Sehenden Auges

Das Schwarze Quadrat, eine Notiz und was daraus folgen könnte

Karin Wendt

Hegels Erbe(n) – eine Vorbemerkung

Vieles von dem, was die Kunst der Moderne für die ihr gegenüber stehenden Diskurse einsichtig gemacht hat, hat damit zu tun, dass sie unsere Wahrnehmung sozusagen vom Kopf auf die Füße stellte. Die ästhetische Erfahrung „ist ein ‚eigengesetzliches' Geschehen, dessen Selbstständigkeit gegenüber den nicht-ästhetischen Diskursen impliziert, dass es sich neben ihnen in dem pluralen Gefüge der Vernunft verortet. … Wie und was wir ästhetisch erfahren, hat keinerlei bestreitende oder bejahende Kraft für das, was Gegenstand unseres nicht-ästhetischen Erfahrens und Darstellens ist.“[1] Indem die ästhetische Darstellung die Form dem Inhalt nicht mehr nach- oder unterordnet, wird unser Blick frei für das Sichtbare. Erst durch die „nicht mehr geleistete Integration von Form und Inhalt", schreibt Christoph Menke, bekommt Kunst „einen autonomen Stellenwert".[2] Autonome Kunst nach dem Ende der Kunst als Darstellung eines verstehbaren Gehalts, wie sie Hegel noch für die Romantik definiert hatte, zwingt uns seitdem – nachidealistisch – zu sehen, was ist, und sei es ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund. Darin liegt ihre Souveränität. „Souverän ist die Kunst nicht deshalb, weil sie die Grenzen zwischen ästhetischem und nicht-ästhetischem Erfahren niederreißt, um sich als unmittelbar für die Überwindung oder Zersetzung der Vernunft zu erweisen, sondern weil sie als geltungspartikulare eine Krise für unsere funktionierenden Diskurse ist.“[3]

Gegenwärtig kann man nun den Eindruck gewinnen, dass es vielen darum geht, unsere Wahrnehmung wieder von den Füßen zurück auf den Kopf zu stellen. Manches was von kunsthistorischer Seite als postkolonial korrekter Umgang mit Kunstwerken angedacht wird, ist rückläufig. Einem Kunstwerk vorzuwerfen, als Werk einer weißen Künstlerin dürfe es keine Gewalt an einem Schwarzen zum Gegenstand machen, läuft auf eine Auffassung von Kunst hinaus, die der Künstler Günter Fruhtrunk Ende der 50er Jahre als „geistigen Naturalismus" bezeichnete. Wenn man künstlerische Formen inhaltlich (de-)legitimiert, indem man das ästhetische Erkenntnispotenzial eines Kunstwerks vom Thema oder Gegenstand des Bildes abhängig macht und nicht von der Art der Darstellung, wenn man ein Werk beurteilt, indem man über den biographischen Hintergrund des Künstlers vor-urteilt, wird aus freier Wahrnehmung Herrschaft; mit ästhetischer Erfahrung und Kritik hat das nichts mehr zu tun. Mit dem Vokabular von Panofsky gesprochen: wenn wir ignorieren, dass jeder Deutungsprozess mit der vorikonografischen Beschreibung beginnt, wird Ikonologie zur reinen Ideologie. Auch eine „Graswurzelzensur"[4] als Akt der Brechung kultureller Dominanzen, wie sie die Kunsthistorikerin Julia Pelta Feldmann 2017 im Anschluss an einen Vorstoß der Künstlerin Hannah Black in Betracht zog, wäre Zensur und stünde dem Wesen von grassroots movements diametral entgegen. Eine Infragestellung und Öffnung des kulturellen Wertekanons im Sinne einer breiteren Teilhabe von unten dürfte nicht auf einen neuen Kanon zielen, sondern müsste versuchen, dieses Ausschlussprinzip als solches zu umgehen oder zu unterlaufen. Die Künstler selbst machen uns das immer wieder vor, und jedes Kunstwerk ist in dieser Hinsicht eine Wahrnehmungsschule. Auch auf kuratorischer Ebene gab es mit der Documenta11 oder der Venedig-Biennale 2013 wegweisende Ansätze, um den Diskursrahmen des westlich geprägten Kunstbetriebs theoretisch und praktisch zu erweitern und darüber mehr Gerechtigkeit herzustellen. Hier gälte es weiterzudenken.

