Die Fragilität der politischen Existenz

Überlegungen zu Fremdheit, Ausschluss und dem Kosmopolitismus der Geschundenen

Moritz Riemann

Die Aufgabe eines zeitgenössischen Kosmopolitismus erschöpft sich nicht in der Aussage Immanuel Kants, dass ein Unrecht in aller Welt gespürt wird, denn es reicht nicht, es nur zu fühlen oder wahrzunehmen. Sie erschöpft sich nicht in den Bedingungen allgemeiner Hospitalität, auf die Kant das Weltbürgerrecht einschränkt, da die so entstehende Gastfreundschaft nur den ethischen Grund für einen prinzipiell freundlichen Umgang mit Fremden bildet, nicht aber die Möglichkeit seines Bleibens erörtert. Schließlich handelt es sich beim Fremden nicht um einen Gast, der heute kommt und morgen wieder geht, sondern um den, der „morgen bleibt“[1]. Sie erschöpft sich auch nicht in moralphilosophischen Auseinandersetzungen darüber, ob Grenzen offen sein sollten und sich die Regulation und Restriktion von Migration ethisch rechtfertigen lässt, oder nicht.

Das Interessante am modernen Kosmopolitismus ist allerdings, dass er sich zunehmend aus als universal angenommen individuellen Freiheitsrechten speist und damit eine eher liberale politische Ethik vertritt, die zugleich ein ungebundenes Subjekt gegenüber einem mehr oder minder opaken Kollektiv voraussetzt und ihm einen moralischen Vorrang zuschreibt. So tut es auch Anthony Kwame Appiah, der in Der Kosmopolit einen Primat der universalen Individualrechte gegenüber dem Kollektiv setzt und daraus eine Verantwortungsbeziehung entwirft: »Eine Wahrheit, an der wir [die Kosmopoliten] festhalten, besagt, dass jeder Mensch Pflichten gegenüber anderen Menschen hat. Jeder einzelne Mensch zählt: Das ist unser zentraler Gedanke. Und er setzt unserer Toleranz klare Grenzen.«[2]

Ich möchte in diesem Essay einen anderen Punkt beleuchten, einen eher melancholischen Aspekt (kosmo)politischen Denkens, der sich aus der so unidealen Weltbedingung ableiten lässt, näm­lich, dass Menschen einander eben nicht gleich sind an Rechten und ethischer Anerkennung, sondern dass die Bedingungen einer Gleichfreiheit im Sinne Étienne Balibars geknüpft sind an die Bedingungen des Verhältnisses zwischen Kollektiv und Individuum, aber auch und fast noch mehr an die Verhältnisse zwischen verschiedenen Kollektiven.[3] Balibar entwirft gegen den Liberalismus eine Gleichursprünglichkeit und Äquivalenz von (politischer) Freiheit und (ökonomischer) Gleichheit, die immer auch gebunden sind an die widerstreitenden Momente zweier inkongruenter Machtsysteme: der konstituierenden und der konstituierten. Diese Gegenpole sind verknüpft mit einer Gegenüberstellung zweier Konzeptionen von Staatsbürgerschaft, deren eine vor allem durch den rechtlichen Status politischer Teilhabemöglichkeiten gekennzeichnet ist, während sich die andere besser als eine Praxis politischer Artikulation beschreiben lässt, die eng gebunden an den Begriff der Emanzipation, dieses Recht immer erst herstellen muss.[4]

Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, wie Arendt schreibt und der Mensch nur frei ist, indem er handelt (und nur handeln kann, wenn er frei ist), stellt sich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, ein gebundenes aber freies Subjekt zu sein, ein Handelndes in mitten von Handelnden. Politik ist für sie der Raum des Zwischen – zwischen den Menschen – und damit kann das aristotelische zoon politikon keine substantielle Kategorie sein, befindet Hannah Arendt in den Fragmenten „Was ist Politik?“.[5] Die Freiheit der politischen Selbstbestimmung, der Autonomie, schöpft sich also aus der Einbettung eines Zwischen als Anerkennungsraum, aus Relationen der Rechtfertigung. Wo diese Rechtfertigung negiert wird, endet das Politische als Zwischen, und eben diese Bedingungen des anerkennenden Zwischenraumes als paritätisches kommunikatives Handeln bedingen seine Fragilität: in der Freiheit ist der Mensch angewiesen auf das Urteil, das ihn in diesem Zwischenraum hält.

