Schach in Gelee (Teil II)

Bemerkungen zum Verhältnis von öffentlicher Theologie und politischer Ethik der Macht, dargestellt am Beispiel der Serie ‚House of Cards‘ und der Tudor-Romane Hilary Mantels

Wolfgang Vögele

VI.         Spiegel und Licht (Hilary Mantel)

So viele Worte, Eide und Taten,
dass die Leute, wenn sie
in zukünftigen Zeiten davon lesen,
kaum glauben werden,
dass es einen Mann wie Lord Cromwell
wirklich gegeben hat.
Hilary Mantel

Die beiden ersten Bände von Hilary Mantels[48] Tudor-Trilogie, „Wölfe (Wolf Hall)“ und „Falken (Bring up the Bodies)“ erschienen in den Jahren 2009 und 2012[49]. Danach dauerte es einige Zeit, bis im Jahr 2020 der abschließende Band der Trilogie, ‚Spiegel und Licht‘ erschien, tausendeinhundert Seiten lang, so lang wie die beiden ersten Bände zusammen[50]. Die beiden ersten Bände wurden zur Grundlage einer sechsteiligen Fernsehserie[51], welche die BBC verantwortete. Auf eine Fortsetzung dieser Serie, die mit dem Tod Anne Boleyns endet, wartete man bisher vergeblich. Die drei Bücher Mantels und die Fernsehserie bilden zusammen die Grundlage der folgenden Erläuterungen, wobei der Schwerpunkt auf dem abschließenden Band der Trilogie, also ‚Spiegel und Licht‘ liegt.

Zentrale Figur aller drei Bände ist Thomas Cromwell (1485-1540), der wichtigste Regierungsberater Heinrich VIII. Dieser wurde in England wegen seiner sechs Ehefrauen und einer mehr als komplizierten Heiratspolitik zu einer mythisch-symbolischen Figur, die in Abzählreimen und Kinderliedern gefeiert wird. Cromwell sorgte für die Trennung von Katharina von Aragon, er sorgte für die Heirat des Königs mit Anne Boleyn, die der König dann enthaupten ließ. Angeblich hatte sie ihn betrogen, und sie konnte ihm den erwarteten Sohn nicht gebären. Jahre später wurde Cromwell selbst enthauptet. Der dritte Band der Buchserie umfasst den Zeitraum von der Hinrichtung Anne Boleyns bis zu Cromwells eigener Hinrichtung. Wenn ich im Folgenden über Cromwell schreibe, dann meine ich stets die Kunstfigur, die Hilary Mantel in ihren Romanen dargestellt hat. Der „historische“ oder „reale“ Cromwell und sein Verhältnis zu den verschiedenen historischen und literarischen Cromwell-Bildern sind für meine Fragestellungen, die auf politische und theologische Ethik fokussiert sind, nicht von Belang. Diese Einschränkung macht es auch leichter, den dargestellten Thomas Cromwell mit Frank und Claire Underwood zu vergleichen, denn auch sie sind Kunstfiguren. Und darüber hinaus hat Mantel ihrem Cromwell gelegentlich mit Ironie, oft auch mit aktuellen Hintergedanken (Brexit!), Züge gegeben, die auf gegenwärtige Fragestellungen transparent werden.

Die Modernität ist gleich am Anfang zu spüren, ein Beispiel soll das illustrieren. Der dritte Teil von Mantels Tudor-Trilogie beginnt mit folgendem Satz: „Sobald der Kopf der Königin abgetrennt ist, geht er davon. Ein stechendes Hungergefühl erinnert ihn daran, dass es Zeit für ein zweites Frühstück ist oder vielleicht für ein frühes Mittagessen.“ (13) Der rollende Kopf Anne Boleyns symbolisiert Brutalität, Rohheit, Skandal - selbst im 16.Jahrhundert. Dem steht das Bedürfnis nach Frühstück gegenüber, also nach Normalität, Alltag, Routine. Mantel erzählt stets im Präsenz. Cromwell mit seinen vielen Ämtern und Titel, er wird stets als „er“ angesprochen. In diesem Roman geht das Groteske, Brutale, Gewalttätige stets in das Alltägliche, Routinierte gegenüber – und umgekehrt.

Man fühlt sich an Filme von Martin Scorsese erinnert, besonders an „The Irishman“[52]: Der spießige irische Familienvater in den Vereinigten Staaten der fünfziger Jahre sammelt Schmiergelder ein und ermordet mit verblüffender Kaltblütigkeit einen Gegner nach dem anderen, ohne dass die große, ausgleichende Gerechtigkeit, auf die die Zuschauer warten, eintreten und sich erfüllen würde. Diese provozierende Melange von Gewalt und Alltag zeigt sich bei Mantel ebenso wie bei Scorsese, und schon das führt dazu, dass die Romanerzählung Mantels nicht als finsteres, vergangenes Mittelalter aus der Gegenwart herausgeschoben werden kann. Auch bei Frank Underwood zeigte sich diese Mischung – etwa im Gegenüber von Morden, Intrigen und Täuschungen sowie Trainingseinheiten, Liebesaffären und dem Verzehr von gegrillten Rippchen. Das ist eines der wichtigsten Themen dieses Essays: das Verhältnis von Normalität, Alltag und einer politischen Ethik. Diese ruht auf zwei Säulen: einem Handlungsbegriff, der auf Skrupellosigkeit in der Wahl der Mittel beruht, und politisch-theologischen Zielsetzungen, die sich von der Hoffnung auf erfüllte Gerechtigkeit verabschiedet haben oder – im Falle Cromwells – im Begriff sind, dies zu tun.

Für die Gliederung dieses Teils orientiere ich mich an dem, was ich an der politischen Ethik und der Biographie der beiden Underwoods in ‚House of Cards’ analysiert habe. Ich beginne mit der Frage nach der Erzählweise Mantels und dem Verhältnis von Büchern und Fernsehserie (1.). Danach stelle ich Cromwells Biographie, Psychologie und Habitus vor (2.). All das wird aus dem Kontext seiner familiären Beziehungen entwickelt (3.). Der Politiker ist eine Person, der die Erinnerungen an die Vergangenheit wichtig sind; aus ihnen schöpft er seine politische Klugheit, aber auch seine Ängste (4.). Im Gegensatz zu Underwood besitzt Cromwell einen übergeordneten Gegenspieler, der ihn als Untergebenen betrachtet, nämlich König Heinrich VIII. (5.). Mantel verwendet viel Sorgfalt darauf, das Verhältnis zwischen dem König und seinem Berater (6.) darzustellen. Daneben verblassen alle anderen Figuren, wenn auch die Rolle der Frauen (7.) und des Adels (8.) von besonderem Interesse sind. Cromwell entwickelt eine eigene Form politischer Ethik (9.), die abgestellt ist auf die Verhältnisse der politischen Kultur Englands (10.), aber ebenso auf die englische Staatskirche, die sich unter Heinrich VIII. in einem komplizierten Ablösungsprozess von der römischen Weltkirche befand, eingeschlossen zunehmende Sympathien für die kontinentaleuropäische Reformation (11.). Es macht die große Kunst Mantels aus, dass sie gelungene Bilder und Metaphern findet, um die komplexe Rolle Cromwells bei Hofe zu beschreiben (12.). Danach steht die Reflexion über die nicht unerwartete Hinrichtung Cromwells (13.), bevor eine Reihe von Schlussbemerkungen (14.) diesen Teil beschließen.


1.    Trilogie

Die Fernsehserie, deren zweite Staffel in den letzten Jahren immer wieder angekündigt wurde, besitzt gegenüber den Büchern Mantels einen gravierenden Nachteil. Sie zeigt Cromwell reduziert auf einen royalen Adabei, der alles sieht und hört, aber wenig redet und handelt. Filmisch ist er im Grunde keine interessante Figur. Und der Drehbuchautor hat darauf verzichtet, seiner Hauptfigur eine innere Stimme zu geben, die aus dem Off Gefühle, Ideen oder Befürchtungen artikulieren würde. Genau das, der Wechsel von Erzählung zu innerem Monolog, in dem der berühmte Politiker seine Unsicherheiten offenbart, macht Hilary Mantels gelesene Figur in allen drei Bänden zu solch einem spannenden und ambivalenten Charakter. Der Film-Cromwell beobachtet nur das Geschehen um ihn herum, der Buch-Cromwell erinnert sich, er plant, er wird von großen Emotionen bewegt. Darum lohnt sich die Lektüre der drei umfangreichen Romanbände, während es in der Serie, wiewohl sie mit Preisen überhäuft wurde, nicht gelingt, die psychologische und politische Ambivalenz Cromwell über den Bildschirm zu vermitteln. Der Darsteller des Serien-Cromwell, Mark Rylance, gibt sich als großer Schweiger mit dem Gesicht eines Alkoholikers, ein stiller Teilhaber zwischen Eckensteher und Eckermann. Dieser Film-Cromwell muss keine öffentlichkeitswirksamen Auftritte suchen wie Frank Underwood, der das Präsidentenamt nicht nur anstrebt, um Macht ausüben zu können, sondern weil er sich in diesem Amt der amerikanischen Öffentlichkeit als politische Person präsentieren kann.

Im Vereinigten Königreich des 16.Jahrhunderts ist diese Stelle schon durch den König besetzt. Er zieht allen politischen wie religiösen Glanz auf sich. Zwar will auch der Roman-Cromwell Macht ausüben, aber seine Kunst besteht darin, das nur indirekt zu tun. In der ersten Folge der Serie sagt jemand zu Cromwell: „You have to pick your prince.“ Du musst dir deinen Fürsten – und deinen Vater – auswählen. Der (leibliche) Vater wird nicht zugeteilt, denn Cromwell hat sich von diesem gerade unter großer Anstrengung abgewendet. Ihn ersetzt der karrierebewusste Sohn durch den mächtigsten Vater, den es in England geben kann – den König. Damit ist ein Verhältnis zwischen Berater und König etabliert, das sich auswirkt auf das Verhältnis zwischen indirekter Machtausübung und öffentlicher Darstellung. Damit ist diejenige Spannung angebahnt, von der die drei Romanbände leben.

Wie schreibt nun Hilary Mantel? Sie erzählt die gesamte Geschichte im Präsenz. Sie hat eine Vorliebe für sehr kurze Sätze, in den Beschreibungen und in den Dialogen. Sie vermeidet reflektierende Passagen. Sie schreibt sehr konkret, entlang der Dinge, Fakten und Personen, versteckt sich ganz konventionell als gestaltende, allwissende Autorin. Sie spielt mit bestimmten Leitmotiven (Spiegel, Licht, Schmied, niedere Herkunft)[53], aber anders als beim Leitmotiv-Virtuosen Thomas Mann wird man nicht stets mit dem Zaunpfahl auf diese Motive gestoßen. All diese geschilderten Methoden begegnen dem Dilemma des historischen Romans: „Ein Problem des historischen Romans ist, dass seine Fakten bekannt sind. Keine Option für einen überraschenden Plot-Twist. Daher lebt dieses Genre davon, historischen Figuren Leben einzuhauchen.“[54]

Mantel erzählt nicht linear, sondern in Sprüngen. Cromwell wird in aktuellen Situationen immer wieder an das erinnert, was er schon in der Vergangenheit erlebt hat. Die Zukunft taucht auf in Abwägungen, Plänen und Perspektiven. In der jeweiligen aktuellen Gegenwart, so versucht es Mantel zu zeigen, bleiben für Cromwell Macht- und Zeitverhältnisse zunächst in der Schwebe. Solche Verhältnisse können nach dieser oder jener Seite ins Ungleichgewicht geraten. Und genau darin besteht Mantels Meisterschaft, dass sie die andauernde Ambivalenz von Cromwells Handeln und Entscheiden plausibel darstellen kann. Er ist gefangen zwischen einer Vergangenheit, die er nicht mehr verändern kann, obwohl das gerne tun würde, und einer Zukunft, deren Optionen er nicht genau ausrechnen kann. Genau diese Darstellung der Ambivalenz gegenwärtiger Entscheidungen ist auch eine Stärke von ‚House of Cards‘, selbst wenn die amerikanische Serie nicht ebenso viel Aufmerksamkeit auf die Kindheit und Jugend von Francis und Claire Underwood legt wie Mantel in ihrer Trilogie auf Kindheit und Jugend ihrer Hauptfigur. In ‚Spiegel und Licht‘ zeigt sich Cromwell in Grübeleien, Rückblenden, kurzen Szenen: Er drängt sich nicht auf, versteckt sich gern. Er ist hervorragend in der Lage, die Befindlichkeiten und Hintergedanken von Menschen um ihn herum zu lesen und zu kommentieren.

Wenn man etwas Kritisches über Mantels Romanpersonal außer den beiden Hauptfiguren, dem König und seinem Chefberater, sagen will, dann das, dass sie trotz aller Details, Farben und Zwischentöne manchmal flach bleiben. Sie wirken gelegentlich ganz papieren, ihnen fehlt es dann an psychologischer Tiefe. Und nach tausend Seiten fällt es dem Leser immer noch schwer, Lords, Hofdamen, Generäle und Bischöfe voneinander zu unterscheiden. Detailreichtum, die große Stärke Mantels, bedeutet nicht selbstredend psychologische Subtilität. In manchen Rezensionen ist die Lektüre darum als langatmig und ermüdend bezeichnet worden.

Aber hier soll der Fokus nicht auf Literaturkritik, sondern auf politischer Ethik liegen. Und dafür sind die Öffentlichkeiten interessant, innerhalb derer sich Cromwell virtuos bewegt. Der Leser begleitet ihn dabei, wie er in vier Öffentlichkeiten hineinwirkt:

1. Er denkt bei sich selbst über seine Gefühle und seine Handlungsoptionen nach. Mantel lässt den Leser immer wieder am stream of consciousness Cromwells teilhaben.

2. Er diskutiert auch wichtige politische Optionen privat mit seiner Frau, mit seinem Sohn und mit seinen engsten Mitarbeitern.

3. Er redet bei Hof, mit anderen Ratsmitgliedern, mit dem Adel, den Bischöfen, den wichtigen Funktionsträgern, die wiederum alle versuchen, den König zu beeinflussen.

4. Es zeichnet Cromwell zu den Zeiten seiner größten Macht aus, dass er einen privilegierten Zugang zum König erhält. Es deutet früh seinen Niedergang (seine folgende Verhaftung und Hinrichtung) an, dass er diesen privilegierten Zugang wieder verliert.


2.    Cromwell, der typische Politiker aus London

Der Cromwell von Mantels Romanen trägt individuelle wie typische Züge. Rückblenden und Flashbacks gehören zu den Charakteristika von Mantels Romanen. Außerdem hat sie einen besonderen Sinn für Wiederholungen und Analogien, besonders sichtbar in der Parallelisierung der Hinrichtung von Anne Boleyn und Cromwells eigener Hinrichtung. Er, der Boleyns Hinrichtung orchestriert und auf den Weg gebracht hatte, findet sich am Ende als Opfer eines Komplotts, bei dem die Verschwörer dieselben Methoden benutzen wie er. Darauf werde ich eigens noch eingehen[55].

Cromwell ist der Sohn eines Londoner Schmieds und Brauers, eines Alkoholikers, der seinen Sohn regelmäßig verprügelte. Der aber schafft es, sich hochzuarbeiten, er geht als Soldat auf den Kontinent, lässt sich in Italien und Antwerpen zum Kaufmann und Tuchhändler ausbilden. In einem Antwerpener Kontor kommt er zu einigem Reichtum. Früh zeigt er Sympathien für die deutsche Reformation. Er hasst Mönche und Äbte, die in ihrem Lebenswandel von der frommen Mönchsregel abweichen. In England arbeitet er nach der Rückkehr aus Europa als Sekretär des einflussreichen Kardinals Wolsey, der eigentlichen Vaterfigur für Cromwell. Den Tod des Kardinals wird er nie verwinden. Er bemüht sich vergeblich darum, die Gegner zu rächen, die den Kardinal zu Fall gebracht haben. Er trauert um seine Frau und seine beiden Töchter, die sehr jung an der Pest sterben. Er gerät früh ins Blickfeld Heinrichs VIII. und steigt zu seinem wichtigsten Berater auf, weil er die Launen und Marotten, Wünsche und Gefühle des Königs am besten zu lesen weiß. Man denkt an eine Führungsfigur wie Underwood und staunt, dass sich Cromwell nur als Begleiter und Wachhund charakterisiert: „Ein Metzgershund ist stark und tut, was von ihm erwartet wird. So bin ich, und ich bin ein guter Hund. Sage mir, ich soll etwas bewachen, und ich tue es.“ (205) Cromwell kehrt nicht den Chef heraus, sondern arbeitet als Begleiter, Berater oder gar als - Coach. Treue und Pflichtbewusstsein gegenüber dem König zeichnen ihn aus. Er entwickelt keine eigenständige Politik, er richtet sich nach dem König. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Francis und Claire Underwood. Der Hund passt als Metapher nicht in das moderne Bild eines Politikers hinein.

Der ältere Cromwell legt, was sein Aussehen angeht, an Bauchumfang zu. Trotzdem achtet er auf gutes Aussehen und Kleidung (306. 421f.). Auch wenn es nur um seine äußere Erscheinung geht, Cromwell kann einfach nicht aufhören, sich mit seinem Vater zu vergleichen. Der Vater klebt an ihm; seine Herkunft kann er niemals verleugnen. An einer Stelle bezeichnet Mantel ihren Helden als eine „vierschrötige, einfache Gestalt in Kammgarn“ (647). Cromwell kann also nicht besonders schön gewesen sein. Je älter er wird, desto mehr Mühe hat er mit dem Sehen. Er benutzt eine Brille (275).

Cromwell schreibt Tagebücher (491), ebenso an einem ganz besonderen Fürstenspiegel, auf den ich noch komme. Durch seine politische Tätigkeit wird Cromwell reich; er sammelt in seinem Hauptwohnsitz Austin Friars Urkunden, Andenken und Preziosen (101). Mantel zeichnet ihn als einen pragmatischen Intellektuellen mit weitreichenden Interessen. Dank seiner Ausbildung in Italien und Antwerpen beherrscht er mehrere Sprachen (516). Er ist mehr Intellektueller und Funktionär als ein dem Hofzeremoniell verpflichteter Adliger. Dieser Gegensatz von Funktionären und Adligen ist für den Roman ganz entscheidend, darauf komme ich noch zurück.[56] Funktion und sozialer Stand sind mit Herkunft verbunden. Er bemerkt das in seinen Beobachtungen des Stadt- und Hoflebens. Diese führen ihn dazu, regelmäßig auf sein Leben zurückzublicken. An einer Stelle (90f.) spricht Cromwell von den sieben Leben, die er durchlebte.

1. Als Kind hat ihn sein Vater geprügelt.

2. Als Junge hat er Schulden eingetrieben und als Soldat in Frankreich gekämpft.

3. In Italien hat er eine Kaufmannslehre durchlaufen.

4. In Antwerpen arbeitete er in einer Niederlassung englischer Kaufleute.

5. Als Jurist hat er Kardinal Wolsey beraten.

6. Er wurde zum ‚Master Sekretär‘ des Königs ernannt.

7. Als Lord Cromwell gelangte er zu größter Macht.

Der älter werdende Cromwell sehnt sich nach seiner Kindheit zurück, um der Komplexität seines gegenwärtigen Lebens zu entkommen und in eine erinnerte Kindheit als eine Art Land der Unschuld zurückzukehren (278). Dabei war diese Kindheit bei genauerer Betrachtung gar nicht so glücklich, und gelegentlich hat er Schwierigkeiten, sich selbst als Kind zu imaginieren (588). Er hat als Junge, der von seinem Vater weglief, bei einer Reihe von Einbrüchen mitgemacht, vor allem als Wache, die vor Entdeckung warnen sollte. Dazu kamen weitere kriminelle Aktivitäten (437). Als Beispiel nennt er, dass er eine Vergewaltigung beobachtete. Und er weiß, dass er auch als Politiker nicht jedes Unrecht verhindern kann: „Mit zunehmendem Alter wurde er vorsichtig bis zu einem gewissen Grad. Er sündigte, sündigte schlimm, wählte für gewöhnlich aber den richtigen Zeitpunkt.“ (438)

Aber der junge Cromwell ist nicht nur an kriminellen Handlungen beteiligt, er wird auch von anderen gekränkt, gedemütigt, beleidigt, zurückgesetzt. Dies zeigt Mantel am Konkurrenzverhältnis zu einem namenlosen Aaljungen (684f.), für dessen Tod Cromwell verantwortlich ist (282).

Die Kindheitserinnerungen verdichten sich zu der von ihm selbst, aber auch von anderen häufiger geäußerten Bemerkung, er sei der Sohn eines Schmieds und er stamme aus dem heruntergekommenen Londoner Stadtteil Putney (507). Was Putney ausmacht, das fasst Mantel in der Schilderung einer Reihe von Gerüchen zusammen: „Er versucht es zu bändigen, es zurück in Heute, hierher an diesen Ort zu holen, doch es schweift umher. Er riecht verdrecktes Stroh und abgestandenes Wasser, das heiße Fett der Schmiede, Pferdeschweiß, Leder, Gras, Hefe, Talg, Honig, nasses Hundefell, verschüttetes Bier, die Wege und Anleger seiner Kindheit.“ (842f.) Die Kindheit lässt keinen Menschen los, auch Cromwell nicht, und sie wird ihm als niedere soziale Herkunft in seiner politischen Gegenwart ständig vorgehalten. So bezeichnet der königliche Narr Sexton Cromwell wiederholt als Schmiedejungen (445). Die Aromen aus der Kindheit haften an ihm, und seine Gegner nutzen das, um aus Konkurrenzgründen seine Herkunft herabzusetzen.

Umso wichtiger wird für ihn der Weggang aus dem Elternhaus. Er macht sich auf eine Reise ins Ausland, um Italienisch, Französisch und Latein zu lernen und um eine Ausbildung zum Kaufmann zu absolvieren. Der häufiger erwähnte (z.B. 135) Italienaufenthalt ist eine Lehrzeit. Mantel erwähnt sogar das bekannte Buch von Iris Origo[57] über die italienische Kaufmannskultur der Renaissancezeit (201).

In Italien arbeitet Cromwell im Tuchhandel. Deswegen achtet er sehr darauf, wie sich seine Freunde und Gesprächspartner kleiden, besonders auf die Farben (65). Cromwell lernt, Tücher nach ihrem Wert zu beurteilen (86). Sein Mentor, der verstorbene Kardinal Wolsey, trug stets Kardinalsrot in verschiedenen Variationen, die seine Stimmung widerspiegelten. Cromwell selbst trägt stets dunkle Farben, um nicht zu sehr aufzufallen.

Cromwell als großartiger Politikberater und spin doctor bei Hofe fällt nicht vom Himmel, er weiß, wie sehr er auf seine Ausbildung in Italien und Antwerpen angewiesen ist. „Aber Florenz brachte ihm Glück. Dort und in Venedig, in Rom, lernte er, wie er sich zu verhalten hatte: verschlagen, immer mit einem Blick zur Seite, immer aufmerksam, immer bereit, beleidigt zu sein oder so zu tun, bereit auch, mit einem beschwichtigenden Wort zurückzuweichen, wenn es schlecht für ihn stand. (…) In Italien hast du gelernt, dich mit List zu verhalten, in Antwerpen, dich anzupassen.“ (515) Um es deutlich zu sagen: In Italien lernt er, sich zu verstellen und auf seinen Vorteil zu lauern. Später werfen ihm Gegner vor, sich wie eine Schlange (142) zu verhalten. Er aber denkt über sich als Spürhund (ebd.), eine Stelle, die in diesem Essay bereits zitiert wurde, im Roman aber erst spät auftaucht. Noch später im Roman erinnert sich Cromwell, dass ihn sein Onkel, bei dem er nach seiner Flucht vor dem Prügelvater eine Zeitlang gelebt hatte, schon früh seine Verschlagenheit getadelt hat (282).

