Jesu Geburt

Andreas Mertin

Die Quellen
  • Jesaja, 1, 3
  • Mt 1, 25. (80/90 n.Chr.)
  • Lukas 2,6 (90-100 n.Chr.)
  • Proto-Evangelium des Jakobus (150 n. Chr.)
  • Pseudo-Matthäus-Evangelium (600-650 n.Chr.)
  • Legenda Aurea (1292 n. Chr.)
  • Visionen der Hl. Birgitta (ab 1344 n.Chr.)
Jesaja 1,3

„Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht.“

Matthäus 1, 25

Er erkannte sie aber nicht, bis sie ihren Sohn gebar. Und er gab ihm den Namen Jesus.

Lukas 2,6

Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

Proto-Evangelium des Jakobus, Kapitel 14 (150 n. Chr.)

Und nach der Hälfte des verbleibenden Wegs sprach zu ihm Maria: "Hebe mich herab vom Esel, weil das in mir mich drängt hervorzukommen." Und er hob sie dort herab und sagte zu ihr: "Wo soll ich dich hinführen und deine Blöße verstecken? Dieser Ort ist eine Einöde.“ Und er fand dort eine Höhle und führte sie hinein und stellte sie zu seinen Söhnen und ging davon eine Hebamme zu suchen in der Gegend Bethlehems. ... Und ich sah eine Frau herabkommen vom Gebirge und sie sagte mir: "Mensch, wohin gehst du?" Und ich sagte ihr: "Ich suche eine Hebamme." Und sie antwortete mir und sprach: "Aus Israel?" Und ich sagte ihr: "Ja, Herrin." Und sie sagte mir: "Wer ist die Gebärende in der Höhle?" Und ich sagte: "Die mir anvertraute." Und sie sagte mir: "Sie ist nicht deine Frau?" Und ich sagte ihr: "Es ist Maria und ich habe sie per Los zur Frau erhalten, (die Frau) die aufgezogen wurde im Allerheiligsten. Sie ist nicht meine Frau, sondern sie hat empfangen vom Heiligen Geist.“ Und sie sagte: "Ist das wahr?" Und ich sagte ihr: "Komm und sieh!" Und sie ging mit ihm. ... Und sie kommen zum Ort der Höhle. Und es war eine Wolke, die die Höhle bedeckte. Und es sagte die Hebamme: "Meine Seele wurde groß am heutigen Tag, weil ich etwas Neues, Wunderbares gesehen habe: Der Retter Israels wurde geboren." Und sogleich zog sich die Wolke aus der Höhle zurück und es erschien ein großes Licht in der Höhle, das unsere Augen nicht ertragen konnten. Und jenes Licht zog sich Stück um Stück zurück, bis das Kind erschien. Und es kam und nahm die Brust seiner Mutter Maria. [Und die Hebamme rief aus: "Wie groß ist der heutige Tag, dass ich gesehen habe dieses neue, großartige Ereignis!"] Und die Hebamme ging heraus aus der Höhle und traf Salome und sagte ihr: "Salome, Salome, etwas Neues, Großartiges habe ich dir mitzuteilen! Eine Jungfrau hat geboren, wie es nicht möglich ist nach menschlicher Art." Und es sagte Salome: "So wahr Gott der Herr lebt, wenn ich es nicht untersuche [wenn ich nicht meine Hand in sie lege], werde ich nicht glauben, dass eine Jungfrau geboren hat." Und Salome ging hinein und sagte: "Maria, zeige dich, denn ein nicht kleiner Streit ist entstanden über dich." Und sie untersuchte sie. Und Salome schrie auf und rief laut: "Wehe meiner Gesetzlosigkeit und wehe meines Unglaubens, dass ich versucht habe den lebendigen Gott. Und siehe, meine Hand wird im Feuer verbrannt!“ Und Salome ging auf die Knie vor dem Herrn und spricht: "Oh Gott meiner Väter, erinnere dich meiner, dass ich Same Abrahams und Isaaks und Jakobs bin. Erniedrige mich nicht vor den Söhnen Israels, sondern gib mir zurück meine Gesundheit zurück." Und siehe ein Engel des Herrn steht bei Salome und sagt: "Salome, Salome, es hat gehört Gott der Herr dein Gebet. Geh zu dem Kind, trage es und er wird dir ein großer Retter sein.“ Und Salome ging herzu, nahm das Kind auf und sprach: "Wahrlich, ein großer König wurde Israel geboren." Und sogleich wurde Salome geheilt und ging heraus aus der Höhle gerechtfertigt. Und siehe, eine Stimme sagt zu ihr: "Salome, Salome, berichte nicht das Wunderbare, das du gesehen hast [bis du in Jerusalem bist]."