Ich bediene mich hier einer Denkfigur von Julia Kristeva, die insbesondere aus den asymmetrischen Rechtfertigungsverhältnissen zwischen Fremdem und Eigenen, die keineswegs nur eine Bedingung migrantischen Lebens ist, von einem „Kosmopolitismus der Geschundenen“ spricht.[6] Diese Denkfigur zielt auf die Erhellung der Fragilität für den politischen Raum, die politische Existenz des Einzelnen im Gefüge von Handelnden, und bietet Anschluss an verschiedene theoretische Überlegungen zum Wechselspiel von Autonomie und Fragilität: Er nimmt seinen Ausgang von Hannah Arendt, ihrem Begriff von Pluralität und ihrem Zusammenbruch, komplementiert diesen mit Judith Butler und ihrer Theorie eines prekären Lebens, um schließlich Frauke Kurbachers Begriff einer fragilen Autonomie zu politisieren. Tragende Figur des Essays ist der Mensch in Fluchtsituation, ein Mensch, nicht im Zwischen der menschlichen Gefüge, sondern im Zwischen der normativen Ordnungen. Nicht zuletzt auf die Berichte von prekär Migrierenden, die wahlweise in Libyen als Sklaven verkauft werden oder an den europäischen Außengrenzen in überfüllte Lager gepfercht werden, verweist die Frage des nun zu Sagenden: Wie stabil sind die Gefüge eines Systems der anerkennenden und anerkannten Freiheit und Autonomie? Was heißt es, von politischer Fragilität zu sprechen beziehungsweise von der Fragilität des Politischen?

Für Arendt generiert sich eine politische Rechts- und Entscheidungsgemeinschaft an der Performativität des »We, the people«, welches die Grundlage für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit bildet und zugleich die Möglichkeit von Macht schafft. Arendts Machtbegriff ist hierbei stark positiv konnotiert, indem sie ihn vom Begriff der Gewalt abgrenzt als die Fähigkeit, legitim zu delegieren und Macht so in zwei römische Begriffe zu teilen: postestas (in populo) und auctoritas (in senatu) - immer auch eingedenk dessen, dass jede von der postestas des Kollektiven an die wenigen Entscheider delegierte Autorität auf Widerruf besteht.

Carl Schmitt hingegen, der sich an vielen Stellen als Kontrapunkt zu Arendt lesen lässt und nicht zuletzt dadurch überhaupt ins Interesse dieser Überlegungen rückte, begründet einen politischen Dezisionismus als legitimen Ausdruck von (kollektiver) Souveränität in der Unterscheidung zwischen Freund und Feind, also dem Unterschied, wer auf dem Parkett des politischen Geschehens mitspielen darf und wer nicht. Feind hat für Schmitt keine moralische Konnotation, das ist wichtig, um ihn vom Verbrecher zu unterscheiden, er ist vielmehr ein politischer Gegner, der also die Interessen einer konkurrierenden politischen Gemeinschaft verfolgt - ein hostis, kein inimicus. Die wesentliche Stiftung der Gemeinschaft geschieht also in der Abgrenzung vom Feind. Bemerkenswerterweise wurde Carl Schmitt auch von Ulrike Meinhof bemüht, als sie dafür plädierte, die RAF als politischen Feind, als Kombattanten zu klassifizieren und nicht als ordinäre Verbrecher zu behandeln.

Für uns entscheidend sind an dieser Stelle diese Momente, die dem Politischen scheinbar notwendig innewohnen - der Zusammenschluss und die Abgrenzung, denn sie bilden Grundlage für die Entscheidung, wer Teil einer Gemeinschaft sein darf und wer nicht. Auf der Grundlage dieser prinzipiellen Unterscheidung und dessen, wie ein wir und damit eine Gemeinschaft politischer Stabilität geschaffen wird, möchte ich auf drei Dimensionen des Politischen als Relationales, als Raum des Zwischen den Menschen näher eingehen: Das Recht in Position und Negation, die Perspektive auf das Leben in Gemeinschaft oder Gesellschaft und die Frage nach der Haltung oder dem politischen Ethos. Fragilität zeigt das Politische überall dort, wo es ausfranst und Unterscheidungen trifft, die sich implizit oder explizit auf die Freiheit des politischen Menschen auswirken. Und nicht zuletzt ist es selbst fragil, da es sich jenseits der Institutionen nur im Zwischen der menschlichen Handlungen zeigt, mehr aufscheint, als es ist.