Mit der Verschlagenheit paart sich Risikobereitschaft. Aus seiner Jugendzeit in Italien beim Heer erzählt Cromwell, er habe mit seinen Kumpeln gewettet, er würde eine Schlange in die Hand nehmen, von der man nicht wusste, ob sie giftig war. „Aber ich hielt die üble Kreatur, bis es mir gefiel, sie wieder freizugeben. Ich habe ihr Gift in meinem Körper gelassen, ohne dass ich gestorben wäre, und die Kameraden haben mir die Taschen mit Geld vollgestopft. Gott verdamme jeden, der sagt, ich hätte es nicht verdient.“ (830) Cromwell ist bereit, ein großes Risiko einzugehen, das aber erscheint in diesem Fall als leichtsinnig. Risikobereitschaft unterscheidet sich von Underwoods Flipism, bei dem es egal ist, in welche Richtung die Verhältnisse sich entwickeln.

Cromwell weiß sehr genau, dass eigene Eitelkeit und die überhebliche Gewissheit, stets Erfolg zu haben, in die Irre führen können. Trotzdem kann er sich von diesem Gefühl nicht völlig frei machen. „Es gibt Momente, da ihn in Erfüllung seiner Pflichten ein starkes Hochgefühl erfasst – ihn Cromwell, den Lordsiegelbewahrer. Aber er würde es niemals jemandem gegenüber zugeben: Sie würden ihm einen Vortrag über die Wechselhaftigkeit des Glücks halten.“ (459) Eitelkeit kann dazu verführen, die eigenen Planungen zu wichtig und zu selbstverständlich zu nehmen (ebd.). Gegenüber der Episode mit der Schlange in Italien zeigt das einen Reifungsprozess. Cromwell verhält sich angesichts der Unberechenbarkeit des Lebens und des politischen Geschehens sehr viel vorsichtiger, als er das als übermütiger junger Mann getan hat. Das erinnert nun sehr viel mehr an den berüchtigten Flipism von Donald Duck und Frank Underwood. Auch wenn die Lösungen in verschiedene Richtungen deuten, Underwood wie Cromwell lernen im Lauf ihrer Karriere, sich mit den unberechenbaren Auswirkungen der Kontingenz zu befassen, sie zu ertragen und politisch nutzbar zu machen.

Risikobereitschaft und Verschlagenheit werden fundiert von einer sehr genauen Beobachtungsgabe. Cromwell nimmt nicht nur die Worte, sondern auch die Gesten und Mienen seiner Mitarbeiter, Kontrahenten und Konkurrenten genau wahr (89). Er hat verstanden, dass ihm solche Beobachtungen helfen, seinen Konkurrenten stets einen Schritt voraus zu sein. Es zeichnet ihn aus, dass er über seine Beobachtungen sehr genau reflektiert, über das, was er psychologisch, ökonomisch und politisch verfolgt. Es kommt für ihn darauf an, soziale (und politische) Rangordnungen sowie Milieuunterschiede genau zu beobachten. In einer Monarchie ist derjenige am wichtigsten, der an der Spitze der Hierarchie steht und von Gottes Gnaden einen Ausnahmerang einnimmt, der ihn als König von allen anderen Menschen unterscheidet.

Das bedeutet auch, dass er sich mit dem gesprochenen Wort oft sehr zurückhält. Cromwell muss nicht alles kommentieren, manchmal schweigt er. Er geht nicht auf jede Diskussion und jede Intrige ein (262). Er stellt seinen Erfolg und seine Eitelkeit nicht zur Schau, um möglichst niemanden zu provozieren und keinen Neid zu erregen: „Wenn du dich über dein Glück wunderst, solltest du das im Geheimen tun, dich nie von anderen dabei beobachten lassen.“ (278) Denn gerade darin macht sich der Mächtige schwach, dass er auf seine verwundbaren Stellen zeigt. Es besteht für Cromwell ein Unterschied zwischen der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit und dem Grübeln über die eigenen Selbstzweifel im Privaten. Auch wenn Mantel diese Selbstzweifel ausführlich beschreibt: Cromwell hat sich, wenn er vor anderen auftritt, im Griff. Er ist der Herr über seine Emotionen. „‘Ich denke nicht, dass ich noch einmal weinen werde‘, sagt er. ‚Ich bin mit den Tränen durch.‘“ (363) Er zahlt aber auch einen Preis dafür, dass er Emotionen unterdrückt oder zurückhält.

Die Pläne und Ziele, die Cromwell politisch verfolgt, hält er ebenso zurück, um sich nicht angreifbar zu machen. Wer, wie einer seiner Gegner, zu oft laut denkt, dem wirft er Torheit vor (128). Nur an ganz wenigen Stellen beschreibt Mantel, wie die Emotionen doch mit ihm durchbrechen. Das gilt zum Beispiel für den einen beinahe gewalttätigen Zornesausbruch, als einer seiner Intimfeinde, der Herzog von Norfolk, den verstorbenen Kardinal Wolsey, seinen politischen Mentor als Dieb, Betrüger und Feind des Adels brandmarkt (841f.).

In den meisten Fällen schützt sich Cromwell durch Höflichkeit vor den eigenen überbordenden Emotionen, jedenfalls solange ihn jemand öffentlich beobachten kann. Bei der Hinrichtung Anne Boleyns, die Mantel gleich am Anfang erzählt, gerät er in einen Streit mit einem der höher gestellten Herzöge. Daraufhin denkt er über Höflichkeit nach, die er als Schutz vor den eigenen aufbrausenden Affekten begreift. Die Haltung der Höflichkeit lebt von dem Wunsch, es sich als Politiker und Hofbeamter mit niemandem zu verderben. Als solcher weiß man nie, wozu eine Person noch nützlich sein kann. Das versucht er auch seinem Sohn zu vermitteln, der als Zuschauer an der Hinrichtung Boleyns ebenfalls teilgenommen hat. „Sei dir in der Öffentlichkeit immer dessen bewusst, hat er ihm erklärt, dass die Leute dich beobachten, um zu sehen, ob du dazu taugst, mir im Dienst für den König nachzufolgen.“ (18) Im Grunde geht es hier um etwas sehr viel Prinzipielleres als um die Nachfolge in einem Amt. Wer sich in der Öffentlichkeit bewegt, wird gesehen und beurteilt – immer. Öffentlichkeit ist Performanz, Darstellung, Zurschaustellung des eigenen Selbst. Wer Politik betreibt, der verstellt sich und spielt auch Theater.

Mantel macht neben den Selbstzweifeln auch zum Thema, dass Cromwell die Gerüchte nicht beherrscht, die in der Öffentlichkeit über ihn im Umlauf sind (z.B. 704). Die Bevölkerung ist mit zunehmender Distanz von London auf Gerüchte und Hörensagen angewiesen: „Je weiter er sich von London wegbegibt, desto fremdartiger wird Cromwell. In Essex ist er ein berechnender Schwindler (…). In den Tälern Yorkshires ist er ein Magier mit Sternen (…), in Carlisle ein Ghul (…).“ (405f.) Das gehört zum Konstruktionsprinzip der Romanerzählung. Die Autorin löst alle feststehenden Fakten in Ambivalenzen und Vermutungen auf. Sie erzählt keine Geschichte der (feststehenden) Fakten, sondern eine Geschichte der Planungen, Hoffnungen, Ziele. Dabei sind nicht nur die Ziele Cromwells wichtig, sondern auch die des Königs, seiner Frauen, des Kaisers, des spanischen und französischen Königs und der deutschen Kurfürsten, des Adels, der Bischöfe und der Bevölkerung und vieler anderer mehr. So wird die Eindeutigkeit des Gewesenen, die häufig die historische Darstellung ausmacht, ambivalent und vieldeutig, und genau das macht die enorme Stärke des Romans aus, welche sich für eine aktuelle politische Ethik weiter reflektieren lässt. Und das verhielt sich bei ‚House of Cards‘ im Übrigen ähnlich, auch wenn die Serie eine vollständig fiktive Geschichte erzählt.


3.    Familienbande

Die familiäre Herkunft ist – wie angedeutet – eines der wichtigsten psychologischen Themen dieses historisch-politischen Romans. Cromwell kann sich zeitlebens nicht von der affektiven Bindung an den Vater befreien, weil dieser seinen Sohn traumatisiert hat. Die zitierte Bemerkung, er verstehe sich ganz schlicht als ein Metzgershund für den König, weist den Weg zur psychologischen Konstruktion des Romans, die beinahe ausschließlich durch Vater-Sohn-Beziehungen geprägt ist. Aus der schwierigen Beziehung zum (leiblichen) Vater[58] wird eine komplexe Beziehung zum Ersatzvater Kardinal Wolsey. Und aus dieser geht die noch komplexere Beziehung zum König hervor. An manchen Stellen erweist sich Cromwell avant la lettre als Analytiker von Urhorde und Penisneid: „Der Vater liebt den Sohn, aber der Sohn nicht den Vater. Der Sohn will ihn loswerden. Seinen Platz einnehmen. So geht es. Natürlich. So muss es sein.“ (119)

Der Sohn liebt seinen Vater nicht, weil dieser den jungen Thomas bis zur Besinnungslosigkeit verprügelt. Das ist eine der Schlüsselszenen der Trilogie. Cromwell erkennt: Selbst die Menschen, die ihm wie Vater und Mutter eigentlich in Liebe zugetan sein sollten, können ihm schaden und ihn verletzen. Die erlittenen Blessuren nach den Prügeleien machen schon den jungen Mann zu einem misstrauischen Menschen. Der Vater spürt, dass ihn mit dem Sohn wenig verbindet, sie können keine Beziehung zueinander entwickeln. „You were always a talker”, ein Schwätzer, der nichts zuwege bringt, so blafft er seinen Sohn in der Fernsehserie verächtlich an. In seinem Selbstverständnis übt der Vater als Schmied und Brauer wenigstens ein produktives Handwerk aus. Hier findet sich Cromwells soziale Achillesferse: Die Reichen, die Adligen und die alteingesessenen Familien werden ihm diese ‚niedere‘ Herkunft immer wieder vorhalten. Er ist nur der Sohn eines Schmieds. Ihm fehlt ein über Generationen reichender Stammbaum.

Was den jungen Cromwell vor allem prägt, ist seine Entscheidung, alles ganz anders zu machen als sein prügelnder und dauernd betrunkener Schmiede-Vater. Diese Entscheidung muss er gegen den Widerstand von Konvention, Psychologie und Moral durchkämpfen. „Die Leute fordern dich ständig auf – merkst du das? -, zu vergeben und zu vergessen. Ständig drängen sie dich, mach es wie dein Vater, Junge: Sei, was dein Vater war.“ (523) In seinen Träumen empfindet Cromwell große Wut gegenüber seinem Vater. „Aufgewühlt wachte er auf, mit Wut überflutet.“ (524) Dieses Vater-Thema zieht sich durch den gesamten Roman, Mantel flicht es wiederholt in die Grübeleien Cromwells hinein. Er wird den Vater nicht los.

Demgegenüber tritt die Bedeutung von Frauen in Cromwells Leben zurück. Das gilt zuerst für seine eigene Mutter. Das gilt aber auch für die Frau, die er heiratet und für die beiden Töchter, die sie gemeinsam bekommen. Alle drei, Ehefrau und Töchter, sterben an der grassierenden Pest. Cromwells Frau durchschaute ihren Mann offensichtlich sehr genau und stellte sich genauso pragmatisch darauf ein: „Es gab auch eine Liste mit seinen Sünden, die sie in der Tasche ihrer Schürze bei sich trug, von Zeit zu Zeit hervorholte und durchsah.“ (521) So praktisch ging es im Cromwellschen Haushalt zu. Seine eigene Ehe beschreibt er im Rückblick so: „Er hatte geschafft, ein guter Ehemann zu sein: vorausblickend und treu. Tatsächlich war er außerordentlich vorausblickend und weitgehend treu.“ (522) Das deutet außereheliche Affären an – auf die Ausnahme der ‚vorehelichen‘ Tochter Janneke komme ich sofort -, aber Mantel nicht davon. Cromwell erscheint im Gegensatz zum König Heinrich VIII. gerade nicht als ein Mann, der übermäßig an Sexualität interessiert wäre. Nachdem die weiblichen Mitglieder seiner Familie der Pest zum Opfer fielen, heiratet er nicht wieder. Allerdings verfolgen ihn in seinen Träumen die beiden geliebten Töchter (396. 524).

Eines Tages taucht in Cromwells Haus eine junge Frau auf, die sich als (von Mantel erfundene, nicht historische) uneheliche Tochter Cromwells, Janneke entpuppt (500f.). Jannekes Mutter ist Anselma, seine Lebensgefährtin zu Antwerpener Zeiten (301). Janneke, so wird schnell klar, neigt einer apokalyptisch-protestantischen Sekte zu, was den Vater vorsichtig werden lässt. Nachdem sie wieder nach Antwerpen zurückgekehrt ist, trauert er ihr nach, aber es kommt zu keinem zweiten Besuch.

Was nun eine Wiederverheiratung angeht, so macht Cromwell einen einzigen Versuch der Werbung. Er möchte ausgerechnet die uneheliche Tochter seines Mentors, Kardinal Wolsey heiraten (354). Diese lebt offensichtlich unter anderem Namen in einem Kloster und ist auf den Besuch des potentiellen Ehemannes vorbereitet. Den Heiratsantrag lehnt sie kühl ab, und sie macht ihm darüber hinaus Vorwürfe, der Einheit der katholischen Kirche politisch und theologisch zu schaden (361). Der Heiratsantrag Cromwells gilt auch offensichtlich nicht Wolseys Tochter als Frau, sondern psychologisch verdeckt viel eher der Tochter ihres Vaters. Auch diese Episode vergeblicher Brautwerbung zeigt deutlich, dass Cromwells Leben psychologisch von seiner Vaterbeziehung bestimmt ist.

Weitere Äußerungen und Episoden weisen darauf, dass er für erotische Avancen nicht empfänglich ist und auch umgekehrt anderen Frauen solche Avancen nicht macht. Einer seiner Mitarbeiter fragt Cromwell, ob er jemals verliebt gewesen sei. Und er antwortet: „‘Es ist mir versagt geblieben.‘ Er erinnert sich, dass er Rafe gefragt hat. Wie fühlt es sich an? Obwohl Wyatt ihm die äußeren Anzeichen bereits erläutert hatte. Die brennenden Seufzer, das eisige Herz. Oder war es andersherum?“ (233f.) Das wirkt ebenso ratlos und dumpf wie hausbacken und spießig. In Cromwell brennt kein erotisches Feuer. Und er nutzt das deshalb aus, weil er beim König sieht, wie dieser durch erotische Avancen anderer Frauen abgelenkt und gesteuert wird. Cromwell dagegen kann kühl bleiben, wo andere sich im Herzen engagieren.

Was die Erotik angeht, so erinnert Mantel an eine nach damaligen Maßstäben unschickliche Szene, in der Cromwell die hochschwangere Anne Boleyn nur mit einem Hemd bekleidet im Bett liegen sieht. Er legt eine Haarsträhne der Königin zurück auf das Bett. Es folgt ein Eklat. „Ihre Augen sprangen auf. Ihr Blick glitt über ihn. Sie schenkte ihm ihr merkwürdiges, langsames Lächeln. Da wusste ich (würde er später sagen), dass Anne nicht beim König haltmachen, sondern sich viele Männer nehmen würde (…). Aber mich schließlich nicht.“ (236) Ist da Enttäuschung zu hören? Ich bin mir nicht sicher. Er weiß, er wäre wie Anne Boleyn hingerichtet worden, wenn eine solche Affäre publik geworden wäre. So wird er die vorgeblichen Affären Boleyns dazu nutzen, mit Billigung des Königs ihren Sturz herbeizuführen.

Cromwell hatte einen einzigen Sohn, Gregory. Er hat die Pest überlebt und wächst, umsorgt von seinem Vater, bei ihm auf. Er wird für eine Karriere bei Hofe vorbereitet. Als Cromwell bei der Witwe Bess Oughtred für seinen Sohn Gregory um deren Hand anhält, kommt es zu einem charakteristischen Missverständnis, denn die Witwe war der Meinung, Cromwell senior wolle um ihre Hand anhalten (597ff.)

Der Sohn Gregory erfährt von dem Missverständnis mit seiner zukünftigen Frau und sagt zu seinem Vater: „‘So viele Worte, Eide und Taten, dass die Leute, wenn sie in zukünftigen Zeiten davon lesen, kaum glauben werden, dass es einen Mann wie Lord Cromwell wirklich gegeben hat. Sie machen alles. Sie haben alles. Sie sind alles. Und so bitte ich Sie, gestehen Sie mir einen Zoll auf Ihrer weiten Erde zu, Vater, und lassen Sie mir meine Frau.“ (621) Der Sohn resigniert vor seinem Vater, wie dieser vor seinem eigenen Vater resigniert hat und wie die Schriftstellerin – das meine ich deutlich herauszuhören – gelegentlich vor ihrem eigenen Protagonisten kapituliert.


4.    Erinnerungen, Tote und Hinrichtungen

Die psychologisch-kulturelle Positionierung der Vergangenheit wird zu einem entscheidenden Moment der gesamten Romankonstruktion von ‚Spiegel und Licht‘. Vergangenheit ist der Resonanzraum gegenwärtiger Entscheidungen. Vergleichbare Ereignisse aus der Vergangenheit werden stets herangezogen, wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen in der Gegenwart zu treffen. Umgekehrt entwickelt die Vergangenheit in Alpträumen, Träumen, Visionen und Grübeleien aber auch ein Eigenleben, das auf ganz eigene Weise Cromwells Gegenwart beeinflusst. Vergangenheit erinnert an geschehene Schuld, die nicht mehr verändert werden kann. Cromwell ist für sein Gedächtnis bekannt, worüber sich der König mokiert (29). Er hat dieses Gedächtnis geschult, indem er die Mnemotechniken der Renaissance und der Antike zu beherrschen lernte (1054).

Cromwell konzediert dem König als einzigem, dass er Herr über die Zeit ist und sich für die Fehler der Vergangenheit nicht rechtfertigen muss, jedenfalls nicht vor Menschen (237f.) Sein Berater dagegen muss sich verantworten, und zwar gerade vor seinen Widersachern: „Muss ich Bischof Stephen (Gardiner wv) fragen, der mir erklären wird, wie meine Verbrechen mich verfolgen, und mir erklären wird, dass meine Sünden mich schon aufspüren werden?“ (315) Die Schuld aus der Vergangenheit lässt sich nicht vertreiben. Die Pointe des letzten zitierten Satzes besteht darin, dass Bischof Gardiner ein alter und andauernder Feind Cromwells aus den Tagen Kardinal Wolseys ist, dessen Intrigen schließlich zu seiner Hinrichtung führen werden. Und das Sündenthema ist schließlich das Thema der Reformation, wenn auch Gardiner zu deren heftigsten Gegnern zählt.

Am Ende seines Lebens, während er in der Zelle sitzt und auf sein Urteil wartet, resümiert Cromwell seine Lebenserinnerungen. Er weiß, dass nicht seine privaten Erinnerungen überleben werden, sondern das Bild, das andere sich von ihm gemacht haben: „Er muss sein ganzes Leben durchwandern, wachen und schlafen: Du kannst deine Erinnerungen nicht in dieser Welt zurücklassen, damit andere sie übernehmen.“ (1054) Das ist ein kryptischer Satz, es ist nicht richtig deutlich, was damit gemeint ist. Am ehesten deutet er darauf, dass niemand die (öffentliche) Erzählung seiner Lebensgeschichte völlig in der Hand hat, weder in der Zeit, solang er lebt, noch in der Zeit nach seinem Tod. Das könnte eine Anspielung darauf sein, dass Cromwell bis heute zu den umstrittensten politischen Figuren der englischen Geschichte gehört.

Cromwell denkt an die Toten, über die er auf dem Weg seines Lebens getrauert hat. Immer wieder bringt Cromwell in Gespräche auch Vorahnungen auf seinen eigenen Tod ein. Im Gespräch mit dem kaiserlichen Botschafter Chapuys sagt er einmal: „‘Es ist egal, was ich empfehle. Diese Geschichte bricht mir den Hals. Ich bin ein toter Mann.‘“ (158) Für die Autorin wird das Gespräch selbstverständlich zum vaticinium ex eventu. Das ist aber nicht das Entscheidende: Im Grunde sollen solche Bemerkungen zeigen, dass Cromwell nie in der Lage sein wird, sich dauerhaft in seiner privilegierten Machtstellung zu halten. Das politische Geschäft bleibt trügerisch und dem Zufall unterworfen.

Und die negativen Folgen dieser Zufälle erscheinen Cromwell in Gestalt der Toten, die ihn bedrängen. Cromwell denkt über eine Sentenz des Botschafters Chapuys nach, der gesagt hat, „mit den Lebenden kann man verhandeln, mit den Toten dagegen nicht.“ (106) Viele der Toten (Thomas More, Kardinal Wolsey, Anne Boleyn) erscheinen Cromwell in Träumen oder Visionen. Cromwell spricht mit ihnen, sie quälen ihn. Er meint, ihnen nicht gerecht oder ihnen gegenüber schuldig geworden zu sein. Am Ende, als er selbst hingerichtet wird, muss er an seinen toten Vater denken. Er ist der wichtigste Tote in seinem Leben, derjenige, der ihm am häufigsten ein schlechtes Gewissen bereitet. Gerade weil er ein gutes Gedächtnis hat, kann er die vielen Verstorbenen schlecht verdrängen (vgl. 257).

Die Toten bleiben in seiner Erinnerung anwesend. „Die Toten ziehen über die Wege des nächsten Lebens wie Fremde, die sich in Venedig verlaufen haben.“ (279) Cromwell denkt dabei häufig an die Männer, die als angebliche Liebhaber Anne Boleyns hingerichtet wurden. Denn sie bereiten ihm doch ein schlechtes oder mindestens beunruhigtes Gewissen. Die ‚lebenden‘ Toten weisen darauf hin, dass es am Ende der Zeit noch einmal zu einem Gericht kommen könnte, bei dem die bisher zu kurz gekommene Gerechtigkeit ausgeglichen wird. Und die Toten hören mit ihrer Anklage nie auf: „Was die Toten von dir halten, ist nicht zu ändern.“ (365) Sie erscheinen Cromwell in Visionen, besonders sein Mentor Kardinal Wolsey: „Die Toten sind übergroß in unseren Augen, während wir ihnen wie Ameisen erscheinen. Sie sehen aus Nebeln auf uns herab wie die mystischen Tiere von Kirchtürmen. Wie Fahnen wehen sie über uns.“ (440)

Noch der tote Kardinal Wolsey ist psychologisch so wichtig für Cromwell, dass dieser in einem Kästchen einen Ring des Kardinals mit türkisfarbenem Stein aufbewahrt. Wolsey wie Cromwell sind beide soziale Aufsteiger. Cromwell führt mit dem toten Wolsey ein virtuelles Gespräch, und beide proben ihre Gespräche mit dem König vorher mit Hilfe von Puppen: „Es heißt, der Kardinal hatte in den Tagen seiner Macht eine Wachsfigur des Königs, mit der er redete und die er nach seinem Willen bewegte. Er, Lord Cromwell, verfügt über einen wächsernen Henry in seiner Fantasie, angemalt mit leuchtenden Farben und mit vergoldeten Schuhen. Er lebt mit ihm, spricht aber nicht ihm. Er hat Angst, dass er ihm antwortet.“ (778) Er bemerkt, dass seine virtuelle Konstruktion von König und Berater nicht mehr richtig funktioniert. Mehrfach im Roman ist von dem „Geist“ Wolseys die Rede (494. 638), der in den Träumen, Visionen und Grübeleien Cromwells präsent ist.

Das ist ein großer Unterschied zwischen Cromwell und Frank Underwood. Cromwell nimmt die Toten ernst, während sie Underwood in der Regel ignoriert, zum Beispiel seinen toten Alkoholikervater, an dessen Grab er kein Gebet spricht. Trotzdem geistern die Toten auch in seinen Alpträumen herum. Aber Underwood scheint Träume und Visionen nicht so ernst zu nehmen wie Cromwell.

Es gehört zur Grundkonstruktion des Romans, den Mantel geschrieben hat, dass die vielen Hinrichtungen der Vergangenheit (Anne Boleyn, ihre angeblichen Liebhaber, Thomas More, Mönche, Theologen) am Ende des Romans auf Cromwells eigene Hinrichtung hinauslaufen. Cromwell war besessen von Toten und Hinrichtungen, vom König und seinen Frauen, von Macht und Glauben, von feinem Tuch und gänzlicher Unauffälligkeit. Er wäre in der Moderne ein ebenso guter Politiker geworden wie Frank Underwood.