Pseudo-Matthäus-Evangelium (600-650 n.Chr.)

Und als er das gesagt hatte, befahl er dem Lasttier anzuhalten, denn die Zeit für die Geburt war genaht; und er gebot Maria, vom Tier abzusteigen und eine unterirdische Höhle zu betreten, in die noch niemals ein Lichtstrahl gedrungen war, die vielmehr immer im Dunkeln lag, weil sie nie Tageslicht hatte. Beim Eintritt Marias aber begann die ganze Höhle zu leuchten, und sie zeigte überall einen solchen Lichtglanz, als scheine die Sonne. Und als sei Mittag, so erhellte das göttliche Licht die Höhle. Tag und Nacht ließ das göttliche Licht nicht nach, solange Maria dort weilte. Und dort gebar sie einen Knaben, den Engel während seiner Geburt die Engel umstanden und dem sie nach der Geburt Ehre bezeugten mit dem Spruch: "Ehre sei Gott in der Höhe, und auf Erden Friede den Menschen guten Willens!“ Schon längst hatte Josef sich aufgemacht, um Hebammen zu suchen. Als er zu der Höhle zurückkam, hatte Maria schon das Kind geboren. Josef sagte zu Maria: "Ich habe dir die Hebammen Zelomi und Salome gebracht. Sie stehen draußen vor der Höhle und wagen wegen des starken Glanzes nicht, hier einzutreten.“ Als Maria das hörte, lächelte sie. Doch Josef sprach zu ihr: "Lächle nicht, sondern gib acht, dass du keine Arznei benötigst!" Da ließ sie eine von den beiden zu sich hereinkommen. Als Zelomi eingetreten war, sprach sie zu Maria: "Lasse mich dich anfassen!“ Als Maria erlaubt hatte, sie zu berühren, schrie die Hebamme laut auf und sagte: "Herr, großer Herr, erbarme dich! Niemals hat man gehört, ja nicht einmal geahnt, dass die Brüste voller Milch sein können und doch der neugeborene Knabe seine Mutter als Jungfrau erweist. Keine Verunreinigung mit Blut erfolgte bei dem Kind, kein Schmerz bei der Gebärenden. Als Jungfrau hat sie empfangen, als Jungfrau geboren, Jungfrau ist sie geblieben. Als die andere Hebamme namens Salome diesen Ausruf vernahm, sprach sie: "Was ich höre, glaube ich nicht, ehe ich es selber nachgeprüft habe.“ Und Salome ging zu Maria und sprach: "Erlaube, dass ich dich berühre und nachprüfe, ob Zelomi die Wahrheit sagte!" Da Maria die Berührung erlaubte, führte Salome mit ihrer Hand die Prüfung durch. Und wie sie Maria prüfend berührte, verdorrte sogleich ihre Hand. Vor Schmerz begann sie, heftig zu weinen, sich zu ängstigen und zu rufen: "Herr, du weißt, dass ich dich immer gefürchtet habe und alle Armen ohne Annahme von Lohn heilte, von Witwen und Waisen nichts annahm und Mittellose niemals mit leeren Händen entließ. Siehe, ich bin erbärmlich geworden wegen meines Unglaubens, weil ich es wagte, deine Jungfrau auf die Probe zu stellen.“ Als sie dies sagte, erschien neben ihr ein außergewöhnlich glänzender Jüngling und sprach zu ihr: "Tritt an das Kind heran und bete es an, berühre es mit deiner Hand; es wird dich heilen, denn es ist der Heiland der Welt und all derer, die auf ihn ihre Hoffnung setzen!“ Sie trat sofort an das Kind heran, und während sie es anbetete, berührte sie den Saum der Windeln, in die das Kind gewickelt war. Und sogleich war die Hand geheilt ... Am dritten Tag nach der Geburt des Herrn verließ Maria die Höhle und ging in einen Stall. Sie legte den Knaben in eine Krippe; Ochs und Esel huldigten ihm. Da ging in Erfüllung, was der Prophet Jesaja gesagt hatte: "Es kennt der Ochse seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn.“ Die Tiere nahmen ihn in ihre Mitte und huldigten ihm ohne Unterlass. So erfüllte sich der Ausspruch des Propheten Habakuk: "In der Mitte zwischen zwei Tieren wirst du bekannt werden." An demselben Platz blieben Josef und Maria mit dem Kind drei Tage lang.