Die Differenz zwischen dem etablierten Eigenen und dem fragilen Fremden zeigt sich in der philosophischen und sozialen Schwierigkeit, mit dem Fremden umzugehen. Die Frage, welche Verpflichtungen eine jeweilige politische Gemeinschaft gegenüber einem Fremden hat, markiert hierbei bereits das konzeptionelle Problem und eine prinzipielle Differenz, die zunächst unhinterfragt bleibt. Wieder hat der Kosmopolitismus hierauf eine kritische Antwort, indem er die prinzipielle Gleichheit aller menschlichen Individuen fokussiert und somit diese Differenzierung aufzulösen sucht, auch indem er die Unterscheidung zwischen Menschen und Bürgerrechten mediiert. Und doch bleibt die Asymmetrie bestehen: der Fremde bekommt nur dann die gleichen Rechte, wenn die Gemeinschaft der Eigenen ihm diese zuzubilligen geneigt ist. Hierin spiegelt sich die grundlegende Skepsis Arendts an der politischen Geltung der Menschenrechte, die im Recht, Rechte zu haben ihren melancholischen Boden gewinnt. Seyla Benhabibs Begründung eines Menschenrechtes auf politische Mitgliedschaft, die sie im Anschluss an Arendt formuliert, versucht diese Melancholie positiv zu wenden: »In this sense, the human right to membership is an aspect of the principle of right, i.e., of the recognition of the individual as a being who is entitled to moral respect, a being whose communicative freedom we must recognize.«[7]

Hannah Arendts Bemerkungen zum zoon politikon und dem Sinn von Politik

Das aristotelische zoon politikon ist keine substantielle Kategorie, keine ontologische Größe - der Mensch ist nicht qua menschlicher Natur politisch, sondern qua Politik und Zwischenmenschlichkeit:

»als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies gerade stimmt nicht, der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen den Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen, Es gibt daher keine eigentliche politische Substanz. Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als Bezug.«[8]

Übertragen auf den Kontext einer politischen Differenz, die zwischen dem Politischen und der Politik unterscheidet, offenbart sich hier bereits der fragile Charakter eines politischen Wesens, einer politischen Existenz, denn es gibt sie nicht, respektive es gibt ihn nicht, den politischen Menschen, sondern nur in den Momenten, die politisch sind. Wenn man so will, ist das Politische überhaupt keine Kategorie des Individuums.

In diesem Verständnis von Politik und politischer Existenz lässt sich auch nicht von individueller politischer Freiheit oder Autonomie sprechen - der einzelne ist im Sinne der Politik nicht frei, sondern seine Freiheit realisiert sich nur mit der Freiheit der Anderen als ein Gefüge der Freiheit. Gleichzeitig jedoch besteht für Arendt der Sinn von Politik in ebendieser Freiheit.

»Das Entscheidende dieser politischen Freiheit ist, dass sie räumlich gebunden ist. Wer seine Polis verlässt oder aus ihr verbannt wird, verliert nicht nur seine Heimat und sein Vaterland, sondern er verliert den Raum, in welchem allein er frei sein konnte.«[9] Das Gleiche gilt für den, der - übertragen - für den, der von seiner Polis verlassen wird und außerhalb des Diskurses steht. Denn durch sein dissoziatives Moment produziert das politische Ensemble immer auch ein außen, welches in diesem Sinne unfrei wird. Für einen Staatenlosen heißt dies, dass er abstrakt wird, weltlos und jenseits der Politik. Staatenlos werden heißt ausgeschlossen werden aus dem consensus universalis, entbürgert: „Dies abstrakte Menschenwesen, das keinen Beruf, keine Staatszugehörigkeit, keine Meinung und keine Leistung hat [...] ist gleichsam das genaue Gegenbild des Staatsbürgers“[10]