Kein Kunstwerk entsteht ohne das sich selbst mitreflektierende Sehen, und kein Bild erschöpft sich in nur einem Blick. Wenn wir die Fähigkeit und die Bereitschaft des nicht identifikatorischen Sehens, das Kunst lehrt und einfordert, verlieren, bricht das Gespräch mit ihr ab. Wenn wir die offene Haltung der Kunst gegenüber aufgeben, wird sie uns irgendwann nichts mehr sagen. Umso wichtiger scheint es mir daher, Kunstwerke in unserem kulturellen Gedächtnis zu befragen, die das Ästhetische systematisch durchdacht und bearbeitet haben. Dazu zählt das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch.

Malerei über Malerei

Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte stellten wir in der letzten Ausgabe des Magazins die offene Preisfrage: Ist das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch ein rassistisches Kunstwerk? Gerne hätten wir das Verhältnis von Kunst und Rassismus anhand dieser Wegmarke der Moderne vielfältig exemplifiziert und somit das Pro und Contra in dieser Frage breit diskutiert. Leider gab es jedoch keine Einsendungen. Die nachfolgenden Überlegungen sind ein Versuch der Annäherung an eine komplexe Thematik und nur eine Antwort von vielen möglichen anderen.

Die suprematistischen Bilder, zu denen das Schwarze Quadrat gehört, sind selbst Teil des abendländischen Diskurses, sie gehen daraus hervor, sie bearbeiten ihn, aber sie stellen ihn auch zur Diskussion.[5] Erst heute lässt sich rückblickend die Trag- und Reichweite von Malewitschs Kunst erkennen. Aber bereits die zeitgenössische Rezeption von Kollegen, Kritikern und Journalisten zeigt, dass er seine damals neuen Bilder im Kontext einer in ganz Europa intensiv geführten Debatte um die repräsentationalen Grundlagen der Malerei punktgenau platzierte: sie wurden schon damals als Provokation und als bildnerisches Argument verstanden. Sieht man einmal vom überheblichen Ton ab, mit dem im letzten Kunstforum international[6] von einem „auf eine schlichte geometrische Form verknappten Tafelbild“ die Rede ist, der sich mir in seiner Absicht nicht erschließt, ist es historisch falsch, von einer „seinerzeit allenfalls marginal beachteten Premiere" zu sprechen. Es war vielmehr ein Moment von historischer Sprengkraft, wie Gerd Steinmüller zu Beginn seiner grundlegenden Arbeit über die suprematistische Malerei eindringlich vergegenwärtigt:

„Der Paukenschlag, mit dem Kasimir Malewitschs suprematistische Malerei erstmals ins Licht der Öffentlichkeit trat, war in seiner Lautstärke genauestens dosiert. … Malewitschs eigene avantgardistische Praxis sowie die tatkräftige Mithilfe weiterer an der Erregung öffentlicher Ärgernisse in Sachen Kunst nicht uninteressierter Futuristen (…) garantierten hinlänglich, dass die Premiere dieser Bilder anlässlich der Letzten Futuristischen Ausstellung 0,10 (…) zum Großereignis auf Petrograds kultureller Bühne wurde“.[7]