Legenda aurea

Als beide also nach Betlehem kamen, konnten sie – sowohl, weil sie arm waren, als auch, weil andere, die wegen derselben Sache gekommen waren, alle Unterkünfte belegt hatten – keine Unterkunft haben. Also kehrten sie in einen offenen Durchgang zwischen zwei Häusern ein, der ein Dach hatte, wie es in der Historia scolastica heißt. Das nennt man „Einkehr‟. Darunter kehrten die Bürger ein, um miteinander zu reden oder um an Feiertagen gemeinsam zu essen oder bei schlechtem Wetter. Dort hatte vielleicht Josef eine Krippe gemacht für Ochs und Esel, oder manchen Quellen zufolge banden die Bauern dort ihre Tiere an, wenn sie zum Markt gingen, und deswegen sei dort eine Krippe aufgebaut gewesen. Noch mitten in derselben Nacht zum Sonntag gebar die selige Jungfrau ihren Sohn und legte [ihn] in der Krippe auf das Heu. Dasselbe Heu brachte später die Heilige Helena nach Rom, wie es in der Historia scolastica heißt. Ochs und Esel aber hielten sich davon zurück, dieses Heu zu fressen. Als nämlich [wie es in der Compilatio von Bartholomaeus heißt und dem Buch über Die Kindheit des Retters entnommen zu sein scheint] die Zeit kam, wo die selige Maria gebären sollte, rief Josef – auch wenn er nicht daran zweifelte, dass Gott von einer Jungfrau geboren werden würde – doch nach Sitte seiner Heimat Hebammen herbei, deren eine Zebel und deren andere Salome hieß. Als also Zebel sie sah, fragte und als solche [d.h. als Jungfrau] vorfand, rief sie, dass [sie als] Jungfrau geboren habe. Da jedoch Salome das nicht glaubte, sondern auch noch überprüfen wollte, verdorrte sogleich ihre Hand. Auf Befehl eines Engels, der ihr [daraufhin] erschien, berührte sie den Jungen und wurde sofort wieder gesund”

Visionen der Hl. Birgitta von Schweden

Als ich mich an der Krippe des Herrn in Bethlehem befand, sah ich eine schöne schwangere Jungfrau, in einen weißen Mantel und ein dünnes Kleid gekleidet, die mir erlaubte, ihren jungfräulichen Leib deutlich zu erkennen. Ihr Mutterleib war voll und ganz aufgeschwollen, denn sie war schon bereit, zu gebären. Bei ihr war ein sehr ehrwürdiger alter Mann, und sie hatten beide einen Ochsen und Esel bei sich. Als sie in die Grotte kamen, band der Alte den Ochsen und den Esel an der Krippe fest, ging hinaus und kam mit einem brennenden Licht zurück zur Jungfrau, das er an der Mauer befestigte. Dann ging er wieder hinaus, denn er sollte nicht selber bei der Entbindung zugegen sein. Aber als sie so im Gebet versunken war, sah ich, wie das Kind sich im Mutterschoß bewegte, und in derselben Zeit, ja in einem Augenblick, gebar sie ihren Sohn, von dem ein so unsagbarer Strahlenglanz ausging, dass die Sonne nicht damit zu vergleichen war. Das Wachslicht, das der alte Mann dorthin gesetzt hatte, verbreitete keinen Schein, denn der göttliche Strahlenglanz verdrängte ganz den Schein des Wachslichtes. ... Ich sah aber gleich das ehrenreiche Kind nackt und klar leuchtend auf dem Boden liegen. Ich sah auch die Nachgeburt eingewickelt und sehr schön neben dem Kinde. Und ich hörte einen lieblich klingenden Engelsgesang von wunderbarer Schönheit. Der Leib der Jungfrau, der vor der Entbindung sehr aufgeschwollen war, zog sich nun zusammen, und ihr Körper schien nun schmächtig und von seltsamer Schönheit. Als sie spürte, dass sie geboren hatte, betete sie den Knaben sehr artig und ehrfürchtig mit gesenktem Haupt und zusammengelegten Händen an, und sie sagte zu ihm: „Sei willkommen, mein Gott, mein Herr, mein Sohn!“ Auf dem Boden sitzend, legte sie ihren Sohn in die Arme und nahm mit den Fingern vorsichtig seinen Nabelstrang, der gleich abgeschnitten wurde, ohne dass Flüssigkeit oder Blut heraustrat. Gleich begann sie, ihn sorgfältig zu wickeln, erst in die Leinen-, dann in die Wollkleider. ... Dann wickelte sie den Kopf des Kindes in die beiden Leinentücher, die sie für diesen Zweck zur Hand hatte. Als das getan war, trat der Alte ein, fiel auf die Knie auf den Boden, betete den Jungen an und weinte vor Freude.