Das prekäre Leben und die Subalternität

Die Abhängigkeit der politischen Autonomie von der politischen Gemeinschaft betrifft natürlich nicht nur die, die migrieren (ob erzwungen, oder nicht). Viel grundsätzlicher stellt sich die Frage, wer als jemand der Gemeinschaft der Freien anerkannt wird, und wer nicht - die Dissoziation und damit Entpolitisierung der einzelnen oder Gruppen findet ebenso sehr im inneren statt, wie im äußeren. Sie ist eine Frage der Perspektive und der Möglichkeit, überhaupt politisch zu sein. Lesen wir Arendt mit Butler und Spivak, so können wir noch stärker auf die Sprache als das Entscheidende Medium innerhalb der Sphäre des Handelns rekurrieren, als mit Arendt selbst. Über den Skandal, dass Hispanics demonstrativ die Nationalhymne der USA auf Spanisch singen, entspinnt sich ein Gespräch über Sprache, Zugehörigkeit und Politik (Who sings the nation state?). Die Demonstration illegaler Einwanderer, die sich auf dem Territorium eines sich demokratisch nennenden Staates befinden, ist ein Skandal, obwohl sie sich auf nichts weiter als ein basales demokratisches Grundrecht beruft: Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Hier entsteht im öffentlichen Raum ein Paradoxon, in dem ein Recht in Anspruch genommen wird, ehe es verbürgt ist: »Dies ist sicherlich auch eine performative Politik, in der die Forderung nach Legalisierung eben das Illegale ist und gleichwohl und gerade in Missachtung des Gesetzes erhoben wird, dessen Anerkennung gefordert wird.«[11] Das zerbrechlich Politische kann hier gefunden werden als ein vor dem Gesetz, etwas, was Böckenförde vielleicht vor-politisches nennen würde, aber gleichzeitig - im Sinne des Freiheits- und Befreiungsgedankens - das, was politisch handeln vielleicht gerade ausmacht.

»Die Forderung nach der Ausübung von Freiheit, die mit der Staatsbürgerschaft einhergeht, ist die Ausübung dieser Freiheit in einleitender Form: Sie beginnt sich zu nehmen, wonach sie verlangt. Wir müssen die öffentliche Ausübung als ein Ausagieren der postulierten Freiheit begreifen, als ein Postulieren dessen, was noch nicht da ist. Zwischen der Ausübung und der Freiheit bzw. jener Gleichheit, die gefordert wird, die ihr Gegenstand, ihr Ziel ist, klafft eine Lücke. [...] diese Forderung nach Freiheit zu stellen bedeutet, bereits mit ihrer Ausübung zu beginnen und hinterher ihre Legitimation zu verlangen.«[12]

Diese Form politischen Handelns birgt natürlich das Risiko seiner nicht-Anerkennung und ist angewiesen auf ein externes Urteil, wenn es zu codifiziertem Recht werden soll. Möglicherweise ist aber genau das der Punkt in einer Fragilität des Politischen: dass das Politische seine eigene Grundlage immer neu schaffen muss und sich nicht abschließen lässt.

Doch vorher noch ein Wort zu den nicht Gehörten, oder den nicht zu Hörenden. Prekarität und Fragilität sind ebenso soziale Größen wie Autonomie und Emanzipation, und die prinzipielle Prekarität des Lebens manifestiert sich auch in seine Abhängigkeit vom Anderen: »Precariousness implies living socially, that is, the fact that one's life is always in some sense in the hands of the other. [...] Reciprocally, it implies being impinged upon by the exposure and dependency of others, most of whom remain anonymous.«[13] (Butler 2010: 14) Ob nun aus dieser Sozialität des Prekären etwas entsteht, was zu seiner Besserung dient oder gerade das soziale die Prekaritätsverhältnisse untermauert, ist abhängig von der Perspektive auf das prekäre Leben und damit seinen Rahmen. Die Sprachlosigkeit der Subalternen, schreibt Spivak, liegt gerade darin begründet, dass sie im Öffentlichen nicht wahrgenommen werden, und selbst insofern aus dem Raster der politischen Kartierung fallen, als sie keine Gruppe bilden. Sie sind keine politisch relevante Größe und können daher nicht sprechen. Sie können auch nicht migrieren, dafür fehlen die Mittel. Sie sind die Marginalien der Welt, deren größter Fehler es ist, nicht bekannt zu sein.