Die suprematistischen Bilder hatten diese Wirkung, weil sie ein künstlerisches Verfahren vorstellten, „das den Verzicht auf die Wiedergabe der gegenständlichen Welt zuallerst als Aufforderung verstand, bestehende ästhetische Konventionen radikal in Zweifel zu ziehen“.[8] Das suprematistische Bild ist verstehbar als „Meta-Bild, als ein sich in Formen und Farben vollziehender Diskurs über Bildlichkeit, genauer: als ein malerischer Diskurs über die Verfasstheit und Potenz des Bildes, der selber im ‚Niemandsland' verläuft, nämlich diesseits der traditionellen… Paradigmatisierung des Bildes als eine der Wirklichkeit enthobene ideale Welt zum einen und jenseits der Entwertung des Bildes als ein die Wirklichkeit konstruierender idealer Gegenstand zum anderen".[9] Kulturtheologisch hielten wir 1997 fest: Malewitschs ‚Methode der Kunst‘ ist zugleich eine Methode aus Freiheit.[10]

Für das suprematistische Bild heißt das, dass Anschauung und Deutung der bildnerischen Gegebenheiten ohne jede Instrumentalisierung durch gegenständliche Referenzen erfolgen müssen. Dies lässt sich am sogenannten Schwarzen Quadrat exemplarisch nachvollziehen.

Schaut man näher, erkennt man, dass es sich um ein ‚schiefes' Scheinquadrat handelt: tatsächlich ist es ein Viereck auf weißem Grund, dessen Kanten bezogen auf das Bildgeviert leicht schräg verlaufen. Das hat zur Folge, dass es sich weder zu einer eindeutigen Figur auf Grund, noch zu einem Körper im Raum verfestigt, in gleicher Weise bleibt die weiße Fläche unterbestimmt und changiert zwischen flachem dinglichen Eindruck einerseits und räumlicher Tiefenwirkung andererseits; das Viereck scheint vielmehr zu ‚tanzen‘[11] und lenkt so die Aufmerksamkeit und das Interesse immer wieder zurück auf den materialen und sinnlichen Charakter der Farben Schwarz und Weiß. Je länger man sich auf diesen Wahrnehmungsprozess einlässt, umso intensiver wird die unverstellte Erfahrung – Malewitsch sagt „die gegenstandslose Empfindung“ – dieser beiden Grenzwerte des sichtbaren Spektrums, die einander wechselseitig gleichermaßen bedingen, erschließen und negieren.

Eine Gemäldenotiz

Die jüngste Untersuchung[12] des Schwarzen Quadrats hat nun vor einigen Jahren weitere Details zu Tage gefördert, die die zeitgeschichtliche Lesart erweitern und eine aktuelle Einordung verlangen. Als man das Gemälde, das sich heute in der Moskauer Tretjakov-Galerie befindet, 2015 im Zuge von Restaurierungsarbeiten röntgte, fand man darunter zwei weitere Bilder aus der vor-suprematistischen Phase des Künstlers. Leinwände mehrfach zu nutzen, ist für Künstler nichts Ungewöhnliches. Leinwand war immer teuer. Auch werkgeschichtlich war es insofern keine Überraschung, als sich das Oeuvre von Malewitsch keiner teleologischen Logik fügt und es auch in den als „impressionistisch, symbolistisch, neo-primitivistisch, als kubofuturistisch und als alogisch bezeichneten Bildern“ bereits „wesentliche Anhaltspunkte für den späteren suprematistischen Bild-Diskurs gab.[13]

Eine Überraschung war jedoch eine bis dahin unsichtbare Bleistiftnotiz, offenbar von Malewitsch selbst, die man bis auf drei Buchstaben entziffert haben will. Die Berichte lassen offen, was der genaue russische Wortlaut ist, aber er soll sich auf eine schwarzmonochrome Karikatur des Humoristen Alphonse Allais (1854-1905) beziehen, die den Titel trägt: „Combat De Nègres Dans Une Cave, Pendant La  Nuit" („Kampf von Negern in einem Keller, während der Nacht“). „Der Erfolg dieses Witzes“, schreibt Anna Grosskopf in ihrer Studie über die satirische Reflexion künstlerischer Arbeitsprozesse, „beruht auf einer überraschenden Kombination eines vollkommen schwarzen Bildes mit einer pseudo-mimetischen Beschriftung, die nahelegt, das durch sie Bezeichnete sei auf dem Bild tatsächlich vorhanden und nur temporär im Dunkeln verborgen.[14]