Kunstgeschichte

Wie man aus den vorstehenden Texten entnehmen kann, wurden aus zwei einfachen Versen in zwei Evangelien mit der Zeit im Rahmen der Legendenbildung und der Allegorese immer komplexere Erzählungen. Faktisch ist es so, dass es so gut wie kein Kunstwerk gibt, dass das Geschehen so schildert, wie es in den Evangelien beschrieben wird. Die Mehrzahl der Bildelemente stammen aus späteren Legendenbildungen bzw. dann ab dem 14. Jahrhundert vor allem aus den Visionen der Birgitta von Schweden. Ihr Visionsbericht dominiert die kunsthistorische Gestaltung bis in das 21. Jahrhundert. Erhaltene Darstellungen der Geburt Christi finden wir seit dem ersten Drittel des 4. Jahrhunderts. Grundsätzlich unterschieden werden:

  • Frühchristlich-westliche Typen
  • Orientalisch-byzantinische Typen
  • Typen in der abendländischen Kunst

Zu den Charakteristika der frühen Darstellungen gehören:

  • Jesuskind in der Krippe
  • Ochse und Esel
  • Ein oder mehrere Hirten
  • Joseph fehlt, Maria seltener

Zu den Charakteristika der orientalisch-byzantinischer Darstellungen gehören:

  • Maria auf einer Matratze
  • Jesuskind in einer Höhle mit einem Ochsen und einem Esel
  • Zwei Hebammen samt Bad des Jesuskindes
  • Joseph als nachdenklicher alter Mann

Zu den Charakteristika der abendländischen Darstellungen zählen:

  • Josef mit Kerze
  • Zunehmende Bedeutung der „Gottesmutter“
  • Herausstellung der innigen Beziehung von Jesus und Maria
Mögliche Fragen vor konkreten Kunstwerken
  • Was stammt aus der Bibel, was aus apokryphen Quellen, was aus legendarischen Texten, was ist Erfindung des Künstlers?
  • Welche Symbole werden verwendet?
  • Wer ist alles dargestellt?
  • Was geht konform mit den dogmatischen Bestimmungen, was widerspricht ihnen?
  • Wie wird auf die Natur Bezug genommen?

Aus der schier unerschöpflichen Zahl der Bilder der Kunstgeschichte zum Thema Christi Geburt kann im folgenden „Bilderbuch“ nur ein sehr kleiner Ausschnitt präsentiert werden.


4. Jahrhundert, Erste Bilder

Um 330 n.Chr. findet wir das Motiv der Geburt Jesu auf dem Sarkophag des Marcus Claudianus. Dargestellt werden weder Maria noch Joseph, sondern nur ein Hirte sowie aus der späteren Allegorese der Kirchenväter Ochs und Esel. Da die Erzählung von Ochs und Esel erst im Pseudo-Matthäus-Evangelium aus dem 7. Jahrhundert auftaucht, die ersten Darstellungen dieses Motivs aber aus dem 4. Jahrhundert stammen, müssen sie der Allegorese der Kirchenväter entnommen worden sein, die, Jesaja 1, 3 aufnehmend, den Ochsen auf das Volk Israel bezogen, den Esel aber auf die Heiden.

Auf einem Marmorrelief-Fragment aus Naxos, heute im Byzantinischen Museum in Athen, das in das 5. Jahrhundert datiert wird, sehen wir, dass die Szene sogar noch weiter elementarisiert werden kann. Zur Erkennung der Szene reicht in dieser Zeit das gewickelte Kind in der Krippe mit den legendarischen Ochs und Esel. Nach Gregor von Nyssa (335-394) sagt dieses Bild: Zwischen den an das Gesetz gebundenen Juden und den vom Götzendienst belasteten Heiden liegt der Gottessohn, der sie von ihren Lastern befreit.



