Die Verkündigung in der Kunst

Andreas Mertin

Die Quellen
  • Jesaja 7, 14
    „Darum wird euch der HERR selbst ein Zeichen geben:
    Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären,
    den wird sie nennen Immanuel.“

  • Lukas 1, 26-38  (90-100 n.Chr.)

  • Protoevangelium des Jakobus (150 n.Chr.)
    - Maria beim Spinnen des Tempelvorhangs
    - Maria beim Wasserschöpfen aus dem Brunnen

  • Pseudo-Matthäus-Evangelium (600-650 n.Chr.)
    - Maria im Schlafgemach

  • Legenda Aurea (ab 1292 n.Chr.)

Zentrale Quelle Lukas 1, 26-38
  • Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria.
  • Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!
  • Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das?
  • Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.
  • Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann weiß?
  • Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.
    • Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.
  • Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.

Kunstgeschichte

Darstellungen der Verkündigung des Engels an Maria gibt es in der Kunst seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts. Seit dem 5. Jahrhundert werden die im Protoevangelium des Jakobus dargestellten Ereignisse mit einbezogen (z.B. das Spinnen des Tempelvorhangs). Seit dem 11. Jahrhundert wird Maria mit aufgeschlagenem Buch (oft mit Jes. 7, 14) gezeigt. Im 14. Jahrhundert kann Maria bei der Verkündigung sogar als bereits schwanger dargestellt werden.


Mögliche Fragen vor konkreten Kunstwerken


Mosaik, 432-40, Santa Maria Maggiore, Rom

  

Am Anfang meiner kunstgeschichtlichen Tour zum Thema “Verkündigung“ steht ein Kunstwerk, das für heutige Betrachter:innen eher schwer zu lesen ist, ein Mosaik aus der Kirche Santa Maria Maggiore in Rom. Diese gilt als die erste der Jungfrau Maria geweihte Kirche im Westen und ist auch die älteste Marienkirche Roms. Das Mosaik befindet sich weit oben unter der Kirchendecke, ist also nicht unmittelbar einsichtig. Wir sehen im Zentrum des Bildes Maria, dargestellt als byzantinische Kaiserin, die mit Perlen im Haar auf dem Thron sitzt, während sie die Purpurwolle des Tempelvorhangs spinnt. Neben ihr steht der Engel, der ihr die Schwangerschaft ankündigt. Rechts und links von den beiden stehen noch weitere Engel in anthropomorpher Gestalt. Über der Szene schwebt eine Taube vom Himmel herab und ein weiterer Engel scheint Maria zu segnen. Irgendwie weiß man, was die Szene sagen soll, aber dennoch ist es schwer, sie konkret zu deuten. Verständlicher wird sie, wenn man weiß, dass Anfang des 5. Jahrhunderts der zugrunde liegende lateinische Text (Spiritus Sanctus ... et virtus Altissimi) so gedeutet wurde, dass nicht nur der verkündigende Engel und der Heilige Geist in Gestalt der Taube, sondern zusätzlich auch noch eine weitere Kraft (nämlich die virtus Altissimi) am Geschehen beteiligt war. Und diese wird nun auf dem Bild als männlicher Engel dargestellt, der etwas missverständlich über Maria kommt.

Die Szene ist insgesamt komplexer als hier abgebildet, sie zeigt auf der rechten Seite auch noch die Ansprache eines Engels an Josef, seine Verbindung mit Maria nicht aufzugeben, also den sogenannten „Traum des Josef“.


Pilgerzeichen, 6.-7. Jh.

Mein zweites Beispiel ist ein simples Pilgerzeichen aus Terrakotta, datiert in das 6. oder 7. Jahrhundert, es ist fast kreisförmig mit erhöhtem Rand. Es zeigt gut erkennbar den Moment der Verkündigung. Die Jungfrau Maria sitzt auf einer Art Klappstuhl mit gekreuzten Beinen; sie hat einen Nimbus und hält ihre rechte Hand hoch, vermutlich hat sie einen Wollfaden in der Hand. Auf dem Boden vor ihr steht ein Korb – was auf die Tradition des Spinnens des Tempelvorhangs verweisen dürfte. Der Engel nähert sich ihr und hebt ebenfalls seine rechte Hand, in dem er einen kleinen Kranz hält, über dem man evtl. eine kleine Taube sehen kann. Auch der Engel hat einen Nimbus. Das Pilgerzeichen gilt als Beleg für eine Pilgerschaft, die man unternommen hat.