Die Toten geistern durch die Erinnerungen Cromwells, besonders diejenigen, die hingerichtet wurden. Schon als Junge hat Cromwell Hinrichtungen beobachtet (694. 765). Bei den hingerichteten Delinquenten stellt sich in besonderer Weise die Frage nach der Gerechtigkeit. Bei manchen Hingerichteten lehnt es Cromwell ab, von Gerechtigkeit zu sprechen, stattdessen favorisiert er Machiavellis Begriff der „necessità“, den Cromwell wörtlich zitiert, ohne an dieser Stell Machiavellis Namen zu nennen.[59] Das tut er anderer Stelle. Wie gerade angedeutet, fällt Cromwell jedoch mit seiner eigenen Hinrichtung derjenigen „necessità“ zum Opfer, die er in Kooperation mit dem König jahrelang vertreten hat.

Cromwell denkt bei den Hinrichtungen über kleinste Details nach, zum Beispiel über altmodische Hinrichtungsmethoden, das „Hacken“ (238). Für Anne Boleyn ließ Cromwell eigens einen Henker aus Frankreich kommen, der nicht mit dem Beil, sondern mit einem Schwert arbeitete. Auf dessen Klinge waren die Worte „speculum iustitiae“, Spiegel der Gerechtigkeit (239) eingraviert, was schon auf die Metapher vorausdeutet, die dem Buch den Titel gegeben hat. Ein anderes Detail ist das Gerücht, bei den vier hingerichteten ‚Liebhabern‘ Anne Boleyns seien jeweils Kopf und Körper vertauscht worden, bevor die Männer begraben wurden (128). Es ist Cromwells Aufgabe, bei Hinrichtungen um mildere Todesarten für die Verurteilten zu bitten. Bei der Hinrichtung des ‚Ketzers‘ John Lambert muss Cromwell zusehen, und hinterher macht er sich im Gespräch Vorwürfe, und Thomas Cranmer, der Erzbischof von Canterbury, ist sich mit ihm einig, dass diese Hinrichtung eigentlich hätte verhindert werden müssen (766). Cromwell hat die ungerechtfertigte Verurteilung Lamberts zur Kenntnis genommen – und denkt auch dabei an seine eigene Hinrichtung: „Er streut Sand auf das Papier, legt die Feder zur Seite. Ich glaube, aber ich glaube nicht genug. Ich habe zu Lambert gesagt, ich bete für Sie, doch am Ende bete ich nur für mich und dafür, dass ich nicht den gleichen Tod erleide.“ (770) Ich höre da ein Quäntchen Zweifel am christlichen Glauben heraus, und es ist selbstverständlich ein deutlicher Hinweis, dass Cromwell am Ende seiner politischen Laufbahn selbst hingerichtet wird.

Nicht nur Cromwell grübelt über die Hinrichtungen, auch dem König bereitet es gelegentlich Schwierigkeiten, seine Unterschrift unter Todesurteile zu setzen. Als König musste Henry die wichtigen Todesurteile unterschreiben. Und er tat das offensichtlich nicht ohne Zögern. „Es ist harte Arbeit für Henry, eine verdrießliche Last, Leben mit einer Unterschrift zu beenden.“ (279) Gerade an den Todesurteilen wird deutlich, dass sich mit ihnen eine Gerechtigkeitsfrage stellt: War es richtig, das Leben eines Menschen so zu beenden? Diese Frage scheint mir zu sein als eine moderne Eintragung in eine alte Geschichte. Gerade die Hinrichtungen zeigen, dass die Vergangenheit nicht abgeschlossen ist und sich schon gar nicht auf eine unzweideutige, nicht umstrittene Erzählung bringen läßt.


5.    Alleinherrscher (mit Beratern)

Thomas Cromwell, der seinen Adelstitel allein seiner politischen Tätigkeit verdankt, hat keine Möglichkeit, selbst König zu werden. Aber er kann den König beraten, und das Verhältnis zwischen König und Berater erstreckt sich auf die politische, psychologische und private Ebene. Es reicht weit über funktionale Politikberatung hinaus. Je besser sich mit den Jahren Cromwells Verhältnis zum König gestaltet, desto mehr wird er ins Vertrauen gezogen. Wie der biblische Josef dem Pharao muss Cromwell dem König dessen Träume erläutern. Er ist sich dabei stets der Gefahr bewußt, der Willkür des Königs ausgeliefert zu sein. Bevor also das Verhältnis zwischen dem Machthaber und Alleinherrscher auf der einen sowie seinem Berater auf der anderen Seite geklärt werden kann, muss der König charakterisiert werden, in seiner Persönlichkeit und in seiner besonderen Funktion als hierarchischer Spitzenfunktionär in einer Monarchie.

Die Fernsehserie, die aus Mantels Büchern extrahiert wurde, bleibt hinter den Romanen zurück. Doch in ihrer fünften Folge zeigt der Regisseur eine sehr eindrückliche Szene. Der König stürzt bei einem Turnier vom Pferd, er ist bewußtlos, man trägt ihn ins Schloß und legt ihn auf ein Bett. Die Höflinge stehen aufgeregt um ihn herum, aber niemand traut sich, helfend einzugreifen, aus Angst, einen Fehler zu begehen und für den möglichen Tod des Königs verantwortlich gemacht zu werden. Nur einer ist in der Lage, diese Furcht vor der Macht, welche die Rettungsmaßnahmen behindert, zu überwinden. Cromwell bildet diese Ausnahme. Er versetzt dem König sehr beherzt einen kräftigen Schlag auf die Rippen. Dieser wacht auf und sagt als erstes: „Cromwell!“ Erst einen Moment später merkt er, dass er sich noch nicht im vermeintlichen Himmel befindet, sondern noch lebt.

Der König braucht Cromwell, und Cromwell braucht den König. Irgendwann in der Serie sagt Cromwell: „How many men can say: my only friend is the King of England?” Das zeigt die raffinierte Doppeldeutigkeit, welche die Fernsehserie in ihren besten Momenten und die Romane durchgehend kennzeichnen. Denn selbstverständlich verleiht die Freundschaft mit dem König Macht, aber es wäre gut, wenn der König nicht der einzige Freund bleiben würde.

König Heinrich VIII.[60] ist unberechenbar, launisch und gefällt sich in erotischen Eskapaden. Seine Berater, in der Regel Edelleute an seinem Hof, spielt er gegeneinander aus. Nach dem Sturz vom Pferd leidet er unter einem schlimmen Bein, die Wunde will nicht verheilen, und die Schmerzen, die er im Bein empfindet, beeinflussen seine politischen Entscheidungen (786ff.). Er kleidet sich in allen Farben des Regenbogens – im Gegensatz zu den unscheinbaren Farben, die Cromwell trägt. Dieser nimmt die Eitelkeit des Königs in Kleiderfragen sehr genau zur Kenntnis (528ff.).

Henrys größter Wunsch ist es, einmal sein Reich einem männlichen Nachkommen zu übergeben, und dafür geht er über die Leichen der Frauen, die ihm keinen Sohn gebären wollen. Dynastie, Erbfolge ist ein wichtiger Begriff (785), der vollständige Kontrast zu Cromwell, der seinen Status bei Hof durch seine funktionalen Leistungen gewonnen hat. Henry singt und betet und spielt, er schießt mit dem Bogen und geht gerne jagen. Er interessiert sich für theologische Fragen, besonders wenn das oberste Kirchengericht die Scheidung einer seiner Ehen aussprechen soll.

Was Cromwells Welt sehr von der heutigen unterscheidet, ist die erhebliche Bedeutung von Abstammungslinien, besonders der Söhne, die den Namen und den Rang ihres Vaters weitertragen. Es gibt legitime Söhne und Töchter, aber eben auch „Bastarde“, welche ihre väterlichen Erzeuger anerkennen können oder nicht. König Heinrich VIII. ist davon besessen, einen männlichen Nachkommen zu zeugen, um für sein Adelshaus die Herrschaft über England auch in kommenden Generationen zu erhalten. Nur deshalb heiratet er sechsmal, es geht keineswegs nur um Sex und Erotik. Allein die Zeugung männlicher Nachkommen ist mit mehreren Unwägbarkeiten besetzt. Das Paar kann sich nicht von vornherein für einen Jungen oder ein Mädchen entscheiden. Die Mutter im Kindbett begab sich zu damaligen Zeiten in erhebliche medizinische Gefahr, anders als heute, wo eine schwangere Frau bei der Geburt im Kreißsaal medizinische Hilfe in Anspruch nehmen kann. Diese unsicheren medizinischen Verhältnisse hatten erhebliche Auswirkungen auf Politik und Politikbegriff des Königs.

In der Person und im Körper des Königs sind die Grenzen zwischen privat und öffentlich aufgehoben. Liebe, Sexualität, Stuhlgang (420), Schnupfen und Grippe sind in seiner Person öffentliche Angelegenheiten: „Henry ist das Zentrum, sein Körper der Schauplatz, das Blut, die Galle, der Schleim, sein so in Anspruch genommenes, geschundenes Fleisch der Ort, wo aller Streit zur Ruhe findet.“ (151) Mantel nimmt hier die antike Vier-Säfte-Lehre auf. Auch das Medizinische ist politisch, beides nicht voneinander zu trennen.

Cromwell hat das verstanden. Er macht die politischen Themen, die er beim König anspricht, auch von dessen körperlicher Befindlichkeit abhängig. „Mit ihm ist nie leicht umzugehen, wenn es ihm an Bewegung mangelt.“ (171) Das ist im Übrigen zu Corona- und Lockdown-Zeiten kein unwichtiger Hinweis. Der König holt sich seine Bewegungsdosis beim Bogenschießen und vor allem bei der Jagd. Von der Bewegung kommen aber gleichzeitig die Schmerzen, denn das beim erwähnten Sturz verletzte Bein verheilt nie mehr richtig.

Im König vereinen sich unterschiedliche Selbstbilder: „Der König will als Henry, der Spiegel der Gerechtigkeit, betrachtet werden, doch vielleicht wird er Henry, das kranke Bein.“ (487) Spiegel der Gerechtigkeit war ja im Übrigen auch das Motto, welches die Klinge des Richtschwertes für Anne Boleyn zierte[61]. Das kranke Bein zeigt den beschädigten, schwachen, verletzlichen und darum gefährdeten Menschen, während der Verweis auf die Gerechtigkeit den König zum Richter über seine Untertanen macht und ihn damit in die Nähe des göttlichen Richters rückt. Nicht umsonst verweist Mantel auf das Vorbild des biblischen Königs David (424).

Solche Rollenbilder und Selbstzuschreibungen geben dem König Präsenz und Aura, was seine Untertanen verschüchtert: „Der Umgang eines Mannes mit dem König ist das Maß seiner selbst. Er spiegelt seine Schwächen und Eitelkeiten. Du hältst dich für geschickt und redegewandt und hast das Treffen in deinen Gedanken eingeübt, aber Henrys Präsenz hat eine solch überwältigende Wirkung, dass du von heiliger Furcht ergriffen wirst und nicht fähig bist, auch nur ein Wort herauszubringen.“ (487) So denkt Cromwell, und es unterscheidet diesen von den anderen Untertanen, dass er das Verhältnis zu seinem König intensiv bedenkt, weil mit dieser Beziehung für ihn Erfolg, Karriere und Leben auf dem Spiel stehen. Wenn es zerbricht, wird er ein toter Mann sein, denn er weiß sehr genau, dass er außer dem König keinen Verbündeten besitzt.

Henry geht wie alle seine ihm untergeordneten Zeitgenossen davon aus, dass die Stellung des Königs zwischen Gott und den Menschen angesiedelt ist. Seiner Frau Jane Seymour erklärt er: „Ein Fürst legt für seine Handlungen vor dem strengen Gericht des Himmels Rechenschaft ab, und wenn er stirbt, wird er nach Maßstäben beurteilt, von denen einfache Menschen frei sind. Gott schenkt ihm seine Gunst: Er verleiht ihm Weisheit, Anstand und Klugheit, und gemäß dieser Tugenden hat er zu handeln, mit Methoden, die allein er bestimmt. Ich bin der irdische Hirte der Schafe Gottes. Es ist die Aufgabe eines Fürsten, nicht nur für die edlen, sondern auch für die unbekannten Familien zu sorgen (…).“ (416) Das ist ein Schlüsselzitat, weil es das Ideal ausspricht, dem Henry folgt. Nicht nur die Leser wissen, dass Henry diesem Ideal nicht richtig gerecht wird, weder psychologisch noch politisch. Mantel beschreibt Status und Funktion des Königs in Aufnahme der berühmten These von Ernst Kantorowicz[62] vom doppelten Körper des Königs. Mantel schreibt: „Wenn der König seine Gemächer verlässt (…), vereinigt sich sein natürlicher Körper mit seinem politischen Selbst: Voll angekleidet präsentiert er sich der Welt, ein massiger, frisch rasierter Mann, der nach Rosenöl duftet.“ (421) Auch wenn das Rosenöl eine gewisse Ironie suggeriert, der König ist ein Doppelwesen, göttlich und menschlich zugleich, öffentlich und privat. Er kann Macht ausüben, weil er näher zu Gott steht als seine Untergebenen, die mit dem König zusammenarbeiten. Das ist die politische Theologie der Monarchie, in die Cromwell sich einpasst, mit der er arbeitet und an der er schließlich scheitert.

Am vermeintlich simplen Wunsch nach männlichen Nachkommen, an der Aufgabe der Weiterführung der Dynastie zeigt sich die Verknüpfung von physiologischer und politischer Dimension: „Er muss die ganze Nation befruchten. Ist er impotent, schwächelt das ganze Land, und nachts kommen die Ausländer und setzen uns Hörner auf.“ (464) Heinrich ist besessen vom Wunsch nach einem männlichen Nachkommen. Er will unter allen Umständen seine Herrschaftslinie erhalten. Das bestimmt sämtliche politischen und privaten Handlungsoptionen des Königs, auch diejenigen, die sonst gerne in den Vordergrund gestellt werden, nämlich zum einen die Willkür des Königs, seine absolute Macht, die bei Henry eben nicht absolut ist, sondern in den meisten Fällen und mit den wenigen Ausnahmen emotionaler Ausbrüche vollständig in den Dienst der Erfüllung der Aufgabe dynastischer Nachfolge gestellt ist, und zum anderen die – besonders in Fernsehserien herausgestellten – erotischen Begehrlichkeiten. Dass letztere Henrys Leben und soziales Handeln auch bestimmen, ist zwar durchaus richtig, aber diese erotischen Aktivitäten ordnet er letztlich der dynastischen Frage unter. Wenn man von der Erfüllung einer dynastischen Aufgabe spricht, so darf man in dieser funktionalen Terminologie nicht unterschlagen, dass der Wunsch nach männlichen Nachkommen sich für Henry auch zu einer besonderen psychologischen Begehrlichkeiten, vielleicht sogar zu einem Trauma, entwickelt haben, die seine Person nachhaltig und dauerhaftbestimmen.

Der König interessiert sich durchaus für Glauben, Theologie und Kirche. Wenn er ein schlechtes Gewissen hat, wenn er sich mit dem Papst wegen seiner Ehen gestritten hat, dann flüchtet er sich zu den Theologen: „Henry ist außer sich. Nichts kann ihn trösten, nur die Theologie.“ (711) Das hat biographische Gründe. Theologie heißt in diesem Fall katholische Kirche.

Henry weiß selbstverständlich, dass er kluge Berater braucht, aber er zögert auch nicht, diese Berater gegeneinander auszuspielen. Er baut Cromwell zu seinem wichtigsten Berater auf, obwohl er weiß, dass diesem das – normalerweise – entscheidende Merkmal, der Adel, fehlt. Er verlässt sich auf Intelligenz, politisches Gespür, Wissen und Entschlossenheit Cromwells und schafft sich so ein Gegengewicht zu den übrigen Beratern, welche eher die Interessen der anderen Adelshäuser vertreten und damit in der dynastischen Frage gefährlich werden könnten. Cromwell erhält vom König ein Amt nach dem anderen, zuletzt das des Lordsiegelbewahrers, selbstverständlich auch den Adelstitel - wobei auch Henry weiß, dass Cromwell aus dem schlecht beleumundeten Londoner Viertel Putney stammt. Dazu sagt Henry: „‘Ich meine, ich weiß nicht, was Sie zu dem gemacht hat, was Sie sind. Das ist Gottes Geheimnis, nehme ich an‘, sagt Henry und belässt es dabei.“ (61) Die Konkurrenz der Räte baut Mantel zu einem eigenständigen politischen Spiel auf, von dem der König dadurch profitiert, dass er als jemand mitspielt, der über den anderen steht: „Wenn Räte ihre Feinde anblitzen, kann der König lächeln – der ach so gütige Fürst. Während sie einander drangsalieren, kann er belohnen. Insistieren sie, beschwichtigt er, schmeichelt, lockt. Es sind seine Räte, die niederträchtigste Mannschaft, die es je gab, die seine Sünden für ihn tragen – die bereit sind, die schlechteren Menschen zu sein, damit er der bessere ist.“ (90) Räte sind schlechte Menschen, damit der König ein besserer Mensch werden kann. Es findet ein Austausch statt von politischen Kräften, und der König erklärt sich stets – durch seine erhöhte hierarchische Stellung - zum Sieger. Dieses Spiel zwischen Beratern und König soll im folgenden Abschnitt noch genauer betrachtet werden. Deutlich ist, dass bei Henry eine ähnliche Verschränkung von Sexualität, Macht und Politik vorliegt wie bei Frank und Claire Underwood, auch wenn sich prima vista zwei wesentliche Unterschiede zeigen: 1. Die Frauen im England des 16. Jahrhunderts spielen eine andere Rolle. Sie sind zwar als Gebärerinnen wichtig, aber sie nehmen keine aktive politische Funktion ein – was nicht heißt, dass es ihnen am politischen Einfluss fehlt. Und die politische und soziale Ordnung, in dem König und Adel ihre politischen Ämter ausüben, ist noch sehr viel geschlossener und hierarchischer strukturiert, als das in der öffentlichen Mediendemokratie des 20. Jahrhunderts in den USA der Fall ist.


6.    Herr und Knecht

Wer das Verhältnis zwischen Berater und König in ‚Spiegel und Licht‘ beschreiben will, der muss stets berücksichtigen, dass in dieses Verhältnis noch andere Gruppen, die Frauen Henrys, der Adel mit dynastischen Konkurrenzen zum Königshaus, die Diplomaten anderer Länder und andere involviert sind.

Der König besitzt die im letzten Abschnitt beschriebene Doppelnatur, er wird als Stellvertreter Gottes angesprochen (147), die aber zugleich Privatperson ist. Cromwell macht es sich zur Aufgabe, die innerhalb von bestimmten Grenzen gegebene Willkürmacht des Königs in eine bestimmte, humanere Richtung zu lenken: „Ich muss meinen menschenfressenden König zähmen.“ (155) Dabei spielt auch der Zufall eine Rolle, der in der Theorie des Flipism bei ‚House of Cards‘ so wichtig ist. Henry begreift sich nun nicht als Spielball des Zufalls. Das Schicksal des Königs zeigt den Willen Gottes. Was zum Beispiel bedeuten würde: Wenn Henry den so sehr erwünschten Sohn nicht zeugt, so ist das nicht medizinischer Unkenntnis geschuldet, sondern dem Willen Gottes. Cromwell definiert seine royale Kontingenztheorie so: „Könige sind Objekte des Schicksals, nicht des Glücks. Für sie gibt es keine Zufälle: Sie sind Opfer der Verdammnis. Gregory sagt, wenn der König das Ergebnis nicht mag, wird er erneut mit Gott streiten.“ (638f.) In der Politik ist die Ebene des Handelns Gottes präsent, sein Wille, seine Providenz sind stets mitgemeint. Praktisch bedeutet das für das Verhältnis von Cromwell und Henry, dass Cromwell erledigt, was Henry entschieden, aber selbst nicht gerne ausführen würde. Jane Seymour, Anne Boleyns Nachfolgerin, sagt: „‘Der König tut niemals etwas Unangenehmes. Das macht Lord Cromwell für ihn.“ (255) So kann man das Verhältnis zwischen dem König und seinem wichtigsten Berater beschreiben. Der König hält sich heraus und lässt seinen Berater die Drecksarbeit tun. Nicht dass das explizit ausgesprochen würde zwischen beiden, aber Henry ist Cromwell für diese Erledigung der schmutzigen Geschäfte sehr dankbar.

Gleichwohl kennt auch der König selbst soziale Vorbehalte, Standesunterschiede: „‘Crumb (Cromwells Spitzname beim König wv)‘, sagt er, ‚ich habe an ihrer Führung meiner Geschäfte hier im Land nichts auszusetzen, aber einige Dinge sollten unter Fürsten bleiben, und ich kann die anderen Könige nicht bitten, mit Ihnen zu verhandeln (…).‘“ (351) Das ist keine Gesellschaft von Gleichen wie die amerikanische Demokratie in ‚House of Cards‘. Das England des 16. Jahrhunderts ist hierarchisch strukturiert: König, Adel, Bürger, (Land-)Volk. Der König schätzt die Funktionsausübung Cromwells, aber er ist sich sehr wohl seines Standes bewusst. Die Verhältnisse an der Spitze der sozialen Hierarchie führen Cromwell dazu, dass er sich auf den König mehr verlassen muss als ihm lieb ist, weil er unter den anderen Adligen, Bischöfen und Heerführern keine Verbündeten findet. Das Verhältnis zwischen Cromwell und dem König ist der – im wahren Sinne des Wortes - Königsweg, um eine neue Politik durchzusetzen. Oder, wie einer von Cromwells Vertrauten sagt: „‘(…) der König steht uns nicht im Weg. Er ist unser Weg.‘“ (364) Und wenn der König irgendwann diesen Weg nicht mehr gehen will, dann stürzt die ganze politische Konstruktion von Cromwells Karriere in sich zusammen.

Auf der einen Seite ist das Verhältnis zwischen Cromwell und Henry auf Nachhaltigkeit angelegt. Deswegen denkt Cromwell sehr genau darüber nach und überlegt sich, was er sagt und was er nicht sagt. Auf der anderen Seite ist dieses Verhältnis von Henrys Launen und vom Zufall abhängig. Der König ist sozusagen die Inkarnation des Zufalls in Cromwells Leben. „Er (Cromwell wv) sah Henrys Bedürfnis und erfüllte es, aber du darfst einen Fürsten nie wissen lassen, dass er dich braucht: Er möchte nicht denken, dass er einem Untertanen etwas schuldig ist.“ (459) Danach folgt ein Verweis auf Machiavelli. Das Verhältnis Herr-Knecht wird an keiner Stelle angetastet. Dauerhafte, auch kluge Beratung darf auf keinen Fall dazu führen, dass der König sich von seinem Mitarbeiter abhängig fühlt.

Deswegen ist das Verhältnis zwischen Cromwell und dem König bei ersterem Gegenstand intensiven Nachdenkens, bis dahin, dass Cromwell einen geheimen, auf Henry ausgerichteten Fürstenspiegel schreibt.[63] Der Berater denkt sehr lange über die funktionale und theologische Stellung des Königs nach. „Du stellst dir vor, dass der König auf einer höheren Ebene lebt, edler und bedeutender als andere Männer (…) Ist der Fürst überhaupt ein Mensch? Wenn du all seine Züge zusammenzählst, kommt dann ein Mann dabei heraus? Er besteht aus Scherben und Fragmenten der Vergangenheit, aus den Prophezeiungen und Träumen seiner Vorfahren. Die Gezeiten der Geschichte brechen sich in ihm, ihre Strömung droht ihn davonzutragen. Sein Blut ist nicht seines, sondern uralt. (…) Bei seiner Krönung verklärt Gott ihn, seine menschlichen Fehler fallen weg, seine Fähigkeiten erhöhen sich. (…) Die Gnade muss ihn dreißig Jahre stützen, vierzig, für den Rest seines irdischen Lebens.“ (468) Auch das ist ein Schlüsselzitat. Der König ist mehr als ein Mensch, weniger als Gott. Er ist angewiesen auf seine Gnade, mehr als andere, aber genau das verleiht Macht über Leben und Tod. Im König repräsentiert sich Gott, und in ihm repräsentiert sich genauso die Geschichte seines Volkes. Der König – das ist England coram Deo. Das ist Last und Privileg zugleich. Auf diese Weise beschreibt Cromwell auf einer grundsätzlichen Ebene die Herrschaftsmacht des Königs, und dieses prägt auch das Verhältnis zu ihm und zu den anderen Beratern.

