen transdisziplinären Gegenstand. Hrsg. v. Barbara Kuhn u. Ursula Winter. Würzburg 2019. S. 53-80.

[12]   Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974. Hier: S. 57. [Künftig zitiert: Kant: Kritik der Urteilskraft.]

[13]   Kant: Frieden. S. 213. BA 40.

[14]   Auch daher ist es so problematisch, dass wir fruchtbare Teile der Welt in ‚moderne Wüsten‘ verwandeln, wie durch unseren Einsatz von „Glyphosat“ oder Kunststoff oder durch andere Verschmutzungen wie die Co2-Emissionen oder die Gefahren der Radioaktivität, von der unvernünftigen weltklimagefährdenden Rodungspolitik bzgl. der Regenwälder einmal ganz abgesehen. In dieser Hinsicht vergrößern wir auf unvernünftige und unverantwortliche Weise die Orte, an denen weder Menschen noch Tiere oder Pflanzen mehr leben können.

[15]   Dieser kantische Gedanke ist in der Genfer Flüchtlingskonvention noch gegenwärtig.

[16]   Im Vorwort Zum Ewigen Frieden spielt Kant ironisch und überaus launig metaphorisch auf einen Gasthof neben einem Kirch-, sprich Friedhof an, auf dessen Wirtshausschild sich der sprechende Titel „Zum ewigen Frieden“ findet.

[17]   In dieser Hinsicht kann das “Gastrecht“, aber letztlich auch schon das „Besuchsrecht“, weil es überstaatlich ist, eben als ein „Weltbürgerrecht“ auch nicht nur durch einen einzigen Staat bestimmt werden. Gäste wie Besucher müssen sowohl als Teil der Welt als auch als Akteure angesehen werden. Dies ließe sich in mehrfacher Hinsicht als kritischer Hinweis gegenüber gegenwärtiger Politik mit Blick auf die Europäische Union und ihre noch zu geringen Anstrengungen verstehen, im Versuch einen gemeinsamen Umgang mit der Migrationsfrage zu finden. Aber in Kants Sinne wäre es notwendig, in erster Linie mit den Ländern zu sprechen, aus denen die ‚Besucher‘ und ‚Gäste‘ kommen, um die tatsächliche Situation zu händeln und gute Bedingungen für die Zukunft zu erwirken. Er hat eine andere, wechselseitige Dynamik im Sinn, für die zudem noch die historische Verantwortung zu beachten ist, da viele Länder bis heute Spuren ihrer Geschichte der Kolonialisierung tragen. Die einstige Ungerechtigkeit setzt sich also fort und passt auf der einen Seite nicht mit dem aufgeklärten Selbstbild der abendländischen Welt zusammen und auf der anderen Seite bieten wir vielleicht unsere Kultur auch gar nicht genug zur Teilhabe an.

[18]   Kant: Frieden. S. 214. BA 41.

[19]   Wir brauchen zum Beispiel weniger erfüllte Bedingungen und Voraussetzungen für das „Besuchsrecht“ als für das „Gastrecht“.

[20]   Kant: Frieden. S. 216. BA 46.

[21]   Im Kontext der Urteilskraft schimmert noch durch, daß es sich dabei nicht nur um eine Frage der menschlichen Ausstattung handelt, sondern nicht unwesentlich um eine des Willens. Siehe hierzu auch demnächst Frauke A. Kurbacher: „Zur Freiheits- und Willensproblematik bei Jonas und Arendt“ in dem von Kirstin Zeyer herausgegebenen Sammelband zur Aktualität des Augustinischen Freiheitsbegriffs.

[22]   Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft. § 40.

[23]   Ebd.

[24]   In der frühen deutschen Aufklärung hebt dieses Konzept im Bereich der praktischen Philosophie als philosophische Tradition des „Selbstdenkens“, am Anfang des 18. Jahrhunderts mit Christian Thomasius an und hallt bis in Kants Aufsatz über die Aufklärung am Ende dieser Epoche wider. Dieses philosophische Programm ist auch mit dem Begriff des „freien Denkens“ verbunden. Weitere Gedanken hierzu finden sich im Artikel von Heßbrüggen-Walter/Kurbacher: Selbstkritik. Und siehe auch meine „Einführung“ in: Johann Georg Walch: Gedancken vom Philosophischen Naturell. Nachdruck von 1723. Hrsg. v. Frauke A. Kurbacher. Hildesheim/Zürich/New York 2000 und Kay Zenkers Studie: Denkfreiheit Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung. Hamburg 2012. Und für Arendts Interpretation zu Kants Konzept des „Selbstdenkens“ siehe Arendt: Judging. S. 258.

[25]   Arendt: Judging. S. 258 u. 271. Arendt weist sowohl auf das besondere Talent der Urteilskraft nach Kant hin, das Besondere mit dem Allgemeinen zu vermitteln, aber auch auf die Schwierigkeit, die dieser Relation unterliegt, denn nach Kant könnte das Urteil bedeuten, das Besondere zu denken, aber zu denken bedeutet ansonsten normalerweise zu „verallgemeinern“. Angesichts der Fragen der Weltbürgerschaft, die sich mit der konkreten Frage von Migranten konfrontiert sieht, bei denen es sich immer um einzelne, ganz konkrete Menschen handelt, spitzt sich diese Frage praktisch zu. Auch daher es ist notwendig, die Fragen der Weltbürgerschaft und eines dauerhaften Friedens zu diskutieren.

[26]   Siehe Arendt: Judging. S. 266.

[27]   Nach Arendt ist der gesunde Menschenverstand ein Sinn, der uns in eine Gemeinschaft paßt respektive einfügt, wobei dies jedoch nicht nur im Sinne von Anpassung verstanden wird, sondern als bewegtes, vielfältiges und auch kritisches Wechselgeschehen zwischen Einzelnen und Gemeinschaft. Siehe Arendt: Judging. S. 268.

[28]   Vor allem am eigenen „Leib-Körper“ können uns unsere unterschiedlichen Beziehungen zwischen Objekt und Subjekt deutlich werden bis hin zu der für uns damit auch gegebenen Beziehung zur (eigenen) Fremdheit. Siehe Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M. 2006. S. 68ff.

[29]   Siehe hierzu auch meinen Artikel: “The Power of Judging – or How to Distinguish 'Indifference' in Kant and Arendt. Some Critical Notes on the Structure of Activities“. In: Estudos Iberoamericanos. Hrsg. v. Wolfgang Heuer u.a. Porto Alegre, Dezember 2017.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/127/fk18.htm
© Frauke A. Kurbacher, 2020