Gefunden wurde das Pilgerzeichen in der oberägyptischen Stadt Edfu (85 Kilometer südlich von Assuan gelegen). Im frühen Mittelalter war der Ort Edfu Sitz eines christlichen Bischofs. Heute findet sich das Pilgerzeichen neben anderen mit dem gleichen Motiv im British Museum in London. Dort gibt es auch Siegelringe mit dem Motiv der Verkündigung. Das zeigt, wie wichtig den Menschen damals dieses ikonographische Motiv war.

Elfenbeinrelief um 1100, Berlin

Auf einem Elfenbeinrelief, das sich heute im Besitz der Staatlichen Museen Berlin befindet, wird das Christuskind in einem Tuch von der Taube gebracht, was dann doch spontan an die großelterliche Fama vom Storch, der die Kinder bringt, erinnert.

Welche Vorstellung des Schwangerwerdens hier konkret dargestellt werden soll, ist nicht ganz deutlich. Vielleicht ist daran gedacht, dass der Heilige Geist hier die Seele von Christus bringt. Christi Seele würde als verkleinerte Form seiner erwachsenen Existenz dargestellt, nicht unüblich in der damaligen Zeit.

Auch hier sitzt Maria auf einem Thron, ihre Kaiserkrone hat sie kurzfristig abgesetzt, vor ihr hängt eine Laterne.

Der Engel hält vermutlich eine Weltenkugel in der Hand, ein vorausgreifender Hinweis auf den Christus-Pantokrator.



Verkündigung, 1240, Würzburg, heute im Getty Museum, Los Angeles

Die 1240 in Würzburg geschaffene Miniatur (17,8x13,5 cm) hat klare Struktur, deutliche Gestik, trotzdem eine gewisse Dynamik. Der Engel ist noch nicht richtig gelandet, er schwebt über dem Boden, der linke Flügel ist noch in der Luft. Umso sicherer ist er sich in seiner Botschaft, die Maria demütig entgegennimmt. Auf alle mirakulösen Anspielungen hat der Künstler verzichtet.


Guido da Siena, Verkündigung, 1270, Tempera/Holz, 34 x 46 cm

Bei diesem Verkündigungs-Bild von Guido da Siena aus dem Jahr 1270 vermute ich, dass nur wenige Betrachter:innen die Bezüge erkennen und die meisten es auf die Konstellation Engel – Taube – Maria reduzieren.

Diese narrativen Elemente stehen natürlich im Vordergrund des Bildes, aber seine Aussage geht darüber hinaus. Es ist eine dezidierte Darstellung der Heilsgeschichte und ein Bekenntnis zur Jungfräulichkeit der Maria.

Dazu dienen die weiteren Bildelemente, ein Baum, zwei Türme und eine Mauer, die symbolisch codiert sind.

Die Maria umgebende Mauer dient der Symbolisierung des hortus conclusus, der fortdauernden Jungfräulichkeit der Maria, der Baum ist ein Verweis auf den Sündenfall, der es erst notwendig macht, dass Christus erscheint und am Kreuz stirbt.

Außerdem verweist der Turm außerhalb der Mauern als romanischer Bau auf das AT, der modernere Bau dagegen auf das NT.