Das aktuelle Verhältnis zwischen Cromwell und dem König ist bestimmt von der Willkür und den Launen des Königs. Wie ein altes Ehepaar müssen sich die beiden gegenseitig ertragen: „Henry ist missmutig, seine Gedanken springen von hier nach da, und wenn er in dieser Stimmung ist, hältst du am besten den Kopf unten wie ein Vogelfänger.“ (476) Er schweigt und duckt sich weg, damit keine ‚Übertragungen‘ im psychoanalytischen Sinn stattfinden. Weiter heißt es: „Wir müssen darauf vertrauen, dass sich der Sturm des Selbstmitleids selbst wegbläst – und schon tut er es. Henry drückt den Rücken durch.“ (477) Zu einem Vertrauten sagt er darüber: „‘Lassen Sie den König lange genug für sich, und er fängt an, sich selbst aufzumuntern.‘“ (ebd.) Ebenso sehr wie Cromwell als Politiker handelt, handelt er auch als Psychologe und Seelsorger. Unter den übrigen Höflingen und auch unter seinen Mitarbeitern fällt das auf, dass Cromwell beim König peu à peu mehr Einfluss erlangt. Einer von Cromwells jungen Dienern sagt: „‘Unser Master kommt als Zweiter nach Gott‘, sagt Matthew kauend. ‚Erst kommt der König, Gottes Stellvertreter, dann unser Master, der Stellvertreter des Königs.‘“ (546) Die Hierarchie ist also völlig klar. Aber selbst der zweite in der Hierarchie erregt noch Neid und Konkurrenzgefühle. Neid und Konfliktbereitschaft der anderen treten zurück, solange das Verhältnis zum König stabil ist und sicher anhält.

König wie Berater umkreisen sich gegenseitig und testen aus, welche Grenzen sie überschreiten können und welche nicht. Cromwell weiß genau, wie sehr er unter Beobachtung steht: „Nichts von dem, was ein Minister tut oder was ihm nicht gelingt, entgeht dem König. Wie ein Richter, wie ein aufmerksamer Zuschauer bei einem Turnier, sieht er, wenn ein Schlag danebengeht oder eine Lanze auf einem Körper zerbricht. (…) Er gewährt seinen Ministern Spielräume, pflanzt aber eine Hecke der Erwartungen um sie, unsichtbar und schmerzhaft wie Schwarzdorn. Du weißt, wenn du mit ihr in Berührung kommst.“ (644) Der König spielt mehrere Rollen zugleich, und alle sollen ihm einen Vorteil verschaffen. Er schafft eine Situation, in der die Berater sich über verschiedene Handlungsoptionen streiten. Gleichzeitig setzt er für diese Handlungsoptionen aber auch Grenzen: „Im Rat ist er (Cromwell wv) der ruhende Pol, wobei der König auch weiter sprunghaft und eigenwillig bleibt. Henry sagt: ‚Ich bin für alles offen‘, und du kannst sehen, wie er eiligst seine Meinungen abschottet und in Sicherheit bringt, als müsste er sie gegen Diebe verteidigen. (…) Gregory sagt: ‚Schließlich ist er der König, und er denkt nicht so wie wir. Er weiß nicht, was wir wissen, und ich hätte Angst, mit ihm so zu streiten wie Sie, Vater, Angst, dass Gott mich zermalmt.‘ Ich sage das alles, entgegnet er, damit er mir widerspricht: um ihn dazu zu bringen, dass er sagt, was er denkt und was er will. (…) Ich habe ihm seine Kasse gefüllt, seine Münze gesundet, habe ihn von seiner alten Frau befreit und ihm eine neue seiner Wahl verschafft (…) Es ist an der Zeit, dass er das begreift. Es ist an der Zeit, dass er erwachsen wird.“ (672f.) Das ist ein weiteres Schlüsselzitat für das Verhältnis zwischen König und Berater. Es geht um ein Machtspiel, in dem derjenige Berater gewinnt, der am meisten Einfluss beim König geltend machen kann. Der König spielt dieses Machtspiel mit, durchbricht es aber gelegentlich durch willkürliche Einwürfe. Es unterscheidet Cromwell von den anderen Beratern, dass er mehr als andere darüber reflektiert, wie er dieses Verhältnis zwischen ihm und dem König, aber auch zu den anderen Beratern zu seinen Gunsten verändern kann.

Cromwell fühlt sich wie ein Vater, der sich um seinen Sohn kümmert. Er darf gegenüber dem König nicht allzu streng sein, um nicht mit Liebesentzug bestraft zu werden. Denn er weiß, der König nimmt ihm Fehler übel, auch wenn er nur als Überbringer der Botschaft fungiert. Cromwell befindet sich als Berater in einer anhaltenden Zwickmühle. Der König, das kleine Kind, nutzt seinen Berater mehr aus, als diesem lieb sein kann. Genauso wie Cromwell durch ein gutes Erinnerungsvermögen ausgezeichnet ist, so gilt das auch für Henry: „Henry vergisst nie etwas. Aber manchmal denkt er, die Laune eines Königs kann alles verändern.“ (689) Auch Henry zeichnet sich wie Cromwell durch eine besondere Mischung aus Emotion und Intellekt aus. Bei Cromwell ist der politische Intellekt fast bis zur völligen Beherrschung der Emotionen ausgeprägt. Bei Henry verhält sich das anders, und wegen seiner Machtfülle macht ihn das gefährlich, nicht nur für Cromwell, sondern auch für alle anderen.

Cromwell erhält in dieser Machtkonstellation diejenigen Aufgaben zugeteilt, die unangenehm oder ungewöhnlich sind. Dazu kommen diejenigen Aufgaben, die nicht eindeutig entschieden werden können. „Der König bittet um Eintracht, dabei agiert er selbst nicht eindeutig. Einmal neigt er heftig in die eine, dann in die andere Richtung, und man braucht ein dickes Fell, um ihn zu unterstützen. Unbeherrschten Räten gelingt das nicht. (…) Die Stimmungen des Königs sind kein Mysterium. Die Astrologen sagen, es ist sein Mond im Widder, der ihn so aufbrausen und konfrontativ sein lässt, tatsächlich aber ist es der Zustand seines Beins. (…) Wie die Ärzte des Königs sagen, die Leiden großer Männer finden zu wenig Beachtung, wenn man ihr Leben betrachtet.“ (786f.)

Manchmal wird das Verhältnis zwischen Cromwell und Henry so eng, dass König und Berater miteinander zu verschmelzen scheinen. Die Beschreibung Mantel erhält dann eine beinahe homoerotische Dimension: „Manchmal, wenn er neben dem König sitzt, wenn es spät ist (…), erlaubt er seinem Körper, sich mit dem Henrys zu verwechseln, sodass ihre nebeneinanderliegenden Arme ihre Form verlieren und sich eintrüben wie Tauwasser. Er stellt sich vor, dass sich ihre Fingerspitzen berühren und seine Gedanken den göttlichen Willen erfassen: Tinte tröpfelt auf Papier.“ (574) Das ist eine dunkle Stelle, sie enthält etwas Mystisches, vielleicht eine versteckte erotische Bedeutung oder mindestens Andeutung – ich bin mir dessen nicht sicher. Sie beschreibt nicht viel mehr als das normale, funktionale Verhältnis zwischen König und Berater. Die Passage erstaunt auch unter dem Blickwinkel, dass sich Cromwell stets sehr genau überlegt, wie er mit dem König umgeht und sich, wenn möglich, nicht gehen lässt. Seine Reflexionen sind sehr stark von Kalkül und Berechnung bestimmt. Insofern ist die gerade zitierte Stelle eine Ausnahme, aber eine Ausnahme, die zum Gesamtbild dazugehört.

Eine zweite Ausnahme im Verhältnis zwischen Cromwell und dem König betrifft den gemeinsamen Glauben. Theologie und Kirche sollen weiter unten noch behandelt werden[64]. Aber es ist hier entscheidend für beider Verhältnis, dass der König vorschlägt, gemeinsam zu beten. Der König sagt zu Cromwell: „‘Ich habe gerade gedacht, dass wir von Zeit zu Zeit zusammen beten sollten. Wie beten Sie, Mylord? Beginnen Sie mit einem Paternoster, zitieren Sie einen Psalm oder wählen Sie Ihre eigenen Worte?‘ Er sieht den König genau an, es ist keine Falle.“ (788) Zuerst ist Cromwell misstrauisch. Nichts ist für Henry und Cromwell so privat wie das Gebet, falls es nicht vom öffentlichen Ritual des Gottesdienstes, mindestens bei Hofe, begleitet ist. Wenn dieser Versuch, das Verhältnis vertrauter zu gestalten, ernst gemeint ist, so zeigt sich, dass Cromwell trotz aller Ehrungen und Ämter nicht den Schritt weiter geht und das funktionale Verhältnis in eine angreifbare (private) Freundschaft verwandelt. Bei Henry und Cromwell ist die Macht so ungleich verteilt, dass im Letzten kein Vertrauen möglich ist. Und daran ist das Verhältnis zwischen beiden auch ohne Freundschaft gescheitert.

Cromwell weiß sehr genau, dass sein Verhältnis zum König und damit sein Leben bleibend gefährdet ist. Sein Misstrauen ist unendlich groß, so sehr, dass er den letztlichen Umschwung, den Vertrauensentzug des Königs als etwas wahrnimmt, was sich lange angebahnt hat: „Sein Missfallen. Ich bin sicher, ich habe ihm missfallen, denkt er (…) So ist Henry. Er verbraucht die Menschen. Er nimmt, was sie ihm zu geben haben, und mehr. Und wenn er mit ihnen fertig ist, ist er lauter und fetter, und sie sind leer gefressen oder tot.“ (813) Das denkt er, das würde er aber nicht einmal seinen Vertrauten gegenüber aussprechen. Er hat zu diesem Zeitpunkt längst gemerkt, dass seine Beziehung zum König gefährdet ist. Und Henry scheint dieses Misstrauen umgekehrt auch zu spüren. Als der König darüber nachdenkt, worin das fehlende Vertrauen begründet sein könnte, bringt er den Namen des alten Chefberaters, des Kardinals ins Spiel. In einer Szene knistert es zwischen beiden: „Er (Cromwell wv) steht auf. Er ist zu unruhig, um still dasitzen können. Das ist ungewöhnlich, normalerweise vermag er sich gelöst und locker zu geben, auch wenn der König gereizt und verdrossen ist wie heute. Henry sagt: ‚Wissen Sie, ich glaube, Sie haben mir nie vergeben. Dass ich mich von Wolsey getrennt habe.‘“ (886) Damit könnte Henry in der Tat etwas Wahres, eine psychologische Wahrheit ausgesprochen haben. Cromwell hing stets an seinem Mentor und Ersatzvater[65]. Es bleibt Mantels große Kunst, dass sie all diese Erklärungen im Vagen belässt. Sie knüpft ein Netz aus Vermutungen und Spekulationen und begnügt sich damit, den Raum abzustecken, in dem sich vermutlich die Wahrheit befinden müsste. Zu diesen Andeutungen gehört, dass ein anderer Berater aus dem Thronrat ihm vertraulich mitteilt, er, Cromwell würde nun den Siege Perilous einnehmen (809). Das ist der Sitz in der Tafelrunde, der für den Ritter reserviert ist, der den Gral erobert und in die Tafelrunde bringt, sie damit aber auch zerstört.

Nach der Verhaftung überlegt Cromwell, ob er sich mit einem Brief an den König wenden soll. Er formuliert ein paar Zeilen, aber er weiß, dass dieser Brief zu nichts führen wird. „Was kann er schreiben? Einmal hat Henry gesagt: ‚Sie sind geboren, um mich zu verstehen.‘ Dieses Verständnis gibt es nicht mehr. Er hat ihn zutiefst erzürnt, und alles, was er tun kann, ist zu erklären, dass, womit immer er Henrys Zorn hervorgerufen haben mag, es geschah nicht willentlich oder aus Bosheit: dass er darauf vertraut, dass Gott die Wahrheit ans Licht bringt.“ (1029) Er schreibt den Brief, aber an einen Erfolg glaubt er im Grunde nicht mehr. Er hat so oft, schon als Junge, bei Hinrichtungen zugesehen, er hat Menschen, darunter die Ehefrau des Königs aufs Schafott gebracht. Nun wird er selbst von anderen begafft werden – bei seiner eigenen Hinrichtung.

Auch in Gefangenschaft und im Angesicht des nahen Todes, lässt Cromwell das Verhältnis zum König nicht los. In der Zelle überlegt er: „Er denkt, zehn Jahre lang haben sie mir die Seele malträtiert, dass sie kaum noch da ist. Henry hat mich wieder und wieder durch die Mühle der Wünsche gedreht, so dass ich, kaum mehr als etwas Staub im Wind, nutzlos für ihn bin. Fürsten hassen Leute, denen gegenüber sie Schulden angehäuft haben.“ (1030) Es ist erstaunlich, dass er über der Arbeit beinahe seine Seele verloren haben soll. Er hat nicht geliebt, nicht gefühlt, nur Argumente und Strategien gegeneinander abgewogen.

Seine Gegner betonen die Willkürherrschaft des Königs. Er kann entscheiden, wie er will. Montague, ein Höfling, sagt: „‘Der König hat nie einen Mann gemacht, den er nicht wieder zerstört hätte.‘ Warum sollte Cromwell da eine Ausnahme sein?“ (1033) So gesehen wäre Henry ein Ungeheuer, das im Zentrum der Macht sitzt und alles zerstört, was sich ihm nähert. Der grübelnde Cromwell in der Zelle bringt dagegen die Verantwortung des absoluten Herrschers ein. Er erinnert sich an das, was er gelesen oder gehört hat: „Der Herzog von Urbino, Federico von Montefeltoro, wurde gefragt, was man benötige, um einen Staat zu regieren. ‚Essere umano‘, sagte er. Man muss ein Mensch sein. Er fragt sich, ob Henry das je erreichen wird.“ (1032) Die Phrase des Herzogs klingt nach Pathos und Poesiealbum, scheint sehr dick aufgetragen. Aber sie besitzt m.E. ihre Berechtigung darin, dass Henry sich nicht im Griff hat, wiederholt lässt er sich von seinen Emotionen überwältigen.

Das Verhältnis zwischen Cromwell und Henry ist durch andauernde Ambivalenzen geprägt. Cromwell gestaltet dieses Verhältnis als politischer Kopf und Stratege, aber er wird, wie der König selbst, von seiner eigenen psychologischen Geschichte, von seinen Emotionen und Erfahrungen eingeholt. Und da dieses Verhältnis in seinem Kern auf einer großen hierarchischen Differenz beruht, musste es auch am Ende scheitern. Cromwell konnte gar nicht erfolgreich sein.


7.    Königinnen und andere Frauen

In der Welt von ‚House of Cards‘ wurde besonders am Ende ein feministischer Konflikt sichtbar: Frank Underwoods Frau Claire übernahm mit Freuden die Macht. Am Hof von Heinrich VIII. wäre das nicht denkbar gewesen. Aber es fällt auf, dass sich der König und sein Berater in ihrem Verhältnis zu Frauen sehr unterscheiden. Des Königs Verhältnis zu Ehefrauen ist nicht nur durch sein erotisches Gebären, sondern vor allem durch den Wunsch nach einem männlichen Thronfolger geprägt. Cromwells Frauen aus dem privaten Bereich haben ihn im Innersten nicht erreicht[66]. Mit seiner Frau, bevor sie an der Pest starb, führte er eine pragmatische Ehe. Seine Töchter hat er geliebt, ebenso seine uneheliche Tochter Janneke. Danach hat er nicht mehr geheiratet. Sein Wunsch, die Tochter des Kardinals Wolsey zu heiraten, gründet eher darin, dass die Nonne eine Tochter des für Cromwell wichtigen Mentors war als in ihrer Persönlichkeit.

Bei Hofe und in der adligen Gesellschaft gelten Cromwell Frauen als Schachfiguren, die sich am politischen Spiel in untergeordneten Rollen beteiligen. Frauen eignen sich für ihn als Spioninnen, sie „sehen viel, was Männern entgeht“ (172). Und sie üben durchaus politischen Einfluss aus, aber eben auf eine Weise, die unvergleichlich ist: „Was ist ein Frauenleben? Denke nicht, weil sie kein Mann ist, kämpft sie nicht. Das Schlafgemach ist der Turnierplatz, auf dem sie ihre Farben zeigt, und ihr Kriegsschauplatz der Raum, in dem sie ihre Kinder gebiert.“ (633) Schwangerschaften, Kinder und Eheschließungen folgen dynastischen Interessen, insofern sind sie politisch, und insofern verfolgt Cromwell hier Gedanken, die ihm der König mit seinen dynastischen Wünschen vorgegeben hat. Jane Seymour, die dritte Frau Henrys, muss ihm einen Sohn gebären. Wochenlang dreht sich bei Hofe jedes Gespräch um dieses Thema. „Stirbt das Kind, gibt man ihr die Schuld. Überlebt sie, muss sie ihre Wunden verbergen.“ (633) Jane Seymour stirbt nach der Geburt des Sohnes Edward im Wochenbett. Weil die Geburt mit Gefahren verbunden ist, die damals gynäkologisch noch nicht beherrschbar waren, richten sich Gebete und Aberglaube vor allem auf die Gottesmutter Maria: „Die Muttergottes wird helfen, wenn es die Hebammen nicht können. Eva hat uns ruiniert, aber Maria, die Schmerzensreiche, verhilft uns zur Erlösung. Sie ist die Perle ohne Preis, die Rose ohne Dornen.“ (634) Schwangerschaft bedeutete damals auch für adlige Frauen Lebensgefahr. Beim Tod der dritten Frau, Jane Seymour, heißt es: „Was ist ein Frauenleben? Tau im April, der sich auf das Gras niederrankt.“ (647)

Cromwell hat ein distanziertes Verhältnis zur Erotik. Liebe und (folgende) Schwangerschaft sind ihm Instrumente zur dynastischen Politik, während beim König Erotik und Politik ununterscheidbar miteinander vermischt sind. Über ihn heißt es an einer Stelle charakteristisch: „Es geht nur um Frauen.“ (155) Und bei aller erotischen Attraktion mischt sich in Henrys erotische Abhängigkeit von seinen Favoritinnen auch ein Element der Frauenverachtung. Er sagt: „Frauen sind der Beginn aller Täuschung. Lesen Sie die Geistlichen, die Theologen, sie werden es Ihnen sagen.“ (611) Henrys persönliche Wertehierarchie steht vergleichsweise fest. Sie lautet: Nachkommen, Dynastie – Frauen – Hof und Adel – Theologie – Politik – Cromwell. Und letzterer wird als Bote für seine Botschaft getadelt, die er nicht zu verantworten hat.

Henry ist für seine sechs Ehefrauen sprichwörtlich geworden. Cromwell ist derjenige, der die politischen Arrangements verantwortet, die für Trennungen und Wiederverheiratungen sorgen, also die durch Intrigen, Folter und Falschaussagen orchestrierte Hinrichtung Anne Boleyns, die ‚innenpolitische‘ Heirat mit Jane Seymour und das diplomatische Arrangement der Heirat mit Anna von Kleve. Nach dem Tod Jane Seymours spricht Cromwells Sohn Gregory aus, was in England viele denken: „Mylord Vater, wen werden Sie den König als nächstes heiraten lassen?“ (650)

Henrys erste Frau, Katherine von Aragon war sehr katholisch, sie gebar keinen männlichen Nachfolger, nur die Tochter Mary, die durch ihren katholischen Glauben, aus Gründen dynastischer Konkurrenz und aus dem Grund der immer wieder kolportierten Gerüchte einer Heirat mit Cromwell eine Gefahr darstellt. Cromwell erhält die schwierige Aufgabe, zwischen der sehr katholischen Mary, die nicht bei Hofe lebt und von anderen Adligen als politisches Instrument benutzt wird, und dem König, der Mary gerne loswerden möchte, zu vermitteln (589).

Bei Henrys zweiter Frau, Anne Boleyn, war Cromwell sowohl für die politische Anbahnung der Ehe, die wegen der kirchenrechtlich eigentlich verbotenen Scheidung nicht unkompliziert war, als auch für deren Sturz verantwortlich. Cromwell sieht im Rückblick, dass die beschriebene Vermischung von Erotik und Politik etwas war, das Anne Boleyn nicht durchschaute. „Sie hat Henry für einen Mann wie andere Männer gehalten. Nicht für das, was er ist und was alle Fürsten sind: halb Gott, halb Tier.“ (109) Boleyn zielte darauf, dass sie alle Männer mit ihrer erotischen Ausstrahlung betören könne. Und der König zeigte ihr, dass es – wenigstens gelegentlich – wichtigeres als die Erotik gab. Außerdem nahm er ihr übel, dass sie (angeblich) mit anderen Männern geschlafen hatte.

Der zweite Band (und die letzten beiden Folgen der Fernsehserie) sind bestimmt von der Auseinandersetzung zwischen Anne Boleyn, der Königin und Cromwell, der sie zu einer solchen gemacht hat. In der Serie spielt die wunderbare Claire Foy, die auch durch die ebenfalls royale Serie „The Crown“ bekannt geworden ist, eine zickige, prätentiöse Anne Boleyn, die das Persönliche über- und das Politische unterschätzt. Insbesondere unterschätzt sie die Macht ihres Gatten, des Königs, den sie irgendwann nicht mehr richtig ernst nimmt. Nachdem sie verhaftet worden ist, hofft sie bis zuletzt auf eine Begnadigung in der letzten Minute. Diese aber bleibt aus. Cromwell sagt irgendwann zu ihr: „Madam, nothing is personal.“ Es kommt für ihn darauf an, Verhalten und Aussagen der anderen zu lesen und zu deuten. Cromwell ist in dieser Wahrnehmung ein Meister, weil er als underdog und Emporkömmling weiß, wie schnell man abstürzen kann. Zudem besitzt er das nötige Misstrauen. Anne Boleyn ist viel zu hochmütig, um misstrauisch zu sein. Sie wähnt sich als unantastbar und meint, sie könne sich erlauben, was sie wolle. Die Gefahren, die ihr drohen, erkennt sie viel zu spät. Sie spottet noch über ihre Nachfolgerin Jane Seymour, als sie schon längst verloren ist. Zu Cromwell sagt Boleyn da noch: „Tell her (Jane Seymour) from me God sees her tricks.” Sie nimmt die Intrigen der anderen Höflinge und der adligen Gruppen nicht ernst, und sie geht über dieser Fehleinschätzung unter.

Henrys dritte Ehefrau, Jane Seymour stirbt nach der Geburt ihres Sohnes. Sie hängt an der traditionellen katholischen Kirche und versucht, Cromwell für ihre Pläne zu gewinnen. Aber dieser lässt solche Überlegungen an sich abprallen (z.B. 414f.) Sie weiß besser als Anne Boleyn, ihre Vorgängerin, dass das politische Spiel das erotische überragt. Am Ende eines Gesprächs sagt sie zu Cromwell: „Aber, Mylord, achten Sie auf Ihre Gedanken wie auf Ihre Taten. Was Sie bei Nacht sagen, verfolgt Sie bei Tage, und was Sie bei Tag verweigern, meldet sich in der Nacht zurück.“ (415) Cromwell ergeht sich in der Tat in weit reichenden Gedankenspielen. Er spekuliert für den Fall eines vorzeitigen Todes von Henry darauf, für den unmündigen Sohn Edward zum stellvertretenden Regenten eingesetzt zu werden (637). Damit hätte er den entscheidenden Schritt vom Berater zum Machthaber und Entscheider getan. Denn ein unmündiges Kind hätte ihm bei seinen Entscheidungen kaum soviel Widerstand entgegengesetzt wie Henry.