6. Jahrhundert, Die Maximianskathedra, Ravenna

Die Elfenbeintafel aus der Kathedra des Bischofs Maximian aus Ravenna ist die erste erhaltene komplexere Darstellung der Geburt Christi. Von der biblischen Erzählung sehen wir nur den bärtigen Josef und das in Leinen gewickelte, in der Krippe liegende Kind, sowie Maria, die auf einer Matratze liegt.

Alles Weitere stammt aus späteren Überlieferungen. Dazu gehört auch schon die Matratze, die nicht der Bibel entnommen ist.

Ein besonderes Augenmerk legt die Darstellung auf die Geschichte der Hebammen aus dem Proto-Jakobus-Evangelium. Diese Erzählung müssen die Betrachter:innen kennen, sonst verstehen sie die Darstellung nicht. Wir sehen Salome, die an Maria herangetreten ist und ihr ihre verkümmerte bzw. verbrannte Hand zeigt. Die Betrachter:innen lernen: wer nicht an den hortus conclusus glaubt, der direkt hinter der Hebamme mit der verschlossenen Tür symbolisiert ist, der wird empfindlich bestraft.

Diese Herausstellung der Geschichte mit den Hebammen macht nur Sinn, wenn es genügend Menschen in der damaligen Welt gab, denen die jungfräuliche Geburt fraglich war, weshalb man nicht nur zu narrativen Ausgestaltungen, sondern sogar zu impliziten erzählerischen Drohungen greifen musste. Das Unglaubliche ist plötzlich nicht mehr, dass Gott Mensch geworden ist, sondern die Jungfräulichkeit der Maria. Entstehen konnte dieses Problem nur, weil in der Zwischenzeit Maria selbst als Person ins Blickfeld der Theologen getreten war und als Gottesgebärerin dogmatisch reflektiert wurde. Aber mit der Betonung der Jungfräulichkeit der Maria ergab sich ein Folgeproblem: welche Rolle spielte Josef dabei?


Nach 800 – Stellung des Josef

In den Jahrhunderten danach wird nicht zuletzt die Verortung des Josef auf den Bildern der Geburtsgeschichte von den Künstlern und ihren Auftraggeber:innen durchbuchstabiert. Ist Josef nur ein neutraler Beobachter am Rande des Geschehens, wie auf dem Elfenbeinplättchen aus dem Jahr 800, das heute im British Museum in London zu finden ist? Hier ist Josef bewusst vom eigentlichen Geburtsgeschehen ausgegrenzt, er bleibt ‚außen vor‘.

Oder ist Josef ganz im Gegenteil konstitutiver Bestandteil des weihnachtlichen Geschehens und deshalb innerhalb des hortus conclusus zu platzieren, wie auf dem Elfenbein aus der Zeit um 1100? Hier umschließen die Mauern den Heiligen Josef explizit.

Im Hortus Deliciarum der Herrad von Landsberg aus der Zeit um 1180 finden wir Josef in seiner nachdenklichen Versenkung schon weit außerhalb des Geburtsgeschehens, er ist dem Ereignis noch weiter entfernt, als die Hirten, die zum Lobpreis herbeigeeilt ist. In der Sache wird sich die distanzierte Haltung des Josef durchsetzen, der auf seine Rolle als Ziehvater reduziert wird.




1270 – Guido da Siena

Bei Guido da Siena ist das Narrativ dann fast vollständig entfaltet. Wir treffen hier auf eine Bildkonstruktion ganz nach dem byzantinischen Darstellungstyp: Vom Himmel ergießt sich helles Licht auf das Geschehen. Die Geburt findet in einer Grotte statt, die nur von einem Sternenlicht erleuchtet wird, Ochs und Esel sind bei dem Kind in der Krippe, Maria liegt abgewandt auf einer byzantinischen Herrschermatratze, Josef ist als alter nachdenklicher Mann charakterisiert. Am unteren Bildrand baden die beiden Hebammen Zelomi und Salome das Christuskind. Den Zweifel am Geschehen hat Salome bereits hinter sich gelassen, sie ist von der fortdauernden Jungfräulichkeit Marias überzeugt. Rechts am Bildrand sind auch schon die Hirten zur Anbetung herbeigeeilt, was dann auch den Hund erklären dürfte, der quasi als Lokalkolorit auf dem Bild fungiert und in keiner der klassischen Quellen Erwähnung findet.