Alphonse Allais gehörte zum Umfeld der Pariser Gruppe der Arts Incohérents. Die kurzlebige künstlerische Bewegung, gegründet von dem Schriftsteller und Publizisten Jules Lévy, parodierte den 1882 gegründeten Verein Les Arts Decoratifs, indem sie die „unzusammenhängenden Künste" präsentierte und viele Ideen und Pratiken der späteren Avantgarde, der Anti-Kunst wie dem Dadaismus, vorwegnahm. Zum Kontext schreibt Werner Spies in einem Aufsatz über einen anderen zu jener Zeit kursierenden Kunstwitz: „Mystifikationen und Späße waren im Ausstellungsbetrieb nichts Neues. … Einer der findigsten Vertreter dieses kritischen, anarchischen Genres war Alphone Allais, der in der Belle Epoche mit seinen Aperçus die Gesellschaft verblüffte.“ Auf dem alternativen Salon stellte er „monochrome Bilder vor, darunter ‚Tomatenernte der apoplektischen Kardinäle am Ufer des Roten Meeres‘, oder Partituren, die à la John Cage nichts als Stille aufführten“.[15] Seine barock betitelten monochromen Bilder, die er 1883 auf dem zweiten Salon ausgestellt hatte, wurden besonders bekannt, nachdem er sie 1897 in seinem Album Primo-Avrilesque (Aprilscherz-Album) reproduzierte und vervielfältigte. Das Album enthält neben der Komposition für einen Trauermarsch ohne Partitur sieben verschiedenfarbige Monochromien. Die inhaltlichen Assoziationen der jeweiligen Farbe werden zu möglichst fantasievollen Titeleien zusammengefügt, so dass sich darüber das Spektrum der französischen „feinen“ Gesellschaft aus Adel, Klerus Militär und Bürgertum abbildet.

Einzig die schwarze Monochromie macht im Untertitel eine Ausnahme. Während die übrigen Bilder von Allais selbst stammen, wird die schwarze Graphik durch den Zusatz „célèbre tableau" („berühmtes Gemälde") als das Werk eines anderen Künstler ausgewiesen, den er nicht namentlich nennt. Dabei handelt es sich um den ebenfalls zur Gruppe gehörigen Schriftsteller und Dramatiker Paul Bilhaud, der bereits ein Jahr zuvor, 1882, auf dem ersten Salon des Arts Incohérents ein schwarzes Monochrom in goldenem Rahmen ausgestellt hatte, der englischen Wikipedia zufolge mit dem etwas abweichenden Titel „Combat de nègres dans un tunnel".

Tatsächlich war aber auch Bilhaud nicht der Erfinder des Witzes. Monochrome Bildwitze, mit der Beschreibung eines angeblich vorhandenen, jedoch nicht sichtbaren Bildgegenstandes unterlegt, kannte die französische Karikatur bereits seit den 1840er Jahre und sie lassen sich ebenso wie die bis heute verbreitete Postkartenversion mindestens bis ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen.[16]

Der rassistische Blick

Schauen wir uns nun die schwarze Monochromie, auf die sich die Notiz von Malewitsch in irgendeiner Weise beziehen soll, genauer an.