Nach dem Tod Jane Seymours möchte Henry schnell wieder heiraten. Cromwell kommentiert diese Absicht ganz nüchtern: „Er braucht eine Frau von kompetentem Alter, die sich ohne Umschweife an die Fortpflanzung macht und weiß, wie er in der Zwischenzeit zu unterhalten ist.“ (663) Das ist eine sehr nüchterne Sicht, die frei bleibt von Liebe und Zuneigung. Die Wahl fällt auf Anna von Kleve, von der der König, trotz des Porträts von Holbein, das er vorher gesehen hat, sehr, sehr enttäuscht sein wird.

Um sie zu überraschen, reitet der König seiner kommenden Ehefrau entgegen. Als sie ihn bei der ersten Begegnung erkennt, ist sie zutiefst erschrocken und kann das nicht verbergen. Beim folgenden Gespräch mit seinen Räten macht der König Cromwell stumme Vorwürfe. Zuerst nimmt Cromwell das noch mit – sagen wir – Humor: „Manchmal ist es am besten, sich dem König gegenüber forsch zu zeigen, wie ein guter Kamerad. Als säßest du Seite an Seite mit ihm im Well with two Buckets und ihr teiltet euch einen Krug spanischen Wein.“ (928f.) Die Ehe wurde dann gar nicht vollzogen, und es kränkt den König, dass sich dieses Wissen über seine fehlende sexuelle Potenz bei Hofe verbreitet. Einer der Höflinge, Culpeper, zischelt: „‘Wenn der König mit der Königin nicht klarkommt, übernimmt das Cromwell für ihn. Warum nicht? Er macht ja auch sonst alles.‘“ (938) Diese Aussagen besitzt einen kränkenden sexuellen Unterton. Der König ist nicht Manns genug, um eine hässliche deutsche Prinzessin zu schwängern. Das will kein Lord und keine Hofdame unkommentiert lassen. Das gilt im Übrigen auch umgekehrt: Der König sucht nach einem Verantwortlichen, dem er die vermeintliche Liebesheirat mit Anna von Kleve in die Schuhe schieben kann. Es zeigt sich aber auf der politischen Ebene, dass Henry seinen Berater genau für diese misslungene Verbindung verantwortlich macht.


8.    Höfisches Umfeld

Cromwell bewegt sich in einer bestimmten sozialen Ordnung. Sie ist gekennzeichnet durch eine zum einen niedere soziale Herkunft, zum anderen durch die besondere Stellung des Königs an der Spitze der Hierarchie. Unter dem König steht der Adel, der gegenüber Cromwell eine ambivalente Haltung einnimmt: Die einen erleben ihn als Konkurrenten ihrer eigenen dynastischen Interessen, die anderen – wie die Familie Seymour – nutzen ihn als Helfer, um ihre eigene dynastische Stellung zu verbessern. Neben dem Adel sollen zwei Figuren aus dem höfischen Umfeld beschrieben werden, zum einen der Maler Hans Holbein, zum anderen der kaiserliche Botschafter Chapuys, der als Nachbar Cromwells diesen häufiger besucht. Er ist Adliger, vertritt aber eine konkurrierende Macht. Die Gespräche zwischen Cromwell und Chapuys verdienen darum besondere Aufmerksamkeit.

Für die in genau abgegrenzte Klassen eingeteilte englische Gesellschaft des 16. Jahrhunderts war die Gleichheit aller Menschen nur in Frageform ein Thema: „Sind wir nicht alle im Garten Eden gezeugt worden?“ (43f.) Aber aus dieser ursprünglichen Gleichheit folgen noch keine politischen Konsequenzen. Stattdessen ist diese Gleichheit völlig überlagert von Ungleichheiten: Hochadel, Adel und Volk unterscheiden sich in Habitus, Besitz und Einflussmöglichkeiten. An der Spitze der sozialen Hierarchie steht der König, der aller sozialen Beschränkungen enthoben ist. Cromwell akzeptiert die göttliche Ordnung mit dem König an der Spitze der weltlichen und dem Erzbischof von Canterbury an der Spitze der geistlichen Macht.

Daneben legt sich nun ein Gegensatz zwischen Feudalität und Funktionalität: „Thomas Cromwell denkt, wir brauchen fähige Männer, aber der Herzog von Norfolk will Edelmänner.“ (559) Cromwell setzt auf Fähigkeiten und Kompetenz, der Herzog auf Standesbewusstsein. Das ist der soziale Konflikt, der die royale Gesellschaft prägt. Je höher Cromwell selbst in der Hierarchie steigt, desto mehr adlige Titel kann er anhäufen, und er achtet sehr genau darauf, wie seine Gesprächspartner und Kollegen ihn ansprechen, mit oder ohne den korrekten Titel (333). Allerdings besteht in der Sicht des Hochadels ein bedeutender Unterschied zwischen Adel durch Ernennung, den man wieder verlieren kann, und Erbadel, der den höheren Stand einer Familie begründet und nicht verloren gehen kann. Solche Adlige, zum Beispiel Thomas Howard, Herzog von Norfolk, also Vertreter des Hochadels, erweisen sich dauerhaft als die erklärten Feinde Cromwells. In einem Gespräch sagt er zu ihm: „‚Ich sehe Ihren Titel, Mylord. Er ändert nichts daran, wer Sie sind.“ (214) An anderer Stelle, sehr viel später im Roman, sagt Norfolk: „‘Ich glaube, es gefällt Ihnen, von niederer Geburt zu sein‘, sagt Norfolk. ‚Ich denke, Sie geben damit an, Cromwell, dass Sie ein Händler sind.‘“ (850) Und sein Vertrauter Wriothesley kolportiert entsprechende Äußerungen des Herzogs. Cromwell antwortet: „Ich schäme mich meiner Herkunft nicht, Nennt-Mich. Ich werde niemals sagen, dass mein Vater mir nichts beigebracht hat. Er hat mich gelehrt, Metall zu biegen.‘“ (878) Wobei letzteres definitiv auch in einem metaphorischen Sinn gemeint sein muss, so wie Max Weber sagte, Politik sei das geduldige Bohren dicker Bretter. Gegenüber seinem ‚Schüler‘ Wriothesley, der am Ende zu seinen Verrätern gehören wird, bekennt sich Cromwell ausdrücklich zu Vater und Herkunft, aber der Leser weiß, dass sich Cromwell der Ambivalenz seiner Herkunft sehr wohl bewusst ist.

Ein Adliger akzeptiert nur seinesgleichen. Der Sohn eines Schmieds aus einem der schlecht beleumundeten Stadtteile Londons, dieses Thema zieht sich wie ein Leitmotiv durch den gesamten Roman. Cromwell wird in den sehr renommierten Hosenbandorden aufgenommen. Die Mitglieder nehmen das ohne Beifall auf: „Der Sohn eines Brauers: Es braucht Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.“ (626)

Zwischen Surrey, dem Sohn Thomas Howards, und Cromwell kommt es im Schloss des Königs zu einem heftigen Streitgespräch, in dem Surrey sich arrogant und überheblich zeigt (614)[67]. Später muss er seine voreiligen Worte zurücknehmen, Cromwell hat sich von ihm nicht beeindrucken lassen. Er konnte nüchtern darauf hinweisen, dass solcher Streit in Königsschlössern nicht erlaubt war und unter schwerer Strafe stand. Eigentlich bestand die vorgesehene Strafe darin, dem Provokateur die Hand abzuhacken, aber Cromwell erreicht, dass der Sohn des Herzogs nur vom Hofe verbannt wird. Der König bemerkt sehr wohl, dass Cromwell mit einer Bestrafung Surreys alte Rechnungen begleichen könnte und sich trotzdem zurückhält. Dieses Handabhacken schildert Mantel – in Analogie zur ausführlichen Beschreibung der verschiedenen Hinrichtungen – ganz detailliert (618ff.).

Dieser Gegensatz zwischen niedriger Herkunft und Adel kommt auch in anderen Gesprächen auf. Positiv wendet es Edward, der Bruder von Jane Seymour, der dritten Frau des Königs, der ihm von dem Gerücht erzählt, er müsse von adliger Geburt sein, weil er es so gut beherrsche, die übrigen – adligen – Berater des Königs zu beeinflussen Es geht das Gerücht, Cromwell müsse von adliger Geburt sein, weil er andere Männer so gut beherrsche. Sein Gegenüber sagt: „‘Wie ließe sich Ihr Talent, Männer zu beherrschen, sonst erklären, ist ihr Argument?‘“ (580). Margaret Pole, sie wiederum eine adlige Gegnerin, zitiert im Gespräch mit Cromwell ein Sprichwort: „‘Wer höher aufsteigt als er sollte, fällt tiefer, als er es sonst würde.‘“ (304). In der Folge weist sie darauf hin, dass Cromwell als Einzelkämpfer nur deshalb Erfolg hat, weil er sich mit dem König – vorübergehend – verbünden konnte. Die Adligen in ihrer Gesamtheit würden jedoch eine soziale Gruppe repräsentieren, gegen die er nichts auszurichten vermöge (305). Das klingt selbstverständlich übertrieben und ist mehr als Drohung denn als Analyse gemeint. Aber genau das ist auch der Konflikt, der Cromwell schließlich das Leben kosten wird.

Zuletzt schließlich verweisen einige der Lords noch auf Besitzunterschiede hin. Cromwell besitzt keine Leibeigenen, und er kann für den König keine Soldaten zur Verfügung stellen (388f.) Adlige jedoch können jedoch ihre Leibeigenen zum Kriegsdienst für den König verpflichten. Und darum ist der König auf sie angewiesen. Thomas Howard, Herzog von Norfolk, fragt ihn, wie viele Soldaten er stellen kann, um Unruhen im Norden Englands zu bekämpfen. Und Cromwell muss zugeben, dass es nur hundert Soldaten wären. Das ist ihm sehr, sehr peinlich: „Er wünschte, die Erde würde sich öffnen und ihn verschlucken.“ (390) Er ist ein kluger, intellektueller Mann, aber gelegentlich schlagen die Wellen der Peinlichkeit über ihm zusammen. Dieses Gespräch mit Norfolk wird Cromwell noch lange nachverfolgen. Er macht eine Art Gegenüberstellung. Auf der Seite Norfolks stehen Soldaten, Pächter, Waffen, Adel, auf seiner Seite stehen Geld, Intellekt und Tatkraft (394f.) Seine Abneigung gegenüber dem Herzog ist eindeutig: „Er will Norfolk nicht tot sehen, er will ihn lebend und fügsam. Er will ihn dankbar.“ (395) Cromwell kämpft gegen den Adel als träge, degenerierte soziale Klasse, die den sozialen wie technischen Fortschritt behindert (155). Aber zugleich weiß er, dass er sich ohne Verbündete nicht in seiner Stellung halten kann.

Ganz als zum einheimischen Adel gestaltet sich das Verhältnis zum kaiserlichen Diplomaten Chapuys. Beide sind Nachbarn. Der Botschafter kommt regelmäßig zum Abendessen vorbei. Cromwell weiß genau, dass sein Nachbar bestimmte Interessen verfolgt und ihm bestimmte Positionen nahelegen will. Aber in der Regel lässt er sich nicht in die Karten schauen. Einmal meint der Botschafter, es ginge darum, „‘Henry für Sie, mon cher (…) lenkbarer zu machen.“ (73) Das Verhältnis zwischen Henry und Cromwell wird auch von außen genau beobachtet, und man kann darauf rechnen, dass Chapuys sehr daran interessiert ist, wie die Machtverhältnisse am englischen Hofe in Wahrheit liegen, um sich selbst und der Macht, die er vertritt, Einflussmöglichkeiten zu verschaffen. Nach seiner Verhaftung wird man Cromwell diesen Kontakt kaiserlichen Diplomaten zum Vorwurf machen. Der Leser weiß am Ende des Romans, dass er sich bei diesen Gesprächen nie kompromittiert hat.

Dem kaiserlichen Botschafter erzählt Cromwell die hier schon beschriebene Szene, als der König nach einem Sturz ohnmächtig war und sich am Bein verletzt hatte. Cromwell hatte ihn wieder belebt[68]. Der Sekretär und Berater weckt seinen Herrn von den Toten auf, und der König verwechselt seinen Lebensretter mit einem Engel (76).

Chapuys, der kaiserliche Botschafter, vertritt zwar eine gegnerische Macht, aber er erweist sich auch als guter psychologischer und soziologischer Analytiker: „‘Aber Sie verfügen über keine eigene Verwandtschaft, haben keine große Familie im Rücken. Am Ende des Tages sind Sie nicht mehr als Sohn eines Schmieds. Ihr ganzes Leben hängt von Henrys nächstem Herzschlag ab, Ihre Zukunft von seinem Lächeln oder seiner gefurchten Stirn.“ (78f.) Hier taucht im Gespräch mit dem ausländischen Botschafter genau das ‚innenpolitische‘ Thema auf, das den königlichen Berater durch seine ganze politische Karriere hindurch beschäftigt. An diesem Thema wird er auch scheitern. Cromwell hat nur eine Chance, er muss sich so nah wie möglich an den König binden, der aber seinerseits ganz ambivalent agiert. Cromwell kann im Grunde gar nicht anders als immer weiter aufzusteigen und dann genau an der Instanz zu scheitern, die ihn groß gemacht hat.

Eine weitere – durchaus wahrnehmbare – Nebenrolle spielt der Maler Hans Holbein d.J., der aus Basel nach London gekommen ist. Holbein malt für Cromwell, aber auch für den König. Er porträtiert diesen, und er begleitet Cromwell nach Kleve, um dort ein Porträt von Anna, der zukünftigen Ehefrau Henrys zu malen. Bei anderen Reisen besuchen Holbein und Cromwell zusammen den Genter Altar von Jan van Eyck (517). Holbein kann sich durchaus kritische Bemerkungen über den König leisten. Über dessen von ihm selbst gemaltes Porträt flüstert er zu Cromwell: „Jesus Maria. Er sieht aus, als könnte er aus dem Bild springen und uns zertrampeln.“ (613)


9.    Theorie der royalen Politikberatung

Bisher sind die konstitutiven Vorbedingungen (Familie, Ausbildung, politische Organisation der Monarchie, die Beratungsfunktion, soziale Konstellationen) beschrieben worden: Diese bilden die Voraussetzungen, von denen aus Cromwell sein politisches Handeln entfaltet. Es macht die große Stärke von Mantels Romanen aus, dass sie ihre Titelfigur nicht als Helden und entschiedenen ‚Macher‘ präsentiert, sondern jede seiner Entscheidungen in ihrer Ambivalenz darstellt. Es ist anzunehmen, dass diese Grundentscheidung die Darstellung von Cromwells Handeln in den drei Romanen erheblich verlängert hat. Aber nur in dieser Ausführlichkeit werden Ambivalenz und Kontingenz von Cromwells politischen Entscheidungen sichtbar. Als zusätzlicher Aspekt ergibt sich, dass Cromwell seine politische Tätigkeit praktisch und theoretisch reflektiert. Er nutzt sein ganzes intellektuelles wie psychologisches Potential, um sich möglichst gut auf die kontingenten Bedingungen einzustellen, mit denen er konfrontiert wird. Politische Ethik entsteht aus einer persönlichen Disposition der handelnden Person, aus gesellschaftlichen wie politischen Vorbedingungen (König, Adel, klerikale Hierarchie) und aus dem Versuch, das politische Handeln, das sich so ergibt, zu reflektieren. Davon soll jetzt die Rede sein.

Cromwell, wenn er andere beobachtet, versucht stets ruhig zu bleiben, sich nicht von seinen Emotionen mitreißen zu lassen. Seine Erfahrungen sind bestimmt von seinen Erinnerungen an Verstorbene: Sein Vater, der Schmied, hat ihn brutal und hinterhältig verprügelt. Seinen Konkurrenten, den Aaljungen, hat Cromwell erstochen. Den Abstieg seines Mentors, des Kardinals Wolsey konnte er nicht verhindern. Seine erste Frau und die beiden Kinder sind an der Pest gestorben. Anne Boleyn, Cromwells vormalige Vertraute und ihre angeblichen Liebhaber sind hingerichtet worden. Er selbst hat dazu juristisch und politisch beigetragen. Cromwell weiß, dass der König jederzeit auch seinen Lordsiegelbewahrer aufs Schafott bringen könnte. Trotzdem unternimmt er alle Anstrengungen, die Politik des Landes in vernünftige Bahnen lenken. Er führt aus, was er in Italien von den Kaufleuten gelernt hat, die als erste konsequente Buchhaltung und Risikoabschätzung eingeführt haben. Cromwell hasst die verweltlichten Mönche, die ihre Klosterregeln nicht beachten; er verachtet den Heiligen- und Reliquienkult, die Wallfahrten und Spenden, die nur den Reichtum der Mönche vermehren. Er setzt sich für reformatorische Ziele ein, die Heirat von Priestern und Bischöfen, für Bibeln in englischer Sprache, für die Abschaffung des Klosterwesens. Trotzdem bleibt er bei seinem katholischen Abendmahlsverständnis, wehrt alle katholische und protestantische Rechthaberei ab, was ihm den Hass aller Theologen einbringt. Cromwell wirkt wie der erste moderne Manager in einer noch mittelalterlichen, gewalttätigen Welt, die sich langsam und zögerlich dem Fortschritt öffnet.

Das ist der Hintergrund, vor dem sich Cromwell die Frage nach der Richtigkeit seines politischen Handelns stellt. Dadurch, dass die Frage so gestellt wird, nimmt er ethisch eine bestimmte Haltung zur Wahrheit ein. Interessanterweise zeigt sich das ausgerechnet an einem Gespräch zwischen ihm und dem König. Henry ist nicht einfach ein absolutistischer Willkürherrscher. Und er weiß das ganz genau. Auch sein Handeln wird an theologischen Kriterien gemessen, und er verfolgt bestimmte psychologisch-politische Interessen (Dynastie). Der König fragt wie Cromwell nach politischer Ethik: „Henry sagt: ‚Habe ich richtig gehandelt?‘ Richtig? Die Größe der Frage hemmt ihn (Cromwell wv) wie eine Hand auf dem Arm. War ich gerecht? Nein. Umsichtig? Nein. Habe ich das Beste für mein Land getan? Ja.“ (58) Cromwell fragt wie später Präsident John F. Kennedy, der ja bekanntlich in seiner Inauguration Address sagte: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst. Cromwell nimmt die Frage des Königs reflektiert auf. Er hat erkannt, dass es um Kriterien für politisches Handeln geht. Und Cromwell säkularisiert diese Frage: Für ihn fällt die Frage nach der ethisch-moralischen Angemessenheit nicht mehr in den Kontext eines kommenden eschatologischen Gottesgerichts. Vielmehr richtet sich sein Handeln auf ein gutes Leben als Resultat in einer gerechten Gesellschaft. Um sich dorthin zu orientieren, braucht es politisch Vernunft, nicht Frömmigkeit. Cromwell will nur noch den Interessen des eigenen Landes dienen, nicht mehr dem König. Kein Wunder, dass er in dieser Passage das, was er denkt, gegenüber dem König nicht ausspricht. Der Leser hat seine Hintergedanken allerdings sehr wohl wahrgenommen.

Cromwell weiß sehr wohl, dass gute Politik denjenigen, der sie betreibt, nicht glücklich macht. Wer politisch handelt, muss auch die Konflikte ertragen, die solche Politik auslöst. Und Cromwell rechnet mit Konflikten: „Es steht nirgends geschrieben, dass große Männer glückliche Männer sind. Nirgends ist dokumentiert, dass Dienste an der Allgemeinheit Seelenruhe mit sich bringen.“ (879) Er schiebt um der Politik willen seine eigenen Emotionen ins Abseits. Zu einem Diener sagt er: „Nein, ich bin nicht traurig, das ist mir nicht erlaubt. Ich bin zu nützlich, um traurig zu sein.“ (88) Für mich liegt darin, neben einem ausgeprägten Politikwillen, ein gewisses Maß an Ironie. Cromwell gesteht sich keine Emotionen zu und geht ganz in seiner Funktion auf, obwohl er um die Gefahr weiß, die aus der Verdrängung seiner Gefühle entsteht.

Vielleicht lässt sich Cromwells Handeln, so wie Mantel es darstellt, am besten auf den Begriff des Pragmatismus bringen, der allerdings im 16. Jahrhundert selbstverständlich noch nicht geläufig war. Pragmatismus soll hier verstanden werden als der Versuch, innerhalb der gegebenen sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen politisch zu handeln, also Macht auszuüben. Freiheit versteht Cromwell nicht im liberalen Sinn als Willkürfreiheit, sondern als Handeln innerhalb vorgegebener Grenzen, wobei diese Grenzen selbstverständlich verrückt werden können.

Cromwell weiß, dass er genau beobachten muss, um Reichweite und Folgen seines politischen Handelns abschätzen zu können. Seinem Pragmatismus eignen gleichzeitig Momente der Begrenzung und der Befreiung, möglicherweise Überwindung. Der Serien-Cromwell sagt an einer Stelle: „A strong man acts within that that constraints him.” Macht kann niemand willkürlich oder rücksichtslos ausüben. Wer das tut, kann nur untergehen. Das gilt selbst für den König Henry, obwohl diesem solche Vorbedingungen gar nicht richtig bewusst sind. Solche Macht braucht den genauen Blick auf die Begrenzungen, die einen Menschen in seinem Handeln einschränken. Wahre Macht bedeutet, diese Beschränkungen zu sehen, ihre gegen einen selbst gerichtete Energie zu durchschauen und mit ihr zu arbeiten. Das ist, was Cromwell seine gesamte politische Karriere hindurch erfolgreich praktiziert. Er lernt, die Reichweite und die Durchschlagskraft seines Handelns einzuschätzen und mit gezielten kleinen Schritten – einschließlich eines gerüttelten Maßes an Skrupellosigkeit – immer weiter zu vergrößern, bis er dann selbst abstürzt und aus dem Zentrum der Macht herausfällt.

Diesen Pragmatismus als politische Haltung hat Cromwell von seinem Mentor Wolsey gelernt: „Wolsey sagte immer, finde heraus, was die Menschen wollen, vielleicht kannst du es ihnen bieten. Es ist nicht immer das, was du denkst und mag billig zu beschaffen sein. Bei Thomas More hat es nicht funktioniert.“ (88) Der Politikbegriff orientiert sich nicht an eigenen Zielen, sondern an den Wünschen der anderen. Genau in dieser Hinsicht ist Cromwell – in Mantels Darstellung - weder Idealist noch Fanatiker.

Nur mit Philosophie kann ein Staat nicht geführt und gestaltet und eine Gesellschaft nicht fortentwickelt werden: „Irgendwo, vielleicht auch nirgends, gibt es eine Gesellschaft, die von Philosophen regiert wird. Sie haben saubere Hände und reine Herzen. Aber selbst in der Hauptstadt des Lichts gibt es Müllgruben und Misthaufen voller Schmeißfliegen. Selbst in der Republik der Tugend brauchst du einen Mann, der die Scheiße wegschaufelt, und irgendwo steht geschrieben, dass er Cromwell heißt.“ (544) Das Reich der Philosophenkönige (Platon) bleibt eine Utopie, die nicht Wirklichkeit werden kann. Reinheit, Klarheit, Struktur und Ordnung, die das Philosophenreich so bewunderungswürdig machen, täuschen. Und nur Cromwell durchschaut das, weil er als Politiker handelt und nicht als Philosoph nachdenkt, aber er zahlt dafür auch einen Preis: Er muss die Drecksarbeit leisten.

Diese Relativierung der Philosophie zeigt sich auch an einem anderen Punkt: Cromwell fühlt sich nicht gezwungen, seine Wahrheit bis zum Letzten durchzusetzen. Er ist kein Idealist, der seine Ideen bis zum kleinsten Detail verwirklichen muss. Cromwell hat das verstanden und lässt darum auch die Wahrheit anderer Menschen gelten, solange er selbst ein Stück vom politischen Kuchen erhält und er in der Lage ist, seine eigene Macht zu vergrößern, was gelegentlich eher zufällig geschieht und ohne dass er seine politisch-strategischen Fähigkeiten zuvor eingesetzt hat.