Fragile Autonomie

In ihrer Philosophie der Haltung bezieht Frauke Kurbacher das Menschsein auf den Raum des Zwischen und erhebt die Haltung zur grundlegenden Bezüglichkeit der Menschen. Sie stellt dem Begriff der Autonomie, die ja die Grundlage für selbstbestimmtes und entscheidendes Handeln bildet, den Begriff der Fragilität gegenüber als ein Antonym. »Mit Haltung wird menschliche Existenz in ihrer Einzelheit wie Pluralität als verhältnishafte in den Blick genommen, als ein Umgang mit etwas und jemandem. Die Haltung einer Person ist ebenso denkbar, wie die Haltung einer Gesellschaft, und selbst bei einem Gemälde lässt sich von der Haltung des Kunstwerkes sprechen.«[14] Gewendet auf einen Begriff politischer Fragilität lässt sich der Haltungsbegriff vielleicht im Sinne des Ethos einer politischen Gemeinschaft skizzieren und damit für die Beschreibung eines zwischenpolitischen Umganges zum Entscheidenden zwischen Fragilität und Autonomie fassen. Wenn es allerdings, wie Arendt schreibt, im Politischen den Menschen nicht gibt, sondern nur die Menschen, erscheint ein Begriff der Synautonomie sinnvoller - eben dieses Arendt‘sche acting in concert, mit dem Ziel kollektiver (und in diesem individueller) Freiheit.

Im Prekären hingegen würde aus der Autonomie das Fragile, in Anbetracht eben der brüchigen Gefüge des Interpersonalen und des öffentlich sein dürfens. Dem wohnt wiederum ein Bruch mit dem Gebot der Pluralität inne, also der steten Anerkennung der Verschiedenheit und Unterschiedenheit der Personen, die Kollektive bilden. Die Aufgabe besteht also darin, eine Gleichheit der Verschiedenen zu schaffen.

Zur Schwierigkeit der Verortung des entkontextualisierten politischen Subjektes

Ein paar abschließende Worte zu dem, was wir unter dem Begriff des Flüchtlings zusammenfassen. Flüchtlinge als politisches Phänomen polarisieren Gesellschaften und das philosophische Denken. Sie sind entpolitisierte, entrechtete, fragile Menschen im Sinne ihrer ursprünglichen Gemeinschaft und im Sinne einer nicht idealen Welt. Sie verweisen auf ein Auseinanderklaffen politischer Ethik und politischer Praxis, indem sie problematisiert werden, obwohl ihnen nicht nur Schutz zusteht, sondern auch die Wiederermöglichung von Autonomie. Sie sind im Sinne Julia Schulze Wessels Grenzfiguren[15], die als Figuren der Exklusion und Subjekt der Grenzregime von Nationalstaaten und Staatenverbünden eben diese politische Fragilität aufzeigen und gleichzeitig eine nicht unerhebliche normative Sprengkraft haben. Denn sie nötigen die normative Ordnungen dazu, sich selbst infrage zu stellen und verweisen auf eine prinzipielle Selbstwider­sprüchlichkeit der territorialen Demokratie, welche Legitimität beansprucht, die sie nicht aus sich heraus herstellen kann und doch herstellen muss.

Ein geflüchteter Mensch ist damit mehr als nur Träger der Menschenrechte und Prüfstein, ob völkerrechtliche Konventionen auch dann noch tragen, wenn sie wirklich benötigt werden. Er ist auch Repräsentant einer Haltung - die Idee des Pluralismus, der Demokratie und des Rechtstaates ist nicht viel wert, wenn sie Dissidenten nicht schützt - der Wert dieser Grundhaltung und -ordnung also bemisst sich auch am Umgang mit abweichenden und außenstehenden. Einem demokratischen Ethos folgend geböte sich die Pflicht des Schutzes fliehender Menschen schon allein im Sinne der Pluralität. Und dennoch muss in Ermangelung legaler Asylwege der Anspruch auf Schutz erstritten werden. Und selbst auf dem Territorium selbsternannt freiheitlicher Staaten muss eine menschenwürdige Unterbringung erstritten werden, mitunter sogar der Zugang zu frischem Wasser. Dieser Kampf um Anerkennung, das Erstreiten basaler menschen- und völkerrechtlicher Zuerkennung ist politisches Handeln außerhalb der territorial eng gefassten politischen Gemeinschaft und nichts weniger als eine transsoziale wie transnationale Erweiterung der Demokratie.