Die Graphik zeigt ein schwarzes, exakt gezeichnetes Rechteck im liegenden Format, wie es für Historienmalerei oder mythologische Themen gebräuchlich war. Das linear umrandete weiße Feld wird nicht punktsymmetrisch abweichend eingefügt, so dass sich ein Figur-Grund-Schema oder ein Schwingungsraum wie beim Schwarzen Quadrat von Malewitsch andeuten würde, sondern derart, dass das weiße Feld das schwarze Feld in Form einer dekorativen Rahmung bzw. eines Passepartout einfasst. So ergibt sich der optische Eindruck eines – leeren –  Tafelbildes mit einem weißen Rahmen. Die Eckornamente illustrieren einen um die Jahrhundertwende üblichen Prunkrahmen und weisen das Bild als Ausstellungsstück aus, als ein Gemälde, das also in gewisser Weise gesellschaftlich ‚geadelt' ist. Durch den literarischen Titel entsteht der Bildwitz: präsentiert wird ein Gemälde mit sichtbar unsichtbarem Inhalt. Düpiert wird so ein in kunstgeschichtlichen Themen bewanderter Betrachter, der sich von einem Gemälde mit langem hochtrabendem Titel täuschen lässt, das in Wahrheit inhaltsleer, im übertragenen Sinne „nichts-sagend" ist. Das ist die antibürgerliche Spitze, mit der sich Allais bzw. Bilhaud gegen die Vertreter der offiziellen französischen Salonmalerei richten.

Tatsächlich funktioniert diese Pointe aber nur propagandistisch. Sie muss einen repräsentationalen Kunstbegriff voraussetzen, um das reaktionäre Stereoptyp von der Inhaltsleere moderner Malerei aufrufen zu können. Schwarz wird zum Repräsentanten möglicher negativer Denotationen wie Leere, Abwesenheit, Dunkel. Durch die Titelei wird diese formale Semantik dann mit einem expliziten Gehalt verknüpft und literarisch vereindeutigt: die Farbe Schwarz wird in der Vorstellung zur Hautfarbe einer bestimmten Gruppe von Menschen und fungiert so als Ideenmagnet, der die übrigen Begriffe – Kampf, Keller, Nacht – automatisch mit rassistischer Bedeutung auflädt. Was einerseits als harmloser Spaß gegenüber einem saturierten, elitären Kunstpublikum erscheinen mag, folgt so zugleich dem Argument des „Herrenmenschen“: indem ein Betrachter hier sein Vor-Urteil gegenüber moderner Malerei und seine Überzeugung von einer im Verfall begriffenen Kultur bestätigt sehen kann, wird zugleich ein rassistischer Blick bedient und belohnt.

Die Karikaturen haben ihren historischen Sitz im experimentierfreudigen Umfeld der Pariser Kunstszene, dem Hotspot Montmartre. Sie konnten in einem gesellschaftlichen Klima punkten, in dem avantgardistische und antimodernistische Kräfte offen gegeneinander agierten. Aber sie befruchteten auch ein sich langsam vergiftendes Klima, in dem die moderne Kunst wenig später zum Gegner einer „gesunden Volkskultur“ erklärt werden konnte, wie Werner Spies festhält: „Damals wurden die Weichen gestellt für eine Auseinandersetzung, in der die Kämpfer für das Neue und die Kritiker, die von entarteter Kunst zu sprechen beginnen, aufeinanderprallen.“[17] Das belegt auch die Wirkungsgeschichte der Karikatur, die in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und weit bis in die Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts Konjunktur hat. Nach 1915 ließ sich „im Kontext der Satire keine Darstellung eines monochrom schwarzen Bildes mehr denken, die nicht auch ein Zitat von Kasimir Malewitschs Schwarzem Quadrat gewesen wäre".[18] (Und auch heute könnte ich mir die Graphik gut bei Neonazis vorstellen, als Poster für die Gartenlaube oder als Bildschirmschoner.)

Symptom des Ästhetischen

Wir wissen nicht, ob Malewitsch die Ausstellung im Salon des Arts Incohérents gesehen hat, ob ihm Reproduktionen aus dem Album Primo Avrilesque vorlagen oder ob er die Pariser Aktionen von Allais und Bilhaud nur vom Hörensagen kannte. Jede Variante oder alle zusammen sind denkbar. Falls die Karikatur für ihn also impulsgebend war, wie es die Notiz nahelegt, dann, indem er den darin virulenten Antimodernismus dekonstruktiv gegen sich selbst wendete und den vordergründigen Dualismus der Illustration in einen künstlerisch offenen Diskurs überführte. Das Schwarze Quadrat lässt jeden Versuch einer inhaltlichen, eindeutigen Festschreibung seines Gegenstandes ins Leere laufen – und damit auch die Pointe der Karikatur scheitern. Es verweigert eine mimetische Lesart von Schwarz und Weiß und wird so unter den autonomen Voraussetzungen der Kunst auch zu einem anti-rassistischen Bild.[19]