Cromwell sieht sich selbst nicht als Intellektuellen, sondern als Rechtspragmatiker: „Während er, der Lordsiegelbewahrer, zwar kein Gelehrter ist, aber durch jeden Text rauscht und dir sagt, worum es genau geht. Schickst du ihn eine Rede halten, tut er es aus dem Stegreif. Bitte ihn, ein Gesetz zu entwerfen, und es wird präzise wie das Kontenbuch eines Pfennigfuchsers.“ (643) Er ist ein Pragmatiker der Verwaltung, intellektuelle Spielereien und Spiegelfechtereien liegen ihm nicht. Er ist auch kein Universitätsprofessor und hätte es nicht werden können. Das stört ihn allerdings nicht weiter.

Gegenüber seinen engsten Mitarbeitern lässt er sich darüber aus, wie politische Entscheidungen zu treffen sind. „Er sagt zu Rafe und Nennt-Mich, ich dränge euch beide, unternehmt nichts, ohne gründlich darüber nachzudenken: aber lernt, sehr schnell zu denken.“ (710) Hier zeigt sich Cromwell als Rationalist. Dass die Vernunft in ihrer Reichweite begrenzt ist, erwähnt er an dieser Stelle nicht, aber das ergibt sich implizit, zum Beispiel in dem Wissen, dass er nicht immer gewinnen kann: „Du gewinnst einen Punkt und verlierst einen, gewinnst und verlierst.“ (870) Das hat Cromwell ebenso verstanden wie Francis Underwood: Man kann nicht immer gewinnen. Politiker müssen lernen, Niederlagen als normalen Teil des Geschäfts zu betrachten. Ich bin überzeugt, das macht Cromwell und Underwood so erfolgreich, dass sie immun geworden sind gegen das Jubeln beim Erfolg und gegen die Bitterkeit bei einer Niederlage.

Mantel stellt ihren Protagonisten stets so dar, dass er der Vernunft als Entscheidungskriterium vor allen anderen Bewertungen den Vorzug gibt. Das gilt in Richtung des Königs und des Adels, das gilt aber auch in Richtung der Kirche. Von allen Arten des auch kirchlich geprägten Aberglaubens lässt er sich nicht täuschen. Er lässt sich nicht beirren von Prophezeiungen, predigenden Mönchen, Flüchen und magischen Praktiken. Deswegen hasst er Mönche in Klöstern, die versuchen, aus der Frömmigkeit und Leichtgläubigkeit der unsicheren Menschen Profit zu schlagen. Cromwell hat sich einem Pragmatismus verschrieben, den er den florentinischen Kaufleuten abgeschaut hat, für die er als junger Mann tätig war.

Jedoch: Aus Cromwells pragmatischer Philosophie folgt nicht die Ablehnung der Theologie, nur die Ablehnung von Aberglaube, Magie und allen Arten von Mummenschanz. Er nimmt, nachdem er das erkannt hat, Worte nicht mehr so ernst. So sagt er über den Eid, den Thomas More, der Rivale, Theologe und papsttreue Kirchenmann schwören soll (in der Serie): „You just have to say some words, that’s all.“ Er nimmt Worte, auch wenn es sich um einen Eid handelt, nicht mehr so wichtig, wie More, den er zunehmend für einen Rechthaber hält. Thomas More weigerte sich trotz Cromwells intensiver Bemühungen, einen Eid auf das Legitimitätsgesetz des Königs zu leisten. Cromwell baut ihm goldene Brücken, um der Hinrichtung zu entgehen, aber More ist zu stur und zu gefangen in seiner Theologie, um diese Brücken zu betreten. Cromwell sieht genau, was kommt. Schon im Vorlauf der Hinrichtung Mores hat er zu seinem Kontrahenten gesagt (wieder in der Serie): „There’s a fine line between sacrifice and self-slaughter.“ More ist nicht bereit, diese wenigen Worte zu sagen, obwohl sie ihm das Leben retten würden.

Cromwell hat es am Ende nicht besser gemacht: Auch er wird hingerichtet, aber er hat länger überlebt. Dass er überleben konnte, bedeutete aber, dass er zu Mitteln griff, die außerhalb des Moralischen und des Legalen lagen: Gewalt, Spionage und Lüge.

Bei Cromwell liegt das in der Konsequenz seines intellektuellen Kalküls: Ein politisch denkender Mensch ist verpflichtet, alles zu tun, um sein Leben zu erhalten. Dafür ist im Notfall auch mehr erlaubt als das anständige, humanistische Minimum. Cromwell schreckt vor Intrigen, Verrat, Mord nicht zurück – um sein Leben zu erhalten und seine Macht zu vergrößern. Das hat er mit Frank Underwood gemeinsam. Um des Überlebens und der Macht willen muss Cromwell das, was er für Wahrheit hält, nicht unter allen Umständen und mit aller Macht durchsetzen.

„Manchmal dauert es Jahre, bevor wir erkennen können, wer die Helden einer Geschichte sind und wer die Opfer. Märtyrer denken oft nicht an die Folgen ihrer Taten.“ (540) Das ist zum Beispiel auf den erwähnten Thomas More gemünzt. Es könnte sich dabei um so etwas wie eine ‚frühe‘ Formulierung des Gegensatzes zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik handeln.

Folter und Hinrichtungen sind für Cromwell legitimes Mittel der Politik (563)[69]. Das heißt aber nicht, dass Cromwell grundsätzlich Gewalt verherrlichen würde. Im Grunde lehnt er Krieg, Gewalt und Folter ab, wobei das eine moderne Eintragung der Autorin sein könnte. Im Gespräch mit seinen Mitarbeitern bemerkt er, dass seine ganze Politik auf Verständigung angelegt ist (234). Kann man ihm das glauben? Nicht so ganz. Er vermeidet den Krieg, das ist sicher, weil er weiß, was er kostet. Cromwell geht stets sehr vorsichtig mit der Möglichkeit des Krieges um. Er fürchtet ihn, weil er finanziell sehr aufwendig ist. England besaß zu seiner Zeit kein stehendes Heer (784). Zum König bemerkt Cromwell: „‘Der Kardinal sagte immer: Ehen funktionieren besser als Kriege.‘“ (296) Kriege kosten Geld und bringen Leid. Das Zitat zeigt sehr deutlich die Bedeutung von Ehen, und das kam Henry durchaus entgegen. Erotik ist nebensächlich, wenn die politischen Verbindungen stimmen. Das allerdings gilt nur für Cromwell, nicht für Henry.

Cromwell geht mit seinen innenpolitischen Gegnern nicht zimperlich um. Er liest in den Briefen, die man sich in den adligen Familien untereinander schreibt. Er lässt Briefe heimlich kopieren oder die Post abfangen (750. 805). Er muss wissen, was die anderen Berater denken, besonders seine zahlreichen Gegner. Er platziert Edelfräulein an den Höfen der Adligen, damit sie ihm weitergeben, was sie aufschnappen. Außerdem lässt er an anderen Adelshöfen spionieren (250.275.663.705).

Das dritte Mittel, Einfluss zu erlangen, ist die Lüge. Cromwell weiß sehr genau, dass sowohl die Lüge als auch die Wahrheit Menschen kränken können. Zu seinem Sohn sagt Cromwell: „Es ist nicht falsch zu sagen, was man denkt. Gelegentlich. Sie lassen dich dafür bezahlen, aber es geht nicht anders.“ (19) Jede Aussage soll auf den abgestellt werden, der sie hört. Es geht nicht darum, die Wahrheit zu sagen, es geht darum, sein Gegenüber zu beeinflussen. Wer die Wahrheit sagt, der verstört womöglich den anderen. Das ist eines der Grundthemen, die den gesamten Roman durchziehen. Cromwell bespricht sehr, sehr viel mit seinem Sohn, seinem Neffen und seinen engsten Vertrauten. Insbesondere beredet er mit ihnen das prekäre ambivalente Verhältnis zum König. Mit ihnen kann er privat besprechen, was er bei Hofe oder in der Öffentlichkeit nie sagen würde.

Lüge, Folter, Hinrichtungen und Spionage deuten auf Machtmissbrauch und Skrupellosigkeit. Aber dieser Machtmissbrauch findet auch sein Gegengewicht in Cromwells erwähnter Selbstbezeichnung als Metzgershund, der treu seinem Herrn dient. Eine spätere Meditation Cromwells über Gehorsam verweist wieder auf die Tiermetaphorik. Als er plant, Mary, der katholischen Tochter Katharines von Aragon und des Königs, ein Geschenk zu machen, denkt er über Gehorsam nach: „Gehorsam verbindet uns, alle üben ihn, unter Gott. Er ist die Grundlage unseres Lebens als Menschen, in Städten und Häusern, nicht in Fellen und Erdlöchern. Wobei selbst Tiere sich dem Löwen fügen. Tiere zeigen Weisheit und Diplomatie.“ (217) Es wäre interessant, weiter zu fragen, wie sich Gehorsam und Macht zueinander verhalten. Cromwell würde vermutlich sagen, dass gehorsam sein muss, wer Macht ausüben will. Die Grundlage für Machtausübung ist das Bewusstsein dafür, dass die eigene Macht begrenzt ist.

Hatte Cromwell ein theoretisches Konzept von Politik? In einer Nebenbemerkung heißt es einmal, er habe ein wichtiges Manuskript des Italieners „Niccolò“ erhalten und studiert[70]. Machiavelli gilt als Begründer eines Politikbegriffs, innerhalb dessen dem Fürsten alles erlaubt ist, um seine Macht zu erhalten und zu vergrößern. Mittlerweile herrschen begründete Zweifel, ob das so stimmt. Cromwells Übernahme Machiavellis ist dadurch geprägt, dass sie neben einer gewissen Skrupellosigkeit auch Grenzen kennt.

Die Macht des Fürsten ist nicht durch ein Gegengewicht ausbalanciert, sie kennt darum keine moralischen Grenzen. Man könnte denken, Cromwell sei in diesem Sinn frei von Skrupeln. Und er mordet ja, er lügt und täuscht und spioniert. Aber Cromwell ist nicht der König oder Fürst, er ist nur Assistent, Sekretär, Berater, Ratgeber. Er ist stets von der Willkür seines Chefs abhängig. Er hilft dabei, mit all seiner Vernunft und seinen politischen Fähigkeiten, die Macht seines Königs zu erhalten. Keinesfalls ist Cromwell ein Gesinnungsethiker. Er geht nicht blinden Auges aufs Schafott, um seine protestantischen Wahrheiten durchsetzen zu können. Wobei zu bemerken ist: Wegen seines Hasses auf die Mönche neigt er durchaus dem Protestantismus zu, aber nur solange, wie es seine Machtposition nicht gefährdet[71].

Cromwell akzeptiert die gegebene gesellschaftliche und politisch Ordnung, die er als theologisch legitimiert begreift. Über diese fixierte politische Ordnung haben sich schillernde, unberechenbare ethische Entwürfe gelegt, welche der Willkür, dem Machtgebrauch und der Vernunft verpflichtet sind. Die Vernunft gewinnt nicht immer die Oberhand. Cromwell steht auch nicht an der obersten Position der Macht. Er ist einer bestimmten Person verpflichtet. Cromwell reflektiert über politische Ethik: „Wir Diener des Königs müssen uns an Spiele gewöhnen, die wir nicht gewinnen können, aber bis zu einem erschöpften Remis durchzustehen haben, ohne dass die Regeln erklärt würden. Unsere Anweisungen sind voller Fallstricke und Fallen, was bedeutet, dass wir mit jedem Gewinn auch etwas verlieren.“ (984) Cromwell stilisiert sich zum Schachspieler der politischen Vernunft. Die Besonderheit dieses Schachspiels besteht nun darin, dass andere Personen die Regeln definieren, nach denen er spielen muss.[72]

Cromwell versucht sich in seiner politischen Ethik an einer doppelten Aufgabe, deren Beschreibung dieses Bild des Schachspiels aufnimmt. Zum einen versucht er, das gesamte Spielfeld im Blick zu behalten, damit er weiß, was geschieht und worauf er reagieren muss. Zum anderen macht er die Beziehung zum König zum zentralen Punkt seiner Strategie. Dieser letzte und wichtigste Bereich seiner politischen Ethik beginnt mit der Erkenntnis, dass zwischen dem öffentlichen Bild, das die Menschen vom König haben und seinem (privaten) Selbstbild eine große Differenz besteht: „Fürsten sind nicht wie andere Menschen. Sie müssen sich vor sich selbst verstecken, oder sie würden vom eigenen Glanz geblendet. Wenn du das begriffen hast, kannst du anfangen, jene gesichtswahrenden Barrieren zu errichten, Wände, hinter denen sich Korrekturen vornehmen lassen, offene Räume, in denen sich kehrtmachen und alles auf den Kopf stellen lässt.“ (89) Es ist nicht klar bei dieser Passage, die aus einem Gespräch zwischen Cromwell und Chapuys stammt, ob hier Cromwell oder der Botschafter nachdenken. Vermutlich hat Mantel das absichtlich so gestaltet, denn der Botschafter leidet unter der Willkür des Kaisers und Cromwell unter derjenigen Henrys. Fürsten neigen grundsätzlich dazu, sich selbst und ihre Macht zu überschätzen, ihr Selbstbewusstsein aus der Reverenz zu ziehen, die ihnen von ihren Untertanen entgegengebracht wird.

Cromwell bleibt in diesen Gesprächen mit Chapuys stets skeptisch, er vermutet sowieso, dass der Botschafter in nur ins Vertrauen ziehen will, damit er Informationen preisgibt, die für diesen nicht bestimmt sind. Cromwells Reflexionen allerdings spiegeln durchaus die Schmeicheleien wider, mit denen ihn Chapuys zu ködern versucht: „Heute leben wir in einer Zeit des Zwanges, in der der Wille des Königs ein Werkzeug ist, das jeden Morgen von einem Meisterschmied neu geformt wird: scharf und spitz und harsch windet es sich tief in unsere Zeit.“ (88) Vater Cromwell schmiedete Hufeisen, der Sohn Cromwell schmiedet als politischer Stratege den Willen des Königs.

Cromwell fasst sein Nachdenken über sein Verhältnis zum König in einen Fürstenspiegel, den er das „Buch Henry“ (z.B. 492ff.) nennt. „Er will sämtliche Hinweise darin zusammenfassen, die er den Räten des Königs gibt, besonders den kürzlich erst vereidigten. Ihre Aufgabe ist es, die Tugend des Königs anzuregen und zu beflügeln. Wenn Henry sich für gut hält, wird er Gutes tun. Wenn du seine Seele jedoch schlecht aussehen lässt, indem du ihn mit moralisch vollkommenen und glücklichen Fürsten vergleichst, wundere dich nicht, wenn dir Grund zur Klage gibt.“ Und dann heißt es weiter: „Manchmal liest er ein wenig in diesem Buch, um seinen Glauben an sich selbst wiederherzustellen. Er hat große Pläne mit diesem Buch. Es muss nicht lang werden, aber sehr weise.“ (275) Das Buch Henry ist wohl nicht historisch. Vor seiner Verhaftung, die Cromwell vorausahnt, sorgt er dafür, dass das Buch verbrannt wird. Aber Cromwell als Figur der Autorin ist von dem Gedanken besessen, seine Reflexionen über Politik und Macht in einem Fürstenspiegel zusammenzufassen. Daraus sollte eine politische Philosophie der Macht entstehen. Mantels Cromwell hatte nicht im Sinn, das „Buch Henry“ zu publizieren. Er wollte es einer Elite von Politikberatern vorbehalten wissen.

Im „Buch Henry“ stellt Cromwell Aphorismen zusammen; die Themen berühren diejenigen politischen Felder, die hier schon dargestellt wurden. Ein Beispiel: „Man kann nicht voraussehen, was der König tun wird, oder ihn wirklich kennen. Thomas More hat das nicht begriffen. Deshalb lebe ich noch und er nicht.“ (493) Andere Personen bleiben für Cromwell ebenfalls unberechenbar. Jeder, der Einfluss auf einen anderen haben will, muss das anerkennen, sonst begibt er sich in Gefahr, nicht das zu erreichen, was er erreichen will.

Ein weiterer Ratschlag aus dem Buch: „Er (der König wv) muss gemocht werden und recht haben. Vor allem aber musst du ihm zuhören, mit sehr großer Aufmerksamkeit.“ (494) Diese Ratschläge wirken ja keineswegs königsspezifisch. Sie gelten für jedes Verhältnis eines Chefs (Mentors, Funktionärs etc.) zu seinem beigeordneten Mitarbeiter (Protégé, Schüler, Nachfolger etc.). Es ist die große Leistung Mantels, dass sie aus Cromwell eine Figur gemacht hat, die für an Politik und Macht interessierte gegenwärtige Leser spannend ist.

Ein weiteres Zitat macht die feinen Untertöne deutlich, die Mantel in ihren Roman eingebaut hat: „Kehre dem König nicht den Rücken zu. Dabei geht es nicht allein um das Protokoll.“ (495) Der König muss stets im Fokus der vernünftigen wie moralischen Aufmerksamkeit bleiben, es geht um weit mehr als um Höflichkeit.

Wenn Cromwell in den Gesprächen mit dem König nicht weitergekommen ist, greift er in seiner Ratlosigkeit oft zu diesem Buch. Und er muss resignierend erkennen, dass ihm die notierten Reflexionen nicht sehr viel weiterhelfen. „Er (Cromwell wv) nimmt das Buch Henry. (Er hält es unter Verschluss.) Er fragt sich, ob er irgendwelchen Rat für sich hinterlassen hat. Aber er sieht nur, wie viel unbeschriebenes Papier da ist. Leere Seiten.“ (691) Cromwell beherrscht Henry nicht. Einmal geht es besser, zu anderen Zeiten schlechter. Am Ende nehmen die Notate den Charakter von Schicksalsergebung an: „Das Buch Henry: Sag niemals, was er nicht tun wird.“ (992) Der König ist und bleibt unberechenbar.

Ganz am Ende, als er im Tower auf seine Hinrichtung wartet, muss er konstatieren, dass ihm seine ganzen Reflexionen, die notierten und die ergrübelten, nicht geholfen haben: „Er hat zahllose Fürstenspiegel genannte Schriften gelesen, die konstatieren, dass der weise Ratgeber stets auf seinen Fall vorbereitet sein muss.“ (1004) Es ist darüber zu staunen, wie ruhig und gelassen Cromwell in Mantels Darstellung auf seine Hinrichtung zugeht. Er sorgt dafür, dass sein Sohn und seine Familie, seine Mitarbeiter nicht mit in den Strudel gezogen werden, den er verursacht hat.[73]

Bei aller Mühe, die sich Cromwell mit seinen Reflexionen gibt, er kann nicht verhindern, dass das etablierte Verhältnis zwischen dem König und ihm eine psychologische, emotionale und sentimentale Seite hat und dass diese emotionale Seite schließlich die Überhand gewinnt. Der König neigt zu solcher Sentimentalität mehr als Cromwell. Der König sagt bei einer Gelegenheit: „Wenn Gott je auf uns herunterblickt, was sähe er da? Zwei ältere Männer im vergehenden Licht, die über ihre Vergangenheit reden, weil sie so viel davon haben.“ (888) Und dann sprechen beide über Verletzungen aus der Vergangenheit. Der König fährt fort: „‘Sie haben mich verletzt, und ich habe es ihnen vergeben. Ein Herrscher muss das tun. Ich habe mich in diesen zehn Jahren verändert. Sie nicht so sehr. Sie überraschen mich nicht mehr so wie früher, und ich glaube nicht, dass Sie es sich angesichts dessen, was Sie alles gesagt und getan haben, noch einmal tun werden, einiges davon wunderbar, Tom, das will ich nicht abstreiten. Sie arbeiten mehr als zehn gewöhnliche Männer. Trotzdem vermisse ich den Kardinal von York noch immer.“ (888f., Hervorhebung wv) Über diese Aussage ist Cromwell erschrocken. Nicht nur kränkt ihn der Hinweis auf die Überlegenheit seines Mentors Wolsey. Es besorgt Cromwell zutiefst, dass der König sich mit ihm langweilt. Cromwell verlässt den Raum: „Als er hinausgeht, spürt er den Puls in seinem Hals. (…) ‚Er ist mich leid‘, sagt er aufgekratzt. ‚Es hat es mir gesagt. Der Geist des Kardinals sticht mich aus.‘“ (889)

Die Reflexion einer politischen Ethik, die im ‚Buch Henry‘ ihre konkrete Gestalt fand, war die Leiter, die den Erfolg Cromwells erst ermöglichte. Sie fußt auf einer Mischung aus Beobachtung, Geduld und Abwarten. Sie enthält in ihrem Kern eine Reflexion darüber, den eigenen Einfluss nicht zu überschätzen. Am Ende hat sie Cromwell aber doch nicht vor der Hinrichtung gerettet.


10. Rule, Britannia

Um sich ein Gesamtbild zu verschaffen, gilt es, neben die psychologischen und politischen Aspekte der Lebensgeschichte Cromwells auch die gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte zu stellen. Die mittelalterliche Welt, die von ritterlicher Gewalt, Seuchen, Folter und drakonischen Strafen bestimmt war, verwandelt sich unter Cromwells Augen in die Welt der englischen Renaissance und des Frühkapitalismus. Diese Verwandlung klang schon an in der italienischen Lehrzeit Cromwells bei den Kaufleuten von Florenz.

Cromwell weiß, dass er den technischen und sozialen Fortschritt auf seiner Seite hat. Er sagt: „‘Zu viel ist in England gesagt und getan worden. Der König kann dem Wandel nicht widerstehen, selbst wenn er es wollte. Lassen Sie mich noch ein, zwei Jahre leben, und ich werde dafür sorgen, dass das, was wir getan haben, nie wieder rückgängig zu machen ist, von keiner Macht auf Erden. Und selbst wenn Henry sich dreht, ich werde es nicht.“ (752) Das sagt er im Tower im Gespräch mit der inhaftierten Elizabeth Darrell, die für ihn spioniert hat, und es betrifft insbesondere diejenigen Aspekte, die mit dem theologischen Fortschritt zu tun haben, auf den ich im nächsten Abschnitt komme.

Es wäre ein Missverständnis, Cromwell allein auf die politischen Intrigen mit dem Adel bei Hofe festzulegen. Cromwell ist derjenige, der die im wahren Sinne des Wortes Drecksarbeit verrichten lässt, um die sich niemand anderes kümmern will. Auf der anderen Seite ist er es, der rational handelt und Technik und Wirtschaft voranbringt. „Wer, wenn nicht Cromwell? Ihr Mann für Wasserläufe und Kanalisation, Leichenhäuser und Abraumhaufen.“ (887) Cromwell setzt sich für Hygiene, verbesserte Lebensbedingungen, soziale Absicherung ein. Im Übrigen: In diesen Coronazeiten, da ich diesen Essay schreibe, erscheint erwähnenswert, dass der König keine Stadt besuchte, die nicht nachgewiesenermaßen pestfrei war (844). Nicht dass Cromwell die genannten Entwicklungen das schon expressis verbis als technischen Fortschritt bezeichnen würde, dafür ist es im 16. Jahrhundert noch zu früh. Aber er setzt dieser Entwicklung, die noch nicht zu einem mächtigen Strom geworden ist, auch nichts entgegen - im Gegenteil, er befördert sie.

Auf der anderen Seite denkt er über England als Kulturnation nach, und er erweist sich als erstaunlich dünkelhaft. „Das gemeine englische Volk lebt von Liedern, Lügengeschichten und Kneipenwitzen. Sie geben ihr Geld für Kerzen aus, die vor Statuen abbrennen, leben im Dunkeln und fürchten sich, weil sie nichts sehen.“ (404) Die Nationalkultur ist mit Aberglauben und katholischer Volksfrömmigkeit verbunden. Wenig später wird die Verbindung zur Theologie noch deutlicher: „Es ist schwer für sie (das Volk wv), der wahren Schrift zu lauschen: Es gibt kein Fegefeuer, nur das Jüngste Gericht. Gott ist kein Straßenhändler, der seine Gnade pfundweise verkauft und seinen Zorn nach Yards bemisst. Du kannst dir deine Erlösung nicht erkaufen und auch keinen Mönch damit beauftragen, sie für dich zu arrangieren.“ (405) Das ist die polemische Seite der lutherischen Theologie, für die er sich aus Vernunftgründen stark macht.