Robert Campin, 1420, Tempera, 61 x 63,7 cm, Brüssel

Robert Campin ist ein einflussreicher und bedeutsamer Künstler. Er bildete Rogier van der Weyden aus und war stilbildend für eine ganze Generation. Die Verkündigungsszene spielt hier in einem bürgerlichen Wohnhaus. Die sehr luxuriös gekleidete Maria kniet dennoch demütig vor einer Bank auf dem Fliesenboden. Der Rand ihres Mantels ist mit einem Zitat aus dem Marienlied Salve Regina dekoriert. Die zerlesenen Bücher zeigen sie als Besitzerin göttlicher Weisheit. Die Bank ist mit Löwen verziert, so wie einst der Thron Salomos, der als Inbegriff der Weisheit galt. Die Glasmalereien zeigen Propheten. Über dem Kamin hängt ein Christopherus-Bild. Das Bild beeindruckt nicht zuletzt durch seine bewusst konstruierte Ungleichzeitigkeit. Noch ist Christus nicht geboren, aber der Christopherus trägt ihn schon durch den Fluss. Noch ist Christus nicht gestorben und doch trägt der Mantel der Maria einen Spruch, der genau dieses voraussetzt. Ob die Darstellung der Kerzen (jeweils eine abgebrannte kombiniert mit einer neuen) auf das Verhältnis von Neuem und Altem Bund anspielen, wäre zu überlegen.

Robert Campin hat mehrere Variationen dieses Sujets angefertigt. Diese Fassung, das Merode-Triptychon, wird auf die Zeit zwischen 1427 und 1432 datiert. Wer das Bild lesen will, muss zunächst auf den linken Flügel blicken. Da sehen wir das Stifterpaar, er trägt den Namen Engelbrecht (Der Engel brachte), sie heißt Schrinmechers (Schreinemacher). Und so sehen wir auf der Haupttafel, wie der Engel Gabriel seine Botschaft zu Maria brachte und auf dem rechten Flügel, wie der Schreiner Josef Mausefallen anfertigt. Das anspielungsreiche Werk zeigt uns die Vase mit den Lilien sowie Waschbecken und Wasserkessel, die die Keuschheit symbolisieren. Das Buch liegt auf einer Schriftrolle, das könnte sich auf die „Überwindung“ des Alten durch das Neue Testament beziehen. Josef erscheint als Überlister des Teufels. Er fertigte unter anderem Mausefallen: eine dieser Fallen sehen wir auf der Werkbank, eine zweite auf der Auslage seiner Werkstatt - der heilige Augustinus nannte das Kreuz Christi die Mausefalle des Teufels.


Fra Angelico, Verkündigung, 1430, Prado Madrid

Fra Angelicos 1430 entstandenes Bild von der Verkündigung bindet das Geschehen geschickt in die Lebenswelt der Mönche ein. Zwischen dem Erzengel Gabriel und der Jungfrau Maria hindurch blicken wir in eine schlichte karge Zelle, die der der Mönche im Dominikanerkloster in Fiesole oberhalb von Florenz nachempfunden ist. Das eigentliche Geschehen spielt sich aber im Bildvordergrund ab. Auf der linken Seite wird die Vertreibung aus dem naturkundlich reich ausgestatteten Paradies gezeigt. Die Vertreibung erfolgt aufgrund des Sündenfalls, der uns auf die Notwendigkeit des Heilshandelns Christi verweist. Auf der rechten Seite erfolgt die Verkündigung im Vorraum eines Hauses. Verbunden wird dies durch die göttliche Aura links oben, die sich ausgehend von zwei schenkenden Händen als Strahl, der die Taube trägt, bis zur Jungfrau Maria erstreckt.

Auf der Vorhangstange über dem Kopf der Maria sitzt ein Vogel, der sich als Schwalbe deuten lässt, die als Muttergottesvogel gilt. Das passt zu den Bauernregeln, die zur Schwalbe aufgestellt werden:

„Am Tage von Maria Geburt fliegen die Schwalben furt.“
„Marienverkündigung kommen sie wiederum.“


Benedetto Bonfligli, Verkündigung, 1455-60, Perugia

Das Besondere dieses Bildes von Benedetto Bonfligli ist der Einbezug des Evangelisten Lukas. Dieser ist kenntlich an seinem zugeordneten Symboltier, dem Stier. Er wird nun quasi Zeuge der Verkündigung und überliefert das Geschehen der Nachwelt.