Diese Darstellung wird sich in leichter Variation auf den orthodoxen Ikonen über Jahrhunderte erhalten, wie etwa auf der berühmten Geburtsikone von Andrei Rublev aus dem Jahr 1405 studiert werden kann.


1304-06 – Giotto, Scrovegni-Kapelle

Mit Giotto deutet sich ein neuer Bildtyp an, er verlagert das Geschehen von der Grotte in einen Stall. Die Hebamme deutet er am linken Bildrand knapp an, aus der byzantinischen Tradition übernimmt er die nachdenkliche Haltung des abgewandten Josef (ordnet ihm aber keinen Gesprächspartner zu). Maria, die weiterhin auf einer Matratze liegt, ist nun ganz dem gewickelten Kind zugewandt. Das Christuskind liegt nicht in der Krippe, sondern wird von der Hebamme seiner Mutter übergeben.

Giotto dynamisiert die Bildgestaltung. Wenn Maria und Jesus das Bildzentrum darstellen, dann gibt es eine Kreisbewegung rund um das zentrale Geschehen.

Bevor ich auf die Folgen der Visionen der Hl. Birgitta von Schweden in der Kunst eingehen, zuvor noch zwei Beispiele für Aneignungen der Weihnachtsgeschichte, die sich durch eine stärkere Integration in den familiären Alltag und ein besonderes, in diesem Falle deutsches Lokalkolorit auszeichnen.


1400 – Unbek. Meister

Um 1400, so kann man beobachten, beginnt die Ausstattung des Geschehens mit genretypischen Motiven, es tritt eine Art augenzwinkernde Ironie ins Bild. Etwas von dem, was die Familien unter den Betrachter:innen mit den frisch Geborenen erleben, muss sich doch auch bei der Geburt Jesu ereignet haben. Im vorliegenden Täfelchen (33x21 cm) eines unbekannten Meisters aus der Zeit um 1400 hat sich der „Nährvater“ Josef (der als einziger keinen Nimbus trägt) seine Lederschuhe ausgezogen und beginnt, sie aufzuschneiden, um für seinen nackt in der Krippe liegenden Ziehsohn, der gerade noch von einer Hebamme betreut wird, ein ledernes Wams zu nähen. Die Webgallery of Art schreibt zu diesem kleinen Täfelchen:

The iconography of St Joseph in the Nativity panel is unusual. What we find here is the story of 'Joseph's stockings'. Jesus' father sits at the bottom of the panel, cutting up one of his leggings. Certain Middle Dutch and German Christmas carols tell that the Christ Child was swaddled in cloth cut from this undergarment. Aachen Cathedral once owned a relic said to be 'Joseph's Stockings', which were the subject of intense veneration in around 1400. It is likely, therefore, that this little panel was produced in the Aachen area (or at least the region between the Meuse and Rhine), probably some time around 1400.


1403 – Konrad von Soest, Geburt Jesu

Konrad von Soest steuert ein wunderbares Bild zum Lokalkolorit bei, das Josef bei der Zubereitung einer Mahlzeit für seine angetraute Frau (aber wohl noch nicht für das Baby) zeigt, er bettet das Geschehen in die bäuerliche Lebenswelt der Betrachter:innen ein.


1372 – Niccolò di Tommaso

Das erste Bild der Kunstgeschichte, das unmittelbar auf die Visionen der Birgitta von Schweden reagiert, ist Niccolò di Tommasos Illustration der Vision von 1372. Hier zeichnet sich die geradezu revolutionäre Wende in der Darstellung der Weihnachtsgeschichte ab, die die folgenden Jahrhunderte bestimmen wird. Die zentrale Änderung ist, dass nun das Christuskind nackt vor der in einen weißen Mantel eingehüllten Maria liegt, die es mit gesenktem Haupt und zusammengelegten Händen anbetet. Niccolò di Tommaso folgt nicht in allen Details der Erzählung der Hl. Birgitta von Schweden, fügt aber selbst noch kleine Details hinzu: so etwa die Schuhe, die Maria ausgezogen hat. Schon bei den Kirchenvätern findet sich der brennende Dornbusch als Analogie zur Jungfrau Maria: Wie der Dornbusch, in dem Gott erscheint, brennt, aber nicht verbrennt, so trug Maria Gott in sich, ohne zu vergehen.