Cromwell weiß aber, dass er sich nicht insgesamt gegen Kultur und Tradition Englands stemmen kann: „Es sind nicht einfach nur die Heiligen und Märtyrer, die das Land für sich beanspruchen, sondern auch die, die vor ihnen da waren: die Zwerge in den Gräben, die mit dem Wind singenden Geister, die in die Kanäle gemauerten und unter Brücken begrabenen Dämonen, die Knochen unter diesem Fußboden. Du kannst sie weder besteuern noch zählen. Seit zehntausend Jahren gibt es sie schon und nochmal zehntausend davor. Sie lassen sich nicht einfach von Bauern mit neuen Pachtverträgen und Gesetzesdienern mit Besitzurkunden enteignen. Sie blubbern aus der Erde, tragen Küsten ab, säen Unkraut ins Korn und lassen Minen einstürzen.“ (880) Damit reflektiert Cromwell auf die Kultur, die ihn hervorgebracht hat. Sie ist bedrohlich, er kann sie nicht beherrschen, und dennoch kündigt sich schon in den ‚Pachtverträgen‘ die kommende funktionale Technokratie an. Aber entscheidend für Cromwell sind die theologischen Veränderungen, die sich in der Reformation in Deutschland und in der Schweiz schnell durchgesetzt haben. Cromwell stellt sich die Frage, was er für England übernehmen kann.


11. Halbe englische Reformation

Die Reformation, die sich in England nicht so nachhaltig durchsetzt wie in Deutschland und der Schweiz, vertreibt in England aber doch mindestens, so stellt es Mantel dar, Magie, Aberglaube, Leichtgläubigkeit. Cromwell optiert dafür, die Bibel ins Englische übersetzen zu lassen, damit die lesenden Bürger selbst die Entscheidung über ihren Glauben treffen können. Er strebt an, den umfassenden Einflussbereich der Religion zu reduzieren, ohne aber Religion ganz preiszugeben. Einen Säkularisierungsprozess intendiert er nicht. Aber Religion im herkömmlichen Sinn regelt in England alle Lebensbereiche, zum Beispiel auch Sexualität und behindert damit die Entfaltung des Alltagslebens. Beischlaf in bestimmten Positionen gilt als Sünde. Freitags ist er verboten, weil an diesem Tag der Herr am Kreuz starb. An den Gedenktagen bestimmter Heiliger gilt das gleiche Verbot. „Mehr als die Hälfte des Jahres ist [der Beischlaf] auf die eine oder andere Art unerwünscht. Es ist ein Wunder, dass überhaupt jemand geboren wird.“ (70) Das muss in Cromwells Sicht geändert werden, durch eine Verschiebung der theologischen Grundoptionen.

Cromwell verbindet Vernunft und Theologie, und im Ergebnis folgt daraus der prinzipielle Kampf gegen alle Formen von ‚papistischem‘ Aberglauben: Reliquienkult, Anbetung von ‚Knochen‘, Wallfahrten, die alle dazu dienen, den Zufall zu zwingen und dafür sein Geld anderen zu überlassen. Das ist im Übrigen die spätmittelalterliche Version des Versuchs, den Zufall zu bewältigen und zu bezwingen. Sie behandelt genau das gleiche Problem wie Underwoods flipism, nur mit einer völlig anderen Lösung: Der Zufall soll durch einen Reliquienkult eingezähmt werden. Cromwell ist in diesem Kampf sehr eindeutig: Religion akzeptiert er, aber alles soll abgeschafft werden, was das vernünftige, normale Leben im Alltag behindert. Er kritisiert den Reliquienkult (868), er kämpft gegen „Geistergeschichten“ und hält sie für „Erpressung“: „Sie sollen das arme Volk so erschrecken, dass es für Gebete und Amulette zahlt, die es beschützen.“ (681). Er kämpft gegen den Aberglauben; er konfisziert die Utensilien und Bücher der Hexenmeister (671). Bei diesem Kampf trifft er auch auf heftigen Widerstand: Die Menschen vom Land schicken Cromwell eine Bittschrift, damit die Heiligen wieder anerkannt werden. „Ohne ihre regelmäßigen Feiertage verlieren sich die Gläubigen in ihrem Kalender in einem Meer aus Tagen, die alle gleich sind. Er denkt, es könnte erlaubt werden, es sind alte Heilige ohne größere Verehrung.“ (591) Cromwells Pragmatismus schimmert immer durch. Er ist kein radikaler Lutheraner. Er lässt zu, die Kalenderreform rückgängig zu machen, weil es für die Abschaffung der Heiligenverehrung nicht viel beiträgt.

Zwischendurch heißt es bei der Beschreibung einer Nachstimmung lakonisch: „Gott weilt im Himmel.“ (86) Und dies ist ein kennzeichnender Satz für die Theologie Cromwells. Gott ist im Himmel und greift nicht in die Welt ein. Aberglaube und Magie richten nichts aus, die Menschen sind auf ihre Vernunft angewiesen. Und ein weiteres Mal ist hier eine enge Parallele zu Frank Underwood zu sehen. Allerdings macht diese Entscheidung zwischen Himmel und Erde, Gott und Mensch, Cromwell im Gegensatz zu Underwood nicht zum Atheisten.

Cromwell würde gerne den Einfluss der katholischen Kirche zurückschrauben. Und das ist eine erhebliche Gefahr, denn er könnte wegen solcher Positionen als Ketzer hingerichtet werden. Mindestens schafft er sich eine Reihe von Feinden. Cromwell unterhält sich mit dem der Reformation wohlgesinnten Erzbischof Cranmer, der in Deutschland heimlich geheiratet hat, über die Beichte, die Jesus nicht als Sakrament eingesetzt hat. Beide sind sich einig: Der König würde zur Abschaffung der sakramentalen Beichte seine Zustimmung nicht geben. „Henry gefällt es, seine Sünden auszusprechen und Vergebung zu erfahren. Seine tun ihm stets ernsthaft leid, und er wird es nicht wieder tun. In diesem Fall vielleicht nicht. In die Versuchung, deiner Frau den Kopf abzuschneiden, kommst du nicht jedes Jahr.“ (123) Der Gang zur Beichte besitzt für Henry einen kindlichen Charakter, beinahe etwas Unernstes. Das Katholische ist dem König durch die Erziehung eingeimpft (481). Mit einer gewissen Ironie vermerkt Cromwell Sünden, die sich nicht richtig vergeben lassen. Die Hinrichtung Boleyns war für den gesamten Hof ein Schock, nur Henry wollte sich diese Ungeheuerlichkeit nicht eingestehen.

Cromwell strebt eine Reform der Kirche an, und er ist gezwungen, sich wegen der Heiratspolitik von Henry außenpolitisch gegen den Papst zu stellen. Nicht immer kann er verhindern, dass Anhänger der Reformation in England bestraft oder gar hingerichtet werden.

Ketzerei wird streng geahndet, nicht nur mit Hinrichtungen. Cromwell lässt eine Gruppe von Reformationsanhängern zum Widerruf zwingen: „Sie sind auf Eseln durch die Stadt geführt worden, rückwärts im Sattel sitzend, die Gesichter zum Schwanz gerichtet. Zerrissene Blätter der Schriften Luthers sind an ihre Mäntel geheftet und flattern wie graue Lumpen. Auf dem Rücken tragen sie Reisigbündel, auch Barnes, um sie daran zu erinnern, dass der Scheiterhaufen auf sie wartet, wenn sie sich erneut versündigen. Wie Bruder Barnes haben sie widerrufen.“ (324) Diese öffentliche Demütigung trägt grausam offensiven Charakter. Aber Cromwell weiß, was er tut, denn nur so kann das Leben der Männer retten. Mit dem Theologen Robert Barnes, der auf den Kontinent geflohen war, redet er über Luther. Auf den Flugblättern, die Barnes ihm zeigt, wird dieser mit Heiligenschein dargestellt. Das missbillige Luther, sagt Barnes und preist stattdessen die Chancen des Buchdrucks für die Reformation (326). Cromwell lässt sich von Barnes nicht zu aktiver und öffentlicher Unterstützung für Luther bewegen, auch nicht bei Hofe. Was Cromwell angeht, so fördert er die Reformation im Verborgenen, zusammen mit dem Erzbischof Cranmer, der lange in Deutschland gelebt und heimlich geheiratet hat (327).

Cromwell hat seine Schwierigkeiten mit den (lutherischen) Theologen. „Es ist nicht leicht, denkt er, mit Männern, die glauben, dass wir seit dem Missverständnis im Garten Eden, weder unserer Vernunft folgen noch einen eigenen Willen haben.“ (330) Hier macht sich bemerkbar, dass Cromwell nicht nur in die Bibel schaut, sondern sich auch von seiner Alltagsvernunft leiten lässt. Die Theologie Luthers empfindet er als depressiv: „Luther, ich weiß, wendet den Blick von allem ab, was unsere traurige Situation besser macht.“ (330f.) Und Mantel fährt dann fort: „Er bricht ab, es gibt zu viel, woran er nicht glaubt.“ (331) Er legt sich dann auf folgende Option fest: Eine englischsprachige Bibelübersetzung will er durchsetzen, das meiste andere, was die Reformation ausmacht, bleibt ihm fremd. Mit der Lektüre der Bibel werden die einfachen Glaubenden, die Laien, besser in der Lage sein, à la longue ihre Theologie gegen den bevormundenden Klerus durchzusetzen.

Damit votiert Cromwell nicht pauschal für das Reformatorische, sondern gegen das, was der alltäglichen Vernunft widerspricht. An bestimmten Punkten bleibt er jedoch hartnäckig und entschlossen: „(…) niemand wird je glauben, dass wir uns vor Holzstücken verbeugt und Gips angebetet haben. Die Engländer werden Gott im hellen Tageslicht sehen und nicht in einer Weihrauchwolke. Sie werden sein Wort nicht von Geistlichen hören, der sie ansieht, statt ihnen den Rücken zuzukehren und Dinge in einer fremden Sprache zu murmeln. Wir werden eine gut lebende Geistlichkeit haben, welche die Unwissenden berät und Unglücklichen hilft, nicht diesen Abschaum kaum lesefähiger Mönche (…).“ Und er wehrt sich gegen den Reliquienkult: „Gott ist nicht sein Umhang, nicht sein Mantel. Er steckt nicht in Fleischstücken, Nägeln oder Dornen. (…) Er wohnt im Herzen des Menschen. Selbst in dem des Herzogs von Norfolk.“ (343) Das hört sich an wie eine nachkonziliare Prophetie avant la lettre, eine moderne Eintragung Mantels, die in Interviews häufiger betont, sie habe sich mühsam vom steifen und strengen Katholizismus ihrer Jugend befreien müssen.

Die Theologie des Mittelalters beschäftigte sehr die Frage, was mit ungetauften, bereits vor der Geburt verstorbenen Kindern geschehe. Die Frage entstand unter der Voraussetzung, dass niemand, der nicht getauft ist, in den Himmel gelangen kann. Im Gespräch mit dem König sagt Cromwell darüber, dass niemand weiß, wo sich die im Mutterleib verstorbenen Kinder befinden. „Sie (die Menschen wv) sagen, es gibt keine Erlösung für die Ungetauften. Manche denken jedoch, Gott wird nicht so grausam sein. Gott ist nicht so grausam wie der Mensch.“ (458) Manchmal scheint Mantels Cromwell in seinen Ansichten weiter zu sein als es mit Blick auf die zeitgeschichtlichen Umstände wahrscheinlich ist.

Cromwell unterstützt einige Anliegen der Lutheraner, aber nicht alle. „Er selbst, Thomas Cromwell, bleibt auf Distanz zu ihrer (der Lutheraner wv) Erfolglosigkeit. Er weiß, dass der König niemals damit einverstanden sein wird, dass Priester heiraten dürfen und Laien Christus in Form von Brot und Wein empfangen. Wir können uns nicht auf die Natur vom Körper Christi einigen, nicht darauf, was ein Faktum und was eine Allegorie, was menschlich und was göttlich ist.“ (711f.) Und dann entwickelt Cromwell plötzlich eine Abendmahlstheologie: „Corpus Christi ist ein Wunder. Ein Geheimnis. Einmal geweiht, enthält die Hostie unseren Gott, lebend: der Wein ist sein Blut. Du kannst nicht darauf hoffen, es zu verstehen, du musst daran glauben. Und wenn du es nicht glauben kannst, musst du den Mund halten, weil alles andere dich umbringen könnte.“ (712) Cromwell weiß, wie gefährlich Theologie manchmal sein kann. Er macht darüber keine Späße. Aber er weiß auch genau, wo die kitzligen Punkte liegen. Die Anhänger der Reformation in England sind auf die Macht Cromwells angewiesen. Als er für eine Zeit erkrankt, erleidet das reformatorische Projekt auf der Insel mehrere Rückschläge. „Es gibt keinen Zweifel, seine Krankheit war ein Rückschlag in seinem Kampf für das Evangelium – seine Mitstreiter sind ohne ihn zu ängstlich und zu uneins, um eine klare Position zu vertreten.“ (828) Der Roman ist gespickt mit Verweisen auf zeitgenössische Theologen. Es wird erwähnt, dass Cromwell mit Melanchthon korrespondierte (815). Außerdem hört er vom Tod des Erasmus von Rotterdam (311).

Cromwell will Bibeln in englischer Sprache drucken lassen, damit jeder Bürger den Willen Gottes erkennen kann. Dabei bedenkt er auch Feinheiten des Drucks: „Und dann muss er die Drucker dazu bekommen, die Worte bis an den Rand der Seite zu setzen. Das sieht nicht so gut aus, aber kein freier Platz bedeutet keine Verdrehungen durch Marginalien.“ (328)

Wiederholt wird Cromwell wegen der Bibelübersetzung bei Henry vorstellig: „Er (Henry) muss seine eigene Bibel zulassen und die Schrift in jeder Kirche zugänglich machen, damit alle sie lesen können. Wir müssen sie in so großer Zahl verteilen, dass sie nie wieder zurückgefordert oder unterdrückt werden kann.“ (540) Die Bibellektüre würde einfachen Gläubigen von externen Autoritäten unabhängig machen. Immer wieder betont Cromwell den Nutzen des eigenständigen Bibellesens: „Sie werden ihren Glauben nicht in die Zähne und Knochen von Toten setzen, in Asche und Wachs. Wenn sie die Bibel selbst lesen können, kommen sie Gott näher als der eigenen Haut. Sie werden Seine Sprachen sprechen und Er ihre.“ (558) Das kam schon im Gespräch zwischen Cromwell und dem König zur Sprache: Eine neue Übersetzung der Bibel verändert auch die theologische Interpretation: „Gottes Wille zum Beispiel wird erst dieser Tage von besseren Übersetzern ans Licht gebracht.“ (238). Das heißt implizit: Die katholische Kirche hat den Willen Gottes verfälscht, weil sie den Menschen den übersetzten Text der Bibel vorenthalten hat.

Mit dem Projekt einer Bibelübersetzung kommt Cromwell – im Laufe des Romans - gut voran: „Der König sagt, die Schrift kann dem Volk gegeben werden, die neue Übersetzung ist gut – und die Bischöfe segnen nach ihren Beratungen die Entscheidung ab und schicken ein Buch zum Drucker.“ (626) Der König bleibt bei seiner Zustimmung, auch wenn er Bilderstürme ablehnt und die alten Zeremonien beibehalten will (712. 729f.) Die Bibelübersetzung wird außerhalb Englands gedruckt, damit die Auflage nicht schon vor dem Verkauf vernichtet werden kann. Als Viceregent, eine Art Chef der Kirchenverwaltung, erlässt er neue Regelungen, schafft unter anderem Angelusgebet und die Pilgerreisen ab. Er will ein Register für Taufen, Trauungen und Beerdigungen einführen, stößt damit aber bei Bischöfen und Gemeinden auf Widerstand (713).

Cromwell selbst fühlt sich nicht als Theologe. Aber er betet. Und er stellt fest, dass niemand die Predigten der Pfarrer ernst nimmt. „Wir haben die Predigten gelesen. Wir könnten sie ohne weiteres niederschreiben. Trotzdem sind wir eitel und ehrgeizig und leben nicht zurückgezogen, weil wir morgens aufstehen, das Blut in unseren Adern pulsieren fühlen und denken, bei allen Heiligen, wen kann ich heute niedermachen?“ (96) Die Theologie erscheint als so etwas wie das idealistische Mäntelchen des ausgehenden Mittelalters. Die Mahnung zu einem frommen Leben richtet im Alltag nichts mehr aus. - Er muss sehr darauf achten, nicht selbst für einen Lutheraner gehalten zu werden, denn das galt auch unter Henry als eine Ketzerei, die bestraft wurde (519). Chapuys, der kaiserliche Botschafter, zweifelt grundsätzlich an Cromwells Religiosität: „Und Ihr Glaube ist, wie ich denke, eine flüchtige Sache und von Tag zu Tag Änderungen unterworfen.“ (88) Aber in diesem Fall irrt sich der sonst so genau beobachtende Chapuys. Vielmehr gilt: Cromwell hat sich der Unberechenbarkeit Gottes unterworfen. Er weiß sehr oft nicht, was dieser Gott im Himmel von ihm will. Darum legt er sich auf eine Theologie fest, die nicht mehr katholisch von der dauernden Präsenz des Heiligen in der Welt bestimmt ist. Der intrinsische Protestantismus Cromwells fördert seine pragmatische Politik.

Cromwell weiß, dass Gerüchte, die ihm gefährlich werden können, über ihn in der Öffentlichkeit kreisen. Er wird als Lutheraner verdächtigt, und er meint, er könne gegen einen solchen Verdacht nichts ausrichten (704). An einer Stelle wird Cromwell als „Lollarde“ verdächtigt (486), als Anhänger einer frühreformatorischen englischen religiösen Gruppe. Aber auch das weist er zurück.


12. Bilderdeutungen

Mantels Roman kann vor allem dadurch überzeugen, dass sie die Ambivalenz der politischen Handlungen wie der intellektuellen Entscheidungsfindung Cromwells sprachlich überzeugend deutlich macht. Von besonderer Bedeutung ist dabei ihr Umgang mit Metaphern, insbesondere mit denen von Spiegel und Licht, die dann auch in den Titel des Buches[74] eingegangen sind. Nun ist der Spiegel ja eine der Großmetaphern der europäischen Kulturgeschichte[75], und schon in Dantes Göttlicher Komödie war das Licht im Paradies die entscheidende Metapher für Gott. Mantel gibt diesen beiden Metaphern nochmals eine andere Wendung.

Als titelgebendes Bild kommt der Spiegel schon am Anfang vor: „Sieh in den Spiegel der Zukunft: das flecklose Glas, specula sine macula.“ (93) Der Bezug auf den König fehlt hier noch, er kommt später dazu. Aber der Spiegel lässt Cromwell in die Zukunft blicken. Den Verweis auf den Spiegel der Gerechtigkeit auf dem Richtschwert für Anne Boleyn habe ich schon erwähnt.[76]

Entscheidend wird, dass Spiegel und Licht als Metaphern beide auf König Henry gemünzt sind. Cromwell sagt zu ihm, als es um das Verhältnis zum Kaiser geht: „Was sollte ich beim Kaiser, und wenn er der Kaiser der Welt wäre? Ihre Majestät ist der einzige Fürst. Der Spiegel und das Licht anderer Könige.“ Henry nimmt das zunächst einmal als psychologische Bemerkung. Er sagt, er sei vielleicht gegenüber Cromwell manchmal zu grob geworden. „‘Es ist nur vorgetäuscht‘, sagt Henry. ‚Damit man denkt, wir sind uneins. Verstehen Sie es richtig. Was immer Sie hören, zu Hause oder im Ausland, ich setze mein Vertrauen auf Sie.‘“ (679) Ich glaube nicht, dass Henry hier verstanden hat, was Cromwell meint. Er akzeptiert die Höherordnung des Königs als Stellvertreter, aber seine Politik bleibt durch und durch pragmatisch, und dazu gehört das Bemühen, ihn psychologisch so gut wie möglich zu durchschauen.

Nach einer gesundheitlichen Krise des Königs, als alle dachten, er würde sterben, steht Cromwell, aus London gekommen, am Bett des Königs. Henry hat sich schnell erholt. „Unser Souverän ist zurück, denkt er, (…) aber jetzt gebieterisch: das Spiegelbild aller Herrscher, sein flackerndes Licht kaum sichtbar in der Sonne des Maimorgens.“ (686) Spiegel und Licht können beide auch matt und schwach werden. Der König ist gefährdet. Seine fragile Gesundheit könnte aktuelle Machtverhältnisse zum Einsturz bringen.

Mantel nutzt die Metapher auch, um Henry eine quasi theologische Aura zu geben: „Der Himmel ist zu einem Spiegel geworden, vor dem sich die Sonne bewegt: Licht ohne Schatten, wie das Licht zu Beginn dieser Welt.“ (718) Der König ist unerreichbar wie Himmel und Sonne. Gelegentlich taucht das Bild von der Sonne auch in abgeschwächter Version auf. An einer Stelle spricht Mantel von Henry und Jane Seymour als „König und Königin, goldene Sonne und Silbermond“ (138).

Bei der Formulierung eines Briefs an Thomas Wyatt, dem englischen Botschafter beim Kaiser, kommt Cromwell ein weiteres Mal auf das Thema von Spiegel und Licht: „Er denkt daran hinzuzufügen, unser Monarch trug Weiß. Er leuchtete von Kopf bis Fuß. Wie ein Spiegel. Wie ein Licht.“ (768) Und dann formuliert er, die Fürsten und Könige hätten Henry akzeptiert als „den Spiegel und das Licht aller anderen Könige und Fürsten der Christenheit.“ (769) Henrys Rolle als übergeordnetes Gegenüber seines Ratgebers Cromwell ist schon ausführlich thematisiert worden[77].

An einer einzigen Stelle reflektiert sich Cromwell mit diesen beiden Metaphern selbst: „Das Silber, in dem er sich spiegelt: den Spiegel und das Licht aller Räte der Christenheit.“ (769) Darüber denkt er weiter nach: „Wenn Henry der Spiegel ist, ist er der blasse Schauspieler, der keinen eigenen Glanz verbreitet, sondern sich im Spiegellicht dreht. Bewegt sich das Licht weiter, ist er nicht mehr.“ (769f.) Der Berater lebt vom Licht des Königs, der Sonne. Und die Sonne kann gefährlich werden. Wer ihr zu nahe kommt, verbrennt. Und Cromwell hat diese Angst zu verbrennen. Denn er weiß, dass der König keine Skrupel hat, seine eigenen Frauen hinrichten zu lassen. Der König wird dann, wenn es nötig ist, auch bei ihm eine Hinrichtung anordnen. Und so ist es dann auch gekommen.

Das Spiel mit den Bildern treibt Mantel gelegentlich hinein in den ironischen, humorvollen Bereich, etwa wenn Cromwell über Henry bemerkt, sein Gesicht sei „rosa wie der österliche Kalbsbraten“ (300).

Man könnte die Untersuchung der von Mantel gebrauchten Metaphern noch weitertreiben. Tiere spielen dabei eine zentrale Rolle, schon in den ersten beiden Bänden, die auf Deutsch die Titel „Wölfe“ und „Falken“ tragen. Wie erwähnt, versteht sich Cromwell als Metzgerhund. Der König ist Jäger und vor allem geübter Reiter. Zu Füßen des Königs liegen Hunde. Cromwell nimmt die Katze auf, die Kardinal Wolsey gehalten hat. Anne Boleyn trauert über den kleinen Hund, den jemand, der ihr übelwollte, aus dem Fenster geworfen hat und diesen Sturz nicht überlebte. Dazu kommen Vögel: Raben und Krähen an den Hinrichtungsstätten, Pfauen, Tauben und Falken.


13. Richtschwert

Cromwells Ende als Berater Henrys ist bekannt, deswegen kann Mantel das Ende der Trilogie mit einer Fülle von Anspielungen vorwegnehmen. Die Hinrichtung selbst wird zur negativen Apotheose des Romans, die sich vielfach vorher ankündigt. Schon als Junge beobachtet Cromwell Hinrichtungen. Danach bemerkt er: „Es dauerte Jahre, bis er begriff, dass der Junge, der bis nach Smithfield gekommen war, nicht der war, der Tage später zurück nach Hause kam.“ (700) Cromwell als Junge riss regelmäßig von Zuhause aus, auf der Flucht vor seinem prügelnden Vater. Dabei hat er die Hinrichtungen in Smithfield beobachtet, einem der Londoner Exekutionsplätze.