Die Ereignishaftigkeit des Politischen und die Notwendigkeit eines dritten Urteils, ob ein Handeln gerechtfertigt ist, oder nicht, ob ein Recht zugestanden wird, oder nicht, ob jemand überhaupt in den Blick des politische Zwischen rückt bildet wiederum diese Fragilität ab. Es scheint auf, doch ob es bleibt, darüber befinden andere - es wird ex post anerkannt als ein Wert, ein zu Schützendes, etwas, dem ein Recht auf Rechtfertigung zugebilligt wird. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Freibeuter, der einen Kaperbrief erhält und dem Piraten, den man zum communis hostis omnium erklärt, obwohl beide das gleiche tun. Und ebenso rücken immer bestimmte Formen prekären Lebens in den Fokus des Interesses, die anderen bleiben ungehört. »What refugees need is fame«, schließt Michel Agier seinen Essay »On the margins of the world«.[16] Ja, aber nicht nur refugees. Und vielleicht besteht genau darin die Aufgabe und das kritische Potential eines zeitgenössischen Kosmopolitismus. Aufmerksam zu bleiben und stets zu mahnen, dass es da Menschen gibt, deren Leid niemand beklagt und deren Stimme niemand hört.

[Redaktion:] Die Kunstwerke in diesem Artikel stammen vom
deutschen Künstler, Maler, Dichter und Raumkünstler Kurt Schwitters (1887-1948)

Anmerkungen


[1]   Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Band II. Frankfurt am Main 1992.

[2]   Kwame Anthony Appiah: Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums. München 2007. S. 174.

[3]   Es darf natürlich an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass eine Vielzahl zeitgenössischer politischer Ethiken sich um Fragen internationaler und kosmopolitischer Gerechtigkeit dreht. Erstaunlich aber ist an den meisten dieser Texte, dass sie bis vor kurzem doch vor allem zwischenstaatliche Verhältnisse in den Blick nehmen, und zwischenstaatliche Gerechtigkeit nicht selten auf die Bedingungen humanitärer Hilfe eingeschränkt wird, während Migration keine oder nur eine beiläufige Rolle zukommt. (Prominent sind hier John Rawls The Law of Peoples von 1999 oder Darrel Moellendorf Cosmopolitan Justice von 2002 zu nennen)

[4]   Vgl. Étienne Balibar: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Hamburg 2003. S. 99.

[5]   Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. München 2003.

[6]   Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt/Main 1990. S. 23.

[7]   Seyla Benhabib: The Rights of Others. Aliens, Residents, and Citizens. Cambridge 2004. S. 141f.

[8]   Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. München 2003. S. 11.

[9]   Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. München 2003. S. 40f.

[10] Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986. S. 623.

[11] Judith Butler und Gayatri Chakravorty Spivak: Sprache, Politik, Zugehörigkeit. Zürich 2011. S. 44f.

[12] Butler und Spivak 2011. S. 46f.

[13] Judith Butler: Frames of War. London 2010. S. 14.

[14] Frauke A. Kurbacher: Interpersonalität zwischen Autonomie und Fragilität – Grundzüge einer Philosophie der Haltung. Kurbacher & Wüschner (Hrsg.): Was ist Haltung? Begriffsbestimmungen, Positionen, Anschlüsse. Würzburg 2017. S. 150.

[15] Julia Schulze Wessel: Grenzfiguren. Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Bielefeld 2017.

[16] Michel Agier: On the Margins of the World. The Refugee Experience Today. Cambridge 2008. S. 102ff.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/127/mr1.htm
© Moritz Riemann, 2020