Klärungsbedürftig ist noch ein Bilddetail: Der rotweiße Stoff, der sich zu Füßen des Christuskindes findet. Der Text der Vision bietet drei Möglichkeiten: die sehr schön eingewickelte Nachgeburt, das Wollkleid für das Kind oder das Leinentuch für den Kopf Jesu. Entscheiden lässt sich das an dieser Stelle nicht, ich vermute, es soll das Wollkleid darstellen.


1405 – Robert Campin, Geburt Christi

Mit diesem Bild von Robert Campin (1377-1444) treten wir nun in die moderne Gestaltung des Weihnachtsthemas ein. Modern in dem Sinne, dass die Erzählung nun in eine zeitgenössische Landschaft eingebettet wird. Das ist der große Schritt in der Bildenden Kunst am Anfang des 15. Jahrhunderts.

Der „Abschied von der Ikone“, der sich in der Kunst des Westens vollzieht, zielt auf die Stärkung des Subjekts, das das Bild als bewusste, auf ihn hin arrangierte Inszenierung erkennt:

Historisch betrachtet, kann Campins Leistung unter die Formel „Abschied von der Ikone" gesteht werden. Unter Ikone im weiteren Sinne soll hier das ikonische Bild, die Bildformel verstanden werden, die in ihren Hauptcharakteristika von der Spätantike bis ins späte Mittelalter Bestand hatte. Das ikonische Bild ist dadurch gekennzeichnet, dass es die dargestellten heiligen Figuren als autonome, in ihrer Existenz vom individuellen Betrachter grundsätzlich unabhängige, von seiner Präsenz nicht affizierte Größen darstellt … Robert Campin hat diese Regel … aufgegeben … Überhaupt bestimmt Campin die Position des Betrachters konsequent als origo, als maßgeblichen Bezugspunkt der Darstellung. Die konsequente Rückbeziehung der Darstellung auf die Instanz des individuellen Betrachters führt auch bei Campin zu einer zentralperspektivischen Gestaltung des Bildraumes …
(Thürlemann, Felix: Abschied von der Ikone: Das Bildkonzept Robert Campins, 1997)

Auf dem Bild ist von der bloßen Tatsache der Geburt Jesu selbst, den Engeln und den Hirten nichts mehr zu sehen, was mit den knappen biblischen Versen übereinstimmen würde. Und selbst die Hirten und die Engel wurden zeitgenössischen Vorstellungen angenähert, das Jesuskind entkleidet. Nahezu jedes Detail ist späteren Schichten der Überlieferung entnommen. Den größten Anteil liefern dabei die Visionen der Hl. Birgitta von Schweden. Nach ihrer Erzählung ist der alte Mann Josef zunächst in die Stadt gelaufen, um eine Kerze zu besorgen, die den Stall erhellt, vergessend, dass das neugeborene Kind ja das Licht der Welt ist, das alles überstrahlt. Maria trägt ihren weißen Mantel und betet das nackte Kind an. Von der alten Traditionsbildung hat der Künstler Ochs und Esel und die beiden Hebammen Zelomi und Salome übernommen. Was er neben der Landschaft im Hintergrund neu in das Bild einbringt, ist die konkrete Physiognomie der Hirten, die als zeitgenössische Landmenschen dargestellt werden und die Musikinstrumente, die sie zur Anbetung mitbringen. All das zusammen ergibt ein neuartiges Weihnachtsbild, das auch seine Schüler und Nachfolger beeinflussen wird.


1450 – Rogier van der Weyden, Bladelin-Altar

Campins Schüler Rogier van der Weyden (1399-1464) verhandelt – ebenfalls ganz modern – ein völlig anderes Thema: wie können wir dem Weihnachtsgeschehen als heutige Menschen nahekommen, wie können wir ein Geschehen vergegenwärtigen, das doch Jahrhunderte vor unserer Zeit liegt? Genau das ist das Problem des auf der rechten Seite abgebildeten Stifters Pieter Bladelin (um 1410-1472), einer der reichsten Menschen der damaligen Zeit, dessen flämische Lebenswelt im Hintergrund abgebildet ist. Wie kann er den garstigen Graben der Geschichte zum biblischen Ereignis überwinden? Mit dem Verhältnis von Altem (Testament) und Neuem (Testament) beschäftigt sich schon die Architektur des Stalls, der im Kontrast von der ruinösen Romanik zur moderneren Säule auf die neuen Zeiten verweist. Vergegenwärtigung geschieht durch meditative Aneignung, durch eine Hermeneutik des Gebets, das sich der Haltung der biblischen Figuren angleicht.


