Dem Walfisch eine Tonne vorwerfen

1– Über den Anlass

Andreas Mertin

Mit Gewalt ist wider die Sinnlichkeit in den Neigungen nichts
ausgerichtet; man muss sie überlisten, und … dem Walfisch
eine Tonne zum Spiel hingeben, um das Schiff zu retten.
[1]

Das Aufstellen von To-Do-Listen bzw. von Stop-Doing-Listen verbinden wir in der Regel nicht mit den zehn Geboten. Man muss beides sorgfältig unterscheiden. Aber diese Regel nehmen nicht alle ernst, zu verführerisch ist der Gedanke, sich dem Vorbild Mose anzunähern, indem man die eigenen To-Do- bzw. Stop-Doing-Listen als Gebote ausgibt. Dabei hat Mose die Gebote gar nicht formuliert, vielmehr war es laut biblischer Überlieferung Gott selbst, der sie von Angesicht zu Angesicht dem Volk verkündete. Wer also heute zehn oder warum auch immer elf Gebote aufstellt, tritt notwendigerweise in die Fußstapfen des Herrn. Und wer das ganz bewusst macht, muss schon über eine gewisse Hybris verfügen. Aber daran hat es Theologen selten gemangelt.

Anstoß

Kürzlich hat der Anstandsbeauftragte der EKD nach anderthalbjähriger Zusammenarbeit mit einem katholischen Kollegen elf Gebote für mehr Anstand im Raum des Digitalen vorgetragen, oder wie die FAZ titelte: „Elf Gebote für bessere Manieren im Internet“.[2]

Das finde ich mutig. Wir wissen ja, dass es genauso gut sieben, zwölf oder fünfundzwanzig oder 114 „Gebote“ hätten sein können. Warum also gerade elf? Ist das nicht etwas zu viel der Hybris? Wie heißt es schon in Schillers Wallenstein: „Elf ist die Sünde. / Elf überschreitet / Die zehn Gebote.“ Das finde ich auch. Denn kein Theologe mit Verstand versucht Gott zu übertrumpfen, indem er „Elf Gebote“ verfasst und dann behauptet, dies geschehe aus Respekt vor Mose.

Ich habe die elf Gebote dann erst einmal überflogen und dachte, dass die Autoren sich etwas überschätzt haben. Wenn wir an die biblischen zehn Gebote denken, assoziieren wir Erhabenes, Bilderverbot, Generationenverträge, Wahrhaftigkeit, aber auch Totschlag, Ehebruch, Raub und Neid. Bei den elf Geboten für bessere Manieren im Internet ist mir nichts Vergleichbares aufgefallen. Es sind fast schon bürgerliche Banalitäten, die in der Welt der FAZ als Etikette oder eben Manieren vorkommen könnten.[3] Die angeblich moralinfreien und besonnenen Abkühlungen, für die die Elf Gebote stehen sollen, sind in Wirklichkeit durchgehend subtile Distinktionen gegenüber Andersdenkenden (sie nennen es selbst: die Kraft der Unterscheidung) und können von den Dissidenten, den Empörten und den Verfolgten nur mit Schrecken gelesen werden, weil sie den Dissens und die Empörung zu Haltungsfehlern herabwürdigen.

Aber dann habe ich die Elf Gebote ein zweites Mal gelesen und dachte, so ganz stimmt mein erster Eindruck nicht, es handele sich nur um Manierismen, denn die formulierten Gebote unterliegen durchaus einer leitenden Programmatik, nämlich der Idee eines theologisch überhöhten Obrigkeitsstaates, sie sind Top-Down formuliert. Es ist Luthertum in einer Form, von der ich dachte, dass sie überholt sein sollte.[4] Du sollst dich nicht empören – das liest sich in einer VELKD-Kirche vermutlich anders als in einer unierten oder reformierten Kirche. Als Differenztheoretiker habe ich eine genuine Sympathie für Empörungen und Widerstand, kenne aber auch den Willen der Herrschenden zur Machterhaltung, indem sie Empörung untersagen und Einheit fordern. Klar, man kann Empörungen unterscheiden – die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Aber wer nimmt diese Unterscheidung zu welchem Zweck vor? Die Netizen oder die mit den Herrschenden verbundenen Theologen? Und so erscheinen mir die elf Gebote als Versuch, die Kontrolle wiederzugewinnen über ein Medium, das Theologen gar nicht kontrollieren können und auch nicht kontrollieren sollten. Und für die Haltung im Netz sind sie meines Erachtens weder kompetent noch zuständig. Der Linken-Politiker Fabio de Masi hat bei seinem Rückzug aus der Politik an seine Partei geschrieben:

Es gibt in verschiedenen politischen Spektren und vor allem in den sozialen Medien die Tendenz, Politik nur noch über Moral und Haltungen zu debattieren. Ich halte dies für einen Rückschritt. Werte und Moral sind das Fundament politischer Überzeugungen. Wer jedoch meint, dass alleine die „richtige Haltung“ über "richtig oder falsch" entscheidet, versucht in Wahrheit den Streit mit rationalen Argumenten zu verhindern. Eine solche Debattenkultur hat nichts mit Aufklärung zu tun, sondern ist Ausdruck eines elitären Wahrheitsanspruchs, wie ihn die Kirche im Mittelalter bediente. Vor allem verstärkt dies aber Spaltungen in der Gesellschaft[5]

Ich fürchte, das ist eine zutreffende Beschreibung dessen, was die Theologen antreibt, über „Moral und Haltungen“ statt über Sachthemen zu reden. Sie werden dabei übergriffig. In einem ganz spezifischen Sinn trifft hier das zu, was John Perry Barlow 1996 in seiner Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace so formulierte:

Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr. Wir besitzen keine gewählte Regierung, und wir werden wohl auch nie eine bekommen - und so wende ich mich mit keiner größeren Autorität an Euch als der, mit der die Freiheit selber spricht. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die Ihr über uns auszuüben anstrebt. Ihr habt hier kein moralisches Recht zu regieren noch besitzt Ihr Methoden, es zu erzwingen, die wir zu befürchten hätten.[6]

Und dann habe ich die elf Gebote ein drittes Mal gelesen, nun zugestandenermaßen unter einer Hermeneutik des Verdachts. Was, wenn der eigentliche Sinn dieser Aktion darin liegt, hehre Gebote aufzustellen, um eine sich im fortschreitenden Zerfall befindliche Institution besser erscheinen zu lassen, vor allem, weil die aufgestellten Gebote dem realen Kommunikationsverhalten der Institution gar nicht entsprechen? Will sich hier der Bock zum Gärtner machen? Also kurz gesagt: dienen die Gebote dazu, das reale Kommunikationsverhalten von kirchlichen Theologen gegenüber Andersdenkenden / Anderslebenden zu verdecken? Sind sie ein Teil von jener Kraft, die vorgeblich das Gute will und faktisch doch das Böse schafft? Kant schreibt in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, man müsse manchmal dem Walfisch eine Tonne zum Spiel vorwerfen, damit das Schiff gerettet werde. Ich glaube, dass es genau darum geht, man moralisiert die Internetkultur, um über die Moral der Kirche(n) nicht sprechen zu müssen.

An sich sind die elf Gebote fürs Digitale aus mehrfachen Gründen überflüssig, auch aus biblischen, wie ein Blick auf Ps 119, 66 zeigt. Um Güte, Anstand und Erkenntnis zu erlangen, verweist dieser auf die Zehn Gebote. Warum dann das merkwürdige Pathos mit elf weiteren Geboten unter dem leitenden Aspekt des digitalen Anstands? Und wie ordnet sich das in die bisherige Geschichte der Anstandsbücher und Gebotslisten ein? Und was ist im Einzelnen von den digitalen Anstandsbüchern zu halten? Um diese Frage soll es in den folgenden Teilen gehen.

2 – Über Anstand, Anstandsbücher und Gebotslisten
3 – Über Anstandsbücher des Digitalen, die sich Gebote nennen

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Anmerkungen

[1]    Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Vom erlaubten moralischen Schein, § 12.

[3]    Vgl. Asfa-Wossen Asserate: Manieren, Die andere Bibliothek 2003

[4]    Aus der Masse der Anstandsbücher seit Knigge verfügt nur das 1794 erschienene lutherische „D. Martin Luthers Sittenbuch, aus seinen hinterlassenen Werken mit Auswahl des Besten und Wichtigsten gezogen. Ein Schul- und Lesebuch für Protestanten“ über ein Kapitel zum Thema „Empörung und Obrigkeit“.

[5]    https://www.fabio-de-masi.de/de/article/3542.ich-werde-nicht-wieder-antreten.html

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/131/am725a.htm
© Andreas Mertin, 2021