Das ist eigentlich schon ein Wunder, denn laut Selbstbekundung am Anfang des Evangeliums kennt er das Geschehen nur vom Hörensagen.

Gottvater ist mit seinem Hofstaat vor goldenem Hintergrund dargestellt, der Heilige Geist schießt als brennende Taube mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit auf Maria zu, die demütig das weitere Geschehen abwartet.


Leonardo da Vinci, Verkündigung, 1472-75, Uffizien, Florenz

Dieses auf die Zeit zwischen 1472 bis 1475 datierte, 90 x 222 cm große Verkündigungsbild wurde lange Zeit dem Künstler Domenico Ghirlandaio (1448-1494) zugeschrieben und gilt heute als Jugendwerk von Leonardo da Vinci (1452-1519) unter Mitwirkung der Werkstatt Andrea del Verrocchios (1435-1488) bei dem Leonardo ausgebildet wurde.

Das Bild verlagert das Geschehen ganz in die Natur und bewahrt doch einen intimen Charakter. Über die Stimmigkeit des Bildes ist eine heftige Kontroverse entstanden: zeigt es, dass der junge Leonardo die Perspektive noch nicht ganz beherrschte (zu kurze Beine, verlängerter rechter Arm, un-perspektivisches Mauerwerk) oder ist das Bild im Gegenteil ganz bewusst auf einen spezifischen Betrachter-Standpunkt hin gemalt, der dann wohl rechts vom Bild zu verorten wäre, so dass alles auf dem Bild wieder stimmig erschiene? Letzteres meint zumindest Antonio Natali, der frühere Direktor der Uffizien. Dann könnte der ursprüngliche Ort ein Seitenaltar in einer Kirche gewesen sein.

Für die Rezeptionsgeschichte und die Wirkung des Bildes ist das aber eigentlich egal, nur wenigen Menschen wird die perspektivische Unstimmigkeit aufgefallen sein, aber viele fühlen sich von dem Werk angesprochen. Es muss also unabhängig von seiner Konstruktion eine ausgesprochene Anmutungsqualität haben.

Man kann überlegen, ob Leonardo hier auch auf den hortus conclusus anspielt, freilich „spielt“ er dann mehr damit, als dass er eine dezidierte religiöse Aussage über die Jungfräulichkeit machen würde. Leonardo kommt es eher darauf an, das ganze Geschehen in einen möglichst natürlichen Kontext einzubetten.


Carlo Crivelli, Verkündigung mit St. Emidius, 1486


Vergrößerung auf den Seiten der National Gallery

Das ist sicher das subtilste aller hier vorgestellten Verkündigungsbilder, man könnte darüber hunderte von Seiten schreiben. Carlo Crivelli (1430-1500) hat es 1486 angefertigt und es ist 207 x 147 cm groß. Es steckt voller ironischer Anspielungen - etwa, wenn der Erzengel Gabriel zur Verkündigung an Maria fast zu spät kommt, weil er vom Bischof Emidius (279-309) angesprochen wird, der ihn mit einem repräsentativen Kirchbauprojekt behelligt (das es nicht geben würde, wenn Gabriel nicht seinen Auftrag erfüllen könnte und das in einen merkwürdigen Kontrast zu jenem Herrn steht, der keinen Platz in der Herberge finden wird). Oder wenn wir an das Loch in der Hauswand denken, welches der Heilige Geist in Gestalt der Taube sich erst suchen muss, um überhaupt durch den Hortus conclusus der Maria zu kommen – wunderbar!

All das beweist, dass die rein perspektivgerechte Konstruktion von Bildern zu dieser Zeit schon nicht mehr im Vordergrund stand und man nun mit ihr spielen konnte, um schon beinahe manieristisch andere Botschaften an die Betrachter:innen zu bringen. Und hier geht es um die asynchrone Koinzidenz von Botschaften: der Verkündigung an Maria und der Verkündigung der erweiterten Stadtrechte am Feiertag der Verkündigung an Maria.