Vielleicht sind die Monochromie-Karikaturen so etwas wie ein Symptom des Ästhetischen, in dem Künstler der Avantgarde wie Malewitsch das seismische Signal einer historischen Schwellensituation wahrgenommen haben. Von dort zeichneten sich zwei Bewegungen in die spätere Moderne ab: die eine setzte die Arbeit am Projekt der Aufklärung fort, die andere arbeitete weiter an der Verdinglichung und letztlich an einer Verdinglichung des Menschen. Heute wissen wir, dass sie in die Vernichtung führte.

Anmerkungen


[1]    Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida (1988), Frankfurt a.M. 1991, S. 9.

[2]    Ders.: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996.

[3]    Ders.: Die Souveränität der Kunst, a.a.O., S. 15.

[4]    Julia Pelta Feldmann: Das Bild muss weg. Über Kunst, Zensur und Zerstörung, in: Deutschlandfunk, 01.10.2017.

[5]    Gerd Steinmüller: Die suprematistischen Bilder von Kasimir Malewitsch: Malerei über Malerei, [Reihe: Kunstgeschichte, Hg. Norbert Werner, Bd. 4], Bergisch Gladbach/Köln 1991 (künftig zitiert: Die suprematistischen Bilder 1991).

[6]    Michael Hübl: Zum Tod von George Floyd und den Folgen, in: Kunstforum international, Entzauberte Globalisierung. Alternative Visionen des Polykulturellen, 2020, Bd. 269.

[7]    Die suprematistischen Bilder 1991, S. 1.

[8]    A.a.O., S. 19.

[9]    A.a.O., S. 122.

[10]   Andreas Mertin / Karin Wendt: Kunst auf der Suche nach Präsenz. Malewitsch und der Suprematismus, in: Barbara Heller (Hg.), Kulturtheologie heute? Hofgeismarer Protokolle 1997, S. 77.

[11]   Viktor Schlowski, zitiert aus: Die suprematistischen Bilder 1991, S. 72 und Anm. 25, S. 201.

[13]   Die suprematistischen Bilder 1991, S. 127.

[14]   Anna Grosskopf: Die Arbeit des Künstlers in der Karikatur: Eine Diskursgeschichte künstlerischer Techniken in der Moderne, transcript Verlag 2016, S. 425-426 (nachf. zitiert: Die Arbeit des Künstlers in der Karikatur 2016).

[15]   Werner Spies: Ein Kunstwitz mit Folgen. Die große Eselei des Jahres 1910, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, aktualisiert am 17.09.2010 (nachf. zitiert: Spies 2010).

[16]   Die Arbeit des Künstlers in der Karikatur 2016, S. 425 und Anm. 110.

[17]   Spies 2010

[18]   Die Arbeit des Künstlers in der Karikatur 2016, S. 427.

[19]   Als solches war es am Blackout Tuesday (2. Juni 2020) ein passendes kulturelles Statement der Solidarität, wie Peter Laudenbach, wenn auch nicht ganz richtig in der Beschreibung des Gemäldes, schreibt: „Wie Becketts Anti-Theater verweigerten auch Malewitschs Anti-Gemälde jede Botschaft, jede Erzählung, allen Schaureiz, und wie Becketts ‚Godot‘ ein Einschnitt in der Theatergeschichte war …,  wirkte auch Malewitschs Quadrat wie eine Zäsur in der Kunstgeschichte.“ (Unüberhörbare Stille. „The Show Must Be Paused, in: brand eins, Archiv 2020.)

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/127/nnKarin Wendt.htm
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