1480 – Martin Schongauer, Christi Geburt

Martin Schongauer kommt dem Hersbrucker Altar, dem wir in dieser Ausgabe einen eigenen Artikel gewidmet haben, ziemlich nahe. Ich führe es hier vor allem deshalb auf, weil auch hier evtl. auf die Nachgeburt Christi angespielt wird, von der Birgitta von Schweden berichtet.


1528 – Antonio da Correggio, Heilige Nacht

Auch mit Correggios Weihnachtsbild stoßen wir auf eine revolutionäre und moderne Weiterentwicklung des Themas: die Darstellung der intimen Beziehung von Mutter und Kind. Das ist implizit schon bei Birgitta von Schweden angelegt, wird aber erst von Antonio da Correggio (1489-1534) zu einem stilbildenden Moment. Man muss hier vielleicht zwei Dinge unterscheiden: zum einen die damals sich entwickelnde künstlerische Hell-Dunkel-Kontrastierung (Chiaroscuro), die Correggio hier vornimmt, die im Barock ja später eine so bedeutende Rolle spielen wird. Sie fasziniert die gesamte Epoche.

Das andere ist aber m.E. für dieses konkrete Bild wirkungsgeschichtlich bedeutender: die höchst private Beziehung, die Correggio hier zwischen Mutter und Kind darstellt, die zwar noch durch das Licht die Umwelt mit einbezieht (indem es diese erleuchtet), aber dennoch das Augenmerk auf eine Zweierbeziehung lenkt. Der heilsgeschichtliche Aspekt wird quasi gegenüber dem individuellen zweitrangig. Das lässt sich nicht der Bibel entnehmen, sondern ist ein Eintrag des Künstlers. Spätere Künstler werden dieses Moment nach verstärken. Etwa wenn El Greco in einem Tondo das Licht nur noch auf Maria und Jesus fallen lässt.



1650 – Carlo Maratta, Heilige Nacht

Etwa 125 Jahre später wird Carlo Maratta (1625-1713) seinen Fokus noch konzentrierter (und idealisierter) auf die Mutter-Kind-Beziehung lenken. Die Webgallery of Art schreibt dazu:

Maratta war der herausragende Vertreter des spätbarocken Klassizismus in Rom. Die wichtigste Inspiration für das vorliegende Gemälde war Correggios großes Altarbild der Heiligen Nacht mit seiner markanten nächtlichen Beleuchtung. Aus Correggios Altarbild hat der Maler nicht nur Pose und Stellung von Maria und dem Christuskind direkt übernommen, sondern auch die jugendliche Anmut der Züge der Jungfrau. Beide Künstler beschwören im Umgang mit Licht deutlich das im Alten Testament verheißene Licht Gottes, das mit der Geburt Jesu Wirklichkeit wurde.

Aber das ist keine zureichende Beschreibung des Bildes. Sie suggeriert, das Bild wäre noch Darstellung biblischer Geschichte, obwohl es doch die biblische Geschichte nur als Material nutzt, um ein höchst individuelles, privates Motiv zum Ausdruck zu bringen, ein Motiv, das als exemplarisch nicht für die Heilsgeschichte, sondern für die (bürgerliche) Familie zu deuten ist.


1896 – Paul Gauguin, Kind(er) Gottes

Man könnte die Kunstgeschichte der Geburtsbilder unendlich fortsetzen. Ich möchte die Reihe abschließen mit einem modernen Bild, dass auch die Weihnachtsgeschichte als Referenzrahmen nimmt, um eine höchst persönliche Geschichte zu spiegeln…

Paul Gauguin (1848-1903) reflektiert in diesem wie in dem nebenstehenden Bild die Geburt und den frühen Tod des Kindes seiner tahitianischen Freundin Pahura. Dazu greift er auf bewährte Vorlagen der Kunstgeschichte zurück und erweitert das individuelle Geschehen um eine weitere Lesart. Der Engel, der Stall, die Tiere und die Heiligenscheine lassen im Individuellen das Allgemeine erscheinen – ohne dass Gauguin die Szene „eingemeinden“ will oder die Tahitianer christianisieren möchte. Das entspricht dem Fortgang der Kunst seit 1500, als Dürer sein Selbstporträt nach dem Christusbild stilisierte. Die tradierte Ikonographie wird zum Ausdrucksreservoir des individuellen Lebens.

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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/134/am740d.htm
© Andreas Mertin, 2021