Die National Gallery beschreibt das Bild u.a. so:

Der Erzengel Gabriel steigt von Gott herab, um der Jungfrau zu sagen, dass sie ein Kind gebären wird – ein Moment, der als Verkündigung bekannt ist –, wird aber von einem Bischofsheiligen von seiner Mission abgelenkt, der ihn in der Straße einer Renaissancestadt aufgehalten hat. Dies ist der heilige Emidius, der Schutzpatron der Stadt Ascoli Piceno in den italienischen Marken. Dieses Gemälde ist einzigartig, da es einen lokalen Heiligen zeigt, der effektiv in ein biblisches Ereignis eingreift. Ascoli wurde vom Papst regiert, erhielt aber 1482 ein gewisses Maß an Selbstverwaltung. Die Nachricht traf am 25. März ein, dem Fest der Verkündigung. Von dieser Zeit an wurde dieses Fest mit einer großen Prozession zum Kloster der Observanten Brüder gefeiert, für die dieses Altarbild angefertigt wurde.

Allein schon die subtile Art der Darstellung der Trinität durch Crivelli ist beeindruckend: zwei konzentrische Kreise für Vater und Sohn aus denen dann der Heilige Geist in Form von Strahlen (und dann natürlich in Gestalt einer Taube) auf Maria strömt.

Wer nimmt den entscheidenden Moment der Verkündigung überhaupt wahr? Das Bild sagt: Während Gott auf dieser Welt erscheint, läuft der Alltag schlicht weiter, die Menschen gehen ihren Beschäftigungen und beruflichen Aufgaben nach, als wäre nichts gewesen. Nur die Tauben am Dachfirst werden von der Wucht der göttlichen Geistkraft aufgestöbert. Und die Teppiche werden in Bewegung versetzt. Nur zwei Menschen auf der Erde nehmen das Geschehen überhaupt wahr. Ein junger Mann, der auf die mirakulöse Lichtererscheinung oben am Himmel blickt und ein kleines Mädchen, das am linken Bildrand das einzige Wesen dieser Welt ist, welches den entscheidenden Moment wohl sieht, vielleicht aber nicht recht erfasst. Alle anderen sind überaus beschäftigt: über dem Geschehen sehen wir auf einer Empore zwei Männer, die sich gerade über eine per Brieftaube erhaltene Botschaft austauschen, die die örtlichen Stadtrechte erweitert. Weltliche und göttliche Botschaften in Konkurrenz sozusagen.

Der Fluchtpunkt der Darstellung ist die rote Kappe des Mannes vor dem vergitterten Fenster im Hintergrund. Das ermöglicht dem Künstler die komplexe Darstellung des Geschehens, lenkt unsere Aufmerksamkeit aber auch auf eine Frau im Bildhintergrund, die von der Figurenkonstellation und der Farbwahl her durchaus eine biblisch begründete, herausgestellte Figur sein könnte. Vielleicht haben wir es mit Elisabet, der Mutter Johannes des Täufers zu tun, die selbst schon mit ihm schwanger ist und demnächst nach der Überlieferung des Lukas (1,39-40) der nun schwangeren Maria begegnen wird.

Es wäre aber auch denkbar, dass jeder auf dem Gemälde dargestellte Bild-Raum ein eigenständiger Zeit-Raum wäre. Dann könnte man kühn spekulieren, dass das Kind am linken Bildrand die kleine Maria darstellt, die blau gekleidete Frau in der Mitte die dem Josef angetraute Maria und natürlich rechts Maria im Moment der Verkündigung zu sehen ist.

Der Fluchtpunkt des Bildes würde uns dann auf das Paradies hinter den (noch) wegen des Sündenfalls verschlossenen Mauern verweisen.

Es wären noch viele Details am Bild zu studieren, etwa die Motive, die auf Jesu Kreuzigung verweisen (der kleine Vogel im Käfig am Haus von Maria) oder das besondere Verhältnis zur symbolisch aufgefassten Natur, das die Kunst dieser Zeit charakterisiert.