Nach dem Scheitern von Henrys Heirat mit Anna von Kleve zeichnet sich schnell die Verhaftung Cromwells ab, die Gespräche mit dem König werden schwieriger und konfliktreicher. Cromwell resigniert: „Er geht hinaus: Eine Hand an der Wand, spricht er ein Gebet. Das Buch namens Henry hat keinen Rat für ihn.“ (953) Die Anbahnung der Ehe mit Anna von Kleve hat Cromwell sehr geschadet. Der König brauchte einen Sündenbock dafür, dass diese Beziehung nach der völlig misslungenen ersten Begegnung von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Der Adel nutzt Henrys Suche nach einem Sündenbock aus, um einen alten Gegner loszuwerden, der sie aus funktionalen Gründen ihrer Pfründe beraubt hat. Ähnliches gilt für die Bischöfe, die die Privilegien der katholischen Kirche nicht verlieren wollen. Cromwell aber steht für eine Rationalisierung der Verwaltung und der Theologie, insgesamt für die Einführung eines gemäßigten Protestantismus. Obwohl er dabei sehr vorsichtig vorgegangen, nutzen die Gegner diese Sympathien, um ihn zu Fall zu bringen.

Seine Gegner werfen ihm Überheblichkeit vor. Cromwell ist bei seinem Feind, dem Bischof Gardiner zum Essen eingeladen. Gardiner sagt: „‘Aber Sie sind nicht allwissend. Oder allgegenwärtig. Dachten Sie das? Dachten Sie, Sie wären Gott?‘ ‚Nein‘, sagt er, ‚Gottes Spion.‘ (964) Gardiner gehört seit Wolseys Zeiten zu Cromwells Neidern und Gegnern. Schon vor der Verhaftung hat er ihm Anhäufung von Reichtum vorgeworfen (757). Auch der Herzog von Norfolk, neben Gardiner ein zweiter Erzfeind, macht Cromwell eine Reihe von Vorwürfen. Er bezeichnet den verhafteten Cromwell als einen nützlichen Hund, der nun entsorgt wird, weil er zum Jagen zu alt und schwach ist (1050). Dieses Hundebild – der Metzgerhund des Königs - hat Cromwell über sich selbst immer wieder gebraucht.

Cromwell ahnt, dass er bald verhaftet werden wird. „Er folgt dem König. Was anderes kannst Du tun, wie Cicero sagt, als hoffend zu leben und tapfer zu sterben?“ (968) Und nun verweist er auf seine früheren Erfolge: „Er sagt: ‚Der König hat mir erklärt, dass ich eine Seite seines Ruhmes bin. Er sagte: ‚Es ist nicht jedem Herrscher gegeben, die Fähigkeiten eines Mannes jenseits seiner Herkunft zu erkennen. Gott hat Ihnen Talente mitgegeben, Cromwell. Und Sie zu einer Zeit und an einen Ort in diese Welt gebracht, dass Sie sie in meinem Dienst nutzen konnten.“ (971) Aber das ist bereits in der Vergangenheitsform formuliert. Cromwell weiß da schon, dass er das Spiel verloren hat.

Ausgerechnet der mutmaßliche Verräter Wriothesley bringt dann die Bilder auf den Punkt, die Cromwells gegenwärtiger Lage angemessen sind: „Drinnen, draußen, weder gehen wir über festen Boden noch schwimmen oder fliegen wir. Wir wissen nicht, in welchem Element wir uns befinden. Der Sommer kommt, doch der König regnet und leuchtet wie der April. Männer wechseln ihre Religion wie ihre Mäntel. Der Rat fasst einen Beschluss und vergisst ihn im nächsten Moment wieder. Wir schreiben Briefe, und die Worte verbleichen. Wir sitzen in der Finsternis und spielen Schach.‘ ‚Auf einem Brett aus Gelee‘, sagt er. ‚Mit Figuren aus Butter.‘ Wyatt sagt: ‚Ihre Bilder bringen mich durcheinander.‘ (982)[78] Die Metaphern sind in der Tat verwirrend, gerade in ihrer Häufung. Wriothesley meint: Politiker können nie von statischen, festen Bedingungen ausgehen, die Intellekt, Vernunft und politischer Instinkt benötigen würden, um eindeutige Entscheidungen zu treffen. Viel schwieriger ist es, Entscheidungen unter Bedingungen zu treffen, in denen die Hintergrundsituation sich dauernd im Fluss befindet. Damit ist auch bei Cromwell der entscheidende Punkt angesprochen, der diesen Essay über politische Ethik motiviert hat.

Dann weist der König Bischof Gardiner an, Cromwell zu verhaften: „Als er durch die Tür geht, sagt Gardiner: „‘Adieu, Cromwell.‘ Er bleibt stehen: ‚Geben Sie mir meinen Titel.‘ ‚Sie haben keinen Titel. Er ist weg, Cromwell. Sie sind nicht mehr als ein Geschöpf Gottes. Möge er Ihnen gnädig sein.“ (997) Der Feind erklärt, worin die tiefere Wahrheit der Verhaftung besteht. All das, was sich Cromwell hinsichtlich Stand und Milieu, Adelstitel und Königsfreundschaft überlegt hat, bricht mit der Verhaftung in sich zusammen. Es erweist sich als nicht mehr als eine intellektuelle Hilfskonstruktion.

Mit der Verhaftung muss Cromwell erst einmal zurechtkommen: „In der ersten Nacht, allein gelassen, versucht er zu beten. Chapuys hat ihn einst gefragt, was werden Sie tun, wenn sich Henry gegen Sie wendet? Er erwiderte, mich mit Geduld wappnen und den Rest Gott überlassen.“ (1004) Der Gefängnisdirektor im Tower, Konstabler genannt, ist von Cromwell lange gefördert worden und revanchiert sich nun mit gut gemeinten psychologischen Ratschlägen: „Akzeptieren Sie es. Sammeln Sie sich. Kommen Sie mit sich ins Reine, Mylord.“ (1006) Der Konstabler des Tower redet im übrigen Cromwell weiterhin mit seinem korrekten Titel an (ebd.) Es gehört in der Folge zu Größe und Vernunft Cromwells, dass er die Verhaftung wirklich akzeptiert und sein Schicksal hinnimmt.

Cromwells Mitarbeiter fragen sich dennoch, wie es zu dieser Verhaftung kommen konnte. Die treuesten und wichtigsten besuchen ihn im Gefängnis. Rafe, sein langjähriger Protégé vermutet die Ursache im zerrütteten Verhältnis zwischen Cromwell und dem König. „Rafe zuckt mit den Schultern. ‚Er hat Angst vor Ihnen, Sir. Sie sind über ihn hinausgewachsen, über das, was irgendein Diener oder Untertan sein sollte.“ (1009) Daran erscheint mir etwas Wahres zu sein, - wenn man Cromwells eigene selbst eingestandene Abhängigkeit von der Sonne des Königtums berücksichtigt.

Daneben gibt es aber noch eine zweite Sicht, die in den folgenden Verhören erscheint. Der Gegner Norfolk sagt: „‘Die Nichte des Königs. Was war sie für Sie anderes als ein weiterer Weg zum Thron? ‚Wenn ich König wäre‘, dieser Satz kommt oft aus Ihrem Mund.‘ Gardiner beugt sich vor. ‚Wir alle haben Sie das sagen hören.‘ Er nickt. Es ist eine Angewohnheit, die er hätte kontrollieren sollen.“ (1020) Diese Phrase ist eine Kleinigkeit, kann aber zu seinen Ungunsten ausgelegt werden. Beide Auslegungen kommen darin überein, dass die Gegner (der König ebenso wie der Adel und die Staatskirche) Cromwells zu groß gewordene Macht fürchten und ihn darum beseitigen wollen. Das leuchtet ein, muss aber durch eine dritte Deutung ergänzt werden: Cromwell hat ein sehr riskantes Schachspiel gespielt. Die meiste Zeit hatte er mit Hilfe der Vernunft das Glück auf seiner Seite. Mit der misslungenen Vermittlung der Heirat Anna von Kleves schlägt das Pendel zur anderen Seite aus. Zu dieser dritten Deutung gehört, dass Cromwell seine Niederlage akzeptiert und sich nicht dagegen auflehnt. Er hat das Spiel lange erfolgreich geführt und ist darin so versiert, dass er verstanden hat, irgendwann auch mit einer verheerenden Niederlage zu rechnen.

Die Mitarbeiter, vor die Anwesen Cromwells durchsucht werden, vernichten kompromittierende Bücher, Briefe und Gegenstände. Das gilt insbesondere für das berüchtigte ‚Buch Henry‘ (1028), das vor seiner Beschlagnahmung verbrannt werden konnte. Es handelt sich sowieso nicht um ein historisches Dokument, sondern um eine Erfindung Hilary Mantels.

Cromwell, in der Zelle sitzend, denkt an den bevorstehenden Tod, mit Verweis auf Martin Luther: „Bruder Martin sagt, wenn du an den Tod denkst, sperr die Angst aus. Aber vielleicht ist dieser Rat leichter anzunehmen, wenn du erwartest, in deinem Bett zu sterben (…).“ (1031) Ich finde, der gefangene Cromwell nimmt den Gedanken an den Tod hier mir großer Ruhe. Er weiß, dass diejenigen, die nicht hingerichtet werden, auch sterben müssen.

Wichtig ist, das weiß er seit der Hinrichtung Anne Boleyns, die Methode der Hinrichtung: „Der König mag ihm die Axt gewähren. Das ist das Beste, worauf er hoffen kann, es sei denn … Es gibt immer ein Es-sei-denn. Erasmus sagt: ‚Niemand sollte verzweifeln, solange noch Atem in ihm ist.‘“ (1031) Cromwell spricht von Müdigkeit und Trauer. „Dieses Gefühl in seinem Herzen, dass es zerdrückt, verformt ist, jetzt begreift er, dass es Trauer ist.“ Und er denkt an die Toten, für deren Hinrichtung er mit verantwortlich war (1055), insbesondere an Thomas More, der nicht widerrufen wollte: „Ich wohne hier mit Thomas More. Ich kenne die Bücher. Wir alle sterben, nur unterschiedlich schnell.“ (1066, Hervorhebung wv) In seiner letzten Nacht erinnert sich Cromwell an den Aaljungen aus seiner Kindheit, den er eigenhändig umgebracht hat. „Er glaubt, den Aaljungen zu sehen, der ihn aus der Ecke des Raumes anstarrt. Hau ab, du Pisser, sagt er.“ (1071) Irgendwann, beim Nachdenken über die vergangenen Jahre, fängt er an zu weinen, das heißt: Eine Träne kommt ihm. „Ich könnte das alles nicht noch einmal tun: diese Jahre schlafloser Rackerei, die brachiale moralische Deformation, das Schwingen der Axt. Wenn Henry stirbt und vor seinen Richter tritt, muss er sich für mich verantworten, für mich und für alle seine Diener: muss dafür geradestehen, was er Cromwell getan hat.“ (1044) Er hat den philosophischen Gedanken daran stets abgelehnt, aber nun sehnt er sich doch nach Gerechtigkeit.

Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit findet ihr Ventil in Gedanken über Hölle und Himmel: „Die Hölle kann er sich nur als kalten Platz vorstellen, als eine Ödnis, Marschen: (…) So wird es sein – nicht der Schmerz selbst, sondern die ständige Furcht vor Schmerz, die ständige Furcht vor Fehlern, dass du für etwas bestraft werden wirst, an dem du nichts ändern konntest und von dem du nicht einmal wusstest, dass es falsch war: und ständig Streit, er wiederholt sich wieder und wieder, im Raum nebenan ein brutaler Kampf. Der Himmel dagegen ist ein vom Kardinal arrangiertes riesiges Fest (…).“ (1070) Der Himmel wird von Kardinal Wolsey, der Mentoren- und Erzvaterfigur organisiert. Die Hölle ist ein Dreiklang aus Furcht vor Schmerz, Bestrafung und Streit. Die Ewigkeit ist für denjenigen vorbereitet, der bald tot sein wird.

Am Ende lässt auch Hilary Mantel ein wenig Poesie erkennen: „Die Seiten im Buch seines Lebens bewegen sich schneller und schneller. Das Buch seines Herzens öffnet sich, die Zeilen löschen sich selbst.“ (1076) Vor seinem erwarteten Tod verdichtet sich Cromwells Leben.

Dann der Moment der Hinrichtung: „Er senkt den Körper, um zu sterben. Er denkt, andere können es, also kann ich es auch. Er atmet etwas ein, den süß-rohen Geruch von Sägemehl und von irgendwoher den Geruch der Küche der Frescobaldi, wilden Knoblauch und Nelken. (…) Sein Mund ist trocken, aber denkt, solange ich atme lebe ich. (…) Ein Schatten überdeckt seinen Blick. Sein Vater Walter ist da, seine Stimme in der Luft. (…) Der Schmerz ist durchdringend, ein wilder Stich, ein Reißen, ein Pulsieren.“ (1080) Der Schatten war das niedersausende Schwert. Am Schluss heißt es: „Er tastet nach einer Öffnung, blind, sucht nach einer Tür: folgt dem Licht die Wand entlang.“ (1081) Das muss nicht unbedingt ein Weiterleben nach dem Tod sein, es könnte auch der letzte bewusste Moment des Sterbens gewesen sein.

Es ist erstaunlich, dass Mantel, die sonst so nüchtern, lakonische Autorin sich bei der Beschreibung der Haftzeit und der Hinrichtung zu einer Reihe von beinahe lyrischen Formulierungen hinreißen lässt. Das erinnert an die Schlussszene von ‚House of Cards‘ mit der toten dienenden Männerwelt im Schoß der hochschwangeren Maria Claire Underwood, samt den damit verbundenen Hoffnungen auf die Verwirklichung einer feministischen Utopie. Letztere fehlt selbstverständlich in ‚Spiegel und Licht‘. Die Hinrichtung Cromwells bedeutet eher das Ende einer klugen, weitsichtigen Politik, deren Protagonist Cromwell es verstand, die englische Politik weitgehend von Irrationalismen, Aberglaube und Magie freizuhalten. Das ist im Übrigen nicht nur ein historisches Verdienst Cromwells gegenüber dem willkürlichen, sprunghaften und erotomanen König. Ich lese die Hinrichtung Cromwells auch als einen Kommentar zu aktueller englischer Politik (Brexit!), ohne dass dieses Thema nun weiter entfaltet werden soll.


14. Vernunft, Macht und Tod

Cromwell ist eine Figur, die auf die Gegenwart transparent wird. Und das umfasst weit mehr als die erwähnte Parallele zwischen dem Brexit, dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union und der Trennung zwischen anglikanischer Staatskirche und katholischer Kirche im 16. Jahrhundert. Die Zwecke des Romans blieben unterbestimmt, hätte es sich Mantel nur zur Aufgabe gestellt, eine schlecht beleumundete historische Person wie Thomas Cromwell psychologisch zu erhellen. In der Figur von Cromwell wird das Konzept einer politischen Ethik sichtbar, die sich als pragmatische Theorie des Machbaren versteht, alle Lebensbereiche von der Religion bis zu Hygiene und Müllbeseitigung umfasst. Cromwell, der ein solches Konzept verkörpert, steht gegen ein idealistisches oder utopisches Konzept von Politik, wie es in den Vereinigten Staaten und Europa spätestens mit dem Fall der Mauer 1989 obsolet geworden ist. Es kennzeichnet die Modernität von Mantels Cromwell-Figur, dass seine politische Ethik als Kritik eines grassierenden (Rechts-)Populismus gelesen werden kann, der Anbiederung über Vernunft und Kalkül stellt.

Hätte Mantel nun eine naive Apotheose eines aufgeklärten, fortschrittsorientierten Vernunftbegriffs geschrieben, es wäre nicht nötig, über diesen Roman ein weiteres Wort zu verlieren. Cromwells Klugheit (und Aktualität) bestehen darin, dass er um die Grenzen der Vernunft und vernünftiger Politik weiß und gerade deshalb als Politiker mehr erreicht als seine zeitgenössischen Konkurrenten aus Adel und Klerus. Es macht die Tragik der historischen Figur Thomas Cromwell aus, dass dieser gerade an seinem politischen Erfolg gescheitert ist. Am Ende beachtete er nicht, dass er für König, Adel und Klerus zur Konkurrenz wurde und beseitigt werden musste. Genau diese Tragik, die aus dem Gegensatz zwischen Hinrichtung (= Beseitigung) und politischer Reform herauswächst, hat Mantel in der Tudor-Trilogie großartig herausgearbeitet.

Cromwells politische Ethik lässt sich dabei in einer doppelten Perspektive lesen. Zum einen ist sie eine Ethik, die auf die partikularen Umstände im England des 16. Jahrhunderts reagiert. Cromwell stellt sich, geschult durch seine Ausbildung bei den Renaissance-Kaufleuten in Florenz und Antwerpen auf die besonderen Konstellationen bei Hofe ein: auf den emotionalisierten und von Frauen besessenen König Heinrich VIII., auf die adligen Gegner wie den Herzog von Norfolk, auf seine Unterstützer wie die Familie Seymour. Er sucht sich Verbündete in der Kirche wie den der Reformation zugeneigten Erzbischof Cranmer, und er kämpft gegen persönliche klerikale Feinde wie Bischof Stephen Gardiner. Cromwells politische Ethik ist psychologisch abhängig von seiner individuellen Person: stets auf der Suche nach einer Vaterfigur, die den prügelnden leiblichen Vater ersetzt, genauso besessen von den Toten, die durch seine Erinnerung und sein Bewusstsein geistern. Der prügelnde Vater, der Aaljunge, sein Mentor Kardinal Wolsey, die hingerichtete Anne Boleyn und ihre ebenfalls hingerichteten angeblichen Liebhaber bestimmen sein politisches Handeln und Denken – wobei er es immer wieder schafft, seine psychologischen Obsessionen und die von der Vernunft geforderten Maßnahmen zum Ausgleich zu bringen. Darin liegt etwas von Cromwells Größe – in der Vermittlung von politischer Ethik und Psychologie.

In einer zweiten, abstrakteren Perspektive erscheint Cromwells politische Karriere als ein Handlungsmodell politischer Ethik. Cromwell erscheint als kluger politischer Taktierer, der sich auf eine bestimmte Machtkonstellation einstellt, sie genau analysiert und unter diesen Bedingungen das erreicht, was zu erreichen ist. Er begeht nicht den Fehler, sich zu überschätzen oder für allmächtig zu halten. Wenn er dennoch scheitert, so daran, dass seinen Gegnern Cromwells Macht unheimlich und gefährlich geworden ist. Cromwell weiß um die Gefahren und Perspektivverzerrungen, die seine eigenen Obsessionen auslösen; er kann die blinden Flecken und Wahrnehmungstrübungen bei seinen Gegnern erkennen, bewerten und die richtigen Konsequenzen daraus ziehen. Er weiß um seine eigenen Fehler, und keineswegs erscheint er als moralisch einwandfreie Figur. Auch dessen ist er sich bewusst, und Mantel informiert ihre Leser auch über Cromwells kompensierende Selbstrechtfertigungen. Er weiß darüber Bescheid, dass er den Gang der Ereignisse, der von Zufällen und Willkür abhängig ist, nicht steuern kann; er ist in der Lage, mit der Kontingenz der Wirklichkeit umzugehen. Das befähigt ihn, Niederlagen zu ertragen und im nächsten Schritt für den eigenen Erfolg nutzbar zu machen.

Genau dieser letzte Punkt macht ihn zum ‚Spielgefährten‘ von Frank Underwood. Beide vertreten eine politische Theorie der Kontingenz. Das erfordert einen Vergleich.


-> VII. Frank und Crumb: Weiße alte Männer im Vergleich


Anmerkungen



[48]   Ein Porträt Hilary Mantels aus der Zeit vor ‚Spiegel und Licht‘ findet sich bei Larissa MacFarquhar, The Dead Are Real, New Yorker 8.10.2012, https://www.newyorker.com/magazine/2012/10/15/the-dead-are-real.

[49]   Hilary Mantel, Wölfe (engl. Wolf Hall 2009), Köln 2010; dies., Falken (engl. Bring up the Bodies 2012), Köln 2012.

[50]   Hilary Mantel, Spiegel und Licht (engl. The Mirror and the Light 2020), Köln 2020. Alle folgenden Seitenangaben in diesem Teil beziehen sich auf dieses Buch. Rezensionen: Daniel Mendelssohn, At the End of Hilary Mantel’s Tudor Trilogy, New Yorker 9.3.2020, https://www.newyorker.com/magazine/2020/03/16/hu­bris-and-delusion-at-the-end-of-hilary-mantels-tudor-trilogy ; Andreas Platthaus, Ein Roman macht Geschichte, FAZ 20.3.2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/hilary-mantels-spiegel-und-licht-ueber-die-tudor-zeit-16686837.html; Judith Shulevitz, Hilary Mantel Takes Thomas Cromwell down, Atlantic Monthly, April 2020, https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2020/04/hilary-mantel-thomas-cromwell-mirror-light/606802/; Clair Wills, Ghost Story, NYRB 14.5.2020, https://www.ny­books.com/ar­tic­les/2020/05/14/hi­lary-man­tel-mirror-light-ghost-story/ .

[51]   Peter Kosminsky, Wölfe (engl. Wolf Hall), 2015, verfügbar über Amazon Prime.

[52]   Martin Scorsese, The Irishman, 2019.

[53]   Dazu s.u. Abschnitt 12.

[54]   Maren Hobrack, Mit radikaler Erzählwut, taz 9.4.2020, https://taz.de/!5677338/.

[55]   S.u. Abschnitt 13.

[56]   S.u. Abschnitt 8.

[57]   Iris Origo, Im Namen Gottes und des Geschäfts. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance, Berlin 2009 (ital. 1957).

[58]   Zum Vater-Thema vgl. auch Wolfgang Vögele, Den Vater durchs Leben tragen. Über Väter und das Vater-Buch von Botho Strauß, tà katoptrizómena, H.93, 2015, http://theomag.de/93/wv14.htm.

[59]   Zu Machiavelli s.u. Abschnitt 6.

[60]   Ich übernehme die Praxis der deutschen Übersetzungen der Romane und spreche häufiger auch von Henry.

[61]   S.o. Abschnitt 4.

[62]   Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990 (engl. 1957).

[63]   S.u. Abschnitt 9.

[64]   S.u. Abschnitt 11.

[65]   S.o. Abschnitt 4.

[66]   S.o. Abschnitt 3.

[67]   Eine Vorwegnahme davon findet sich schon Seite 293.

[68]   S.o. Abschnitt 5.

[69]   Zur Folter vgl. die erwähnte genaue Schilderung des Abhackens einer Hand (618f.). Zu Hinrichtungen s.o. Abschnitte 2 und 4 sowie s.u. Abschnitt 13.

[70]   Verweise auf Machiavelli: 459. 991.

[71]   S.u. Abschnitt 11.

[72]   Der Begriff des Remis gehört zu den Regeln des Schachspiels. Damit wäre ein erster Hinweis auf den Titel dieses Essays gegeben (s.o. Anm. 1). Ein zweiter wird noch folgen (s.u. Anm. 78).

[73]   S.u. Abschnitt 13.

[74]   Vgl. zum Titel im Romantext 679.

[75]   Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Im Labyrinth der Spiegel. Versuch, eine Zeitschrift zu verstehen und ihrem Herausgeber zum Geburtstag zu gratulieren, tà katoptrizómena, Heft 113, Juni 2018, https://www.theomag.de/113/wv044.htm sowie die weiteren Beiträge des Heftes 113 von ‚tà katoptrizómena‘.

[76]   S.o. Abschnitt 4.

[77]   S.o. Abschnitt 5 und 6.

[78]   Mit diesen Bemerkungen Wriothesleys und Cromwells ist der Titel nun endgültig erklärt (s.o. Anm.1).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/128/wv062.htm
© Wolfgang Vögele, 2020