Lorenzo Lotto, Verkündigung 1527, 166x114 cm

Hart an der Grenze zum Kitsch würde ich spontan aus heutiger Perspektive sagen, aber damals war es eher der Übergang zum Manierismus, der sich auf diesem Bild abzeichnet. Der Venezianer Lorenzo Lotto (1480 -1557) ist erkennbar von Bellini, aber auch von Tizian beeinflusst, er liebt kräftige Farbe und akzentuierte, geradezu plakative Gesten. Ich gebe einmal die schöne Beschreibung aus der Webgallery of Art wieder (wobei die Hervorhebungen von mir stammen):

This odd and unusual Annunciation scene takes place in Mary's chamber, represented with fidelity to detail yet lighted in surprising way, even from below. Mary has been reading at a prie-dieu when God the Father burst in from the loggia, stretching forth his hands as if sending down the dove of the Holy Spirit, although no dove is seen. Gabriel runs in from the door bearing a huge lily and drops suddenly to one knee. Mary turns toward us and opens her hands in wonder. A cat scurries away in terror, casting a shadow on the floor, as does the rushing angel.

The Recanati Annunciation is one of Lotto's best-loved works, above all for its refreshingly original and unrhetorical treatment of a very familiar theme. The holy figures are represented in a way that is touchingly direct, almost naive, and the scene is lent a further immediacy by the detailed description of the Virgin's bedchamber and garden beyond and by the quasi-humorous prominence of the frightened cat.

Das Bild weist einige Besonderheiten auf. So verzichtet der Maler auf die Darstellung des Heiligen Geistes, Gottvater weist mit einer Art Freischwimmerbewegung direkt auf Maria hin und der Erzengel Gabriel verweist nur noch auf die dramatische Bewegung Gottes.

Die Haltung der Maria würde man in einer normalen Kommunikationssituation wohl als zumindest unhöflich bezeichnen, sie wendet sich dezidiert sowohl von ihrer Lektüre der Bibel wie von ihren ‚Gästen‘ auf dem Bild ab und direkt den Betrachter:innen zu.

Sie kommuniziert mit den Menschen vor dem Bild und sucht deren Einverständnis. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass die innerbildlichen Kommunikationspartner ja Gottvater und der Erzengel Gabriel sind. Und ernsthaft verschreckt sieht Maria auch nicht aus. Und Demut sieht anders aus.


Federico Fiori Barocci, Verkündigung, 1592

Einerseits ganz in der darstellerischen Entwicklung, die sich schon bei Lorenzo Lotto ankündigte, und doch ganz anders beeinflusst, finden wir die Darstellung von Federico Barocci (1526-1612) aus dem Jahr 1592. In der Zwischenzeit hatte nämlich das Konzil von Trient mit seinen Bestimmungen zum künftigen Umgang mit Bildern in der Kirche stattgefunden und Barocci bemüht sich, diese Regelungen in seinen Bildern umzusetzen. In seiner 25. Sitzung verlas das Konzil das Dekret über die Anrufung, die Verehrung und die Reliquien der Heiligen und über die heiligen Bilder. Die durch die Reformation in Frage gestellte Lehre der Bilderverehrung entschied Trient zugunsten der Bilder unter Bezugnahme auf das Zweite Konzil von Nicäa (787). Stärker jedoch als Nicäa rückte das Konzil von Trient den religionspädagogischen Zweck der kirchlichen Bilder in den Vordergrund. So sollten die „katholischen“ Bilder künftig nichts hinzu erfinden und doch zugleich für die Betrachter:innen Anknüpfungspunkte im Bild schaffen, die dessen Lektüre erleichtern sollten.

Im Ausblick aus dem Fenster im Gemach der Maria blicken die Betrachter:innen auf ein ihnen bekanntes Gebäude aus der Nachbarstadt Urbino, den Palazzo Ducale. Und Barocci fügt am linken unteren Bildrand eine schlafende Katze ein, die – anders als bei Lorenzo Lotto – kein eigenständiger Bedeutungsträger (im Sinne des Schreckens vor dem einbrechenden Heiligen) ist, sondern nur ein Element aus der Lebenswelt der Betrachter:innen verkörpert. Das Verkündigungsgeschehen wird so in die vertraute Lebenswelt inkulturiert. Wo aber bei Lorenzo Lotto noch spektakuläre und überraschende Gesten vorherrschen, reduziert es sich hier eher in eine stillere Art der Frömmigkeit. Der Betrachter soll sich „wie zu Hause“ fühlen und zugleich von seiner Lebenswelt abgeholt und zum Glauben eingeladen werden.

Die Subjektivierung vollzieht sich bei diesen Bildern nun aber nicht so, dass der Betrachter selbst im Bild ist, sondern eher so, dass er einer hoch theatralischen Inszenierung, freilich im vertrauen Ambiente beiwohnt.

Andererseits vermag sich der Künstler Barocci nicht von der ihm bis dahin vertrauten manieristischen Darstellungsform zu trennen.

Der Blick auf die rechte, überlängte abwehrende Hand der Maria zeigt ebenso wie deren zu groß geratener Kopf auf einem ebenso stark überlängten Hals, dass das Bild entweder aus einer extremen Untersicht wahrgenommen werden müsste oder der Künstler eben doch weiterhin manieristisch mit den Perspektiven spielt und damit die tridentinische Besinnung auf das religiös Wesentliche unterläuft.


Orazio und Artemisia Gentileschi, Verkündigung, 1623 und 1630

Orazio Gentileschi 1623, 286x196 cm - Artemisia Gentileschi 1630, 257x179 cm

Bisher ist noch keine Künstlerin auf unserer Tour durch die Kunstgeschichte zum Thema Verkündigung aufgetaucht. Das ist angesichts des Patriarchalismus im Kunstsystem nicht wirklich überraschend, angesichts des Themas der Ankündigung einer Geburt dann aber doch. Erst mit dem beginnenden 17. Jahrhundert stoßen wir auf Bilder aus weiblicher Hand zu diesem Sujet. Artemisia Gentileschi (1593-1654) gehört zu den großen und bedeutenden Künstlerinnen der Kunstgeschichte, die zu ihrer Zeit sogar die männlichen Kollegen überflügelte und eine große Werkstatt führte. Ausgebildet wurde sie bei ihrem Vater Orazio Gentileschi (1563-1639), der ähnlich wie auch Artemisia von Caravaggio beeinflusst war.

Da sich ihre Wege nach 1612 trennten (sie zog nach Florenz und dann nach Neapel, während er nach Genua und von dort nach London zog), kann man die Unterschiede der Werkentwicklung ganz gut an den beiden Bildern zum Thema Verkündigung studieren. Orazio zeigt uns ein Meisterwerk der Stoffbearbeitung, das Augenmerk fokussiert sich auf das Spiel der Farben, Falten und Gesten, so dass die durchs Fenster einfliegende Taube des Heiligen Geistes beinahe sekundär wird. Spätere Kritiker haben sein Bild als anzüglich empfunden, weil es das Thema nicht religiös, sondern eher höfisch angeht. Artemisias Meisterwerk kontrastiert sehr viel stärker Hell und Dunkel, sie verwendet ins Ockerfarbene und Braune gehende Farbtöne und lässt den Heiligen Geist als Taube im goldenen Farbstrom sich über Maria ergießen.


Luc-Olivier Merson, Verkündigung, 1908

Eigentlich gehört der französische Maler Luc-Olivier Merson (1846-1920) nicht zum klassischen Tableau der Künstler zu diesem Thema. Aber ich finde seine eher randständige Komposition doch ganz interessant. Wir erkennen im Erzengel Gabriel deutlich den Einfluss des Symbolismus, an der Gesamtanlage den Einfluss des Orientalismus des 19. Jahrhunderts, aber eben auch die Details aus der klassischen Kunstgeschichte wie die Lilien oder die Katze auf der Dorfstraße.


-> Hier geht es weiter zum Bildthema "Heimsuchung"

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/134/am740a.htm
© Andreas Mertin, 2021