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Eine Rezension von Philipp Sarasin „1977“

Wolfgang Vögele

Rezension von Philipp Sarasin, 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Berlin 2021

Das hier anzuzeigende Werk, „1977“ (Leseprobe) des Schweizer Zeithistorikers fasziniert aus zwei Gründen: Neben den dargestellten Inhalten rückt es ein dem Anschein nach unauffälliges Jahr in den Vordergrund, das viele seiner (älteren) Leser, auch der Rezensent, bewusst erlebt haben. Der Verfasser dieser Rezension war im Jahr 1977 fünfzehn Jahre alt, er fing an, pubertierend eigene intellektuelle und kulturelle Interessen zu entwickeln, er nahm aus Nachrichten und Zeitungen die Niederungen der Politik wahr, er begeisterte sich für neue Bücher jenseits von Karl May. Von meinem Taschengeld besorgte ich mir im Kaufhaus (!) die drei Bände des ‚Prinzips Hoffnung‘ von Ernst Bloch, ein Buch, dem sich Sarasin ausführlich widmet, genauso wie dem deutschen Herbst mit der Schleyer-Entführung, die den Fünfzehnjährigen nachhaltig verstörte.

Sarasin schreibt über Selbstverwirklichung: Der Rezensent las 1977 Hermann Hesses ‚Steppenwolf‘ sowie ‚Narziß und Goldmund‘ und beschäftigte mich wenige Jahre später mit Ruth Cohns Themenzentrierter Interaktion und der Gesprächstherapie von Carl Rogers. Ich war abgeschreckt von Margaret Thatcher, Franz Josef Strauß und vier Jahre später von Ronald Reagan; ich las sehr viel über die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings, was später dazu führen sollte, dass ich eine akademische Qualifikationsschrift über Menschenwürde und Menschenrechte verfasste. Alle diese Zusammenhänge macht die Lektüre des Buches von Sarasin wieder bewusst und sie eröffnet ihren Lesern überraschende kulturdiagnostische Einsichten. 

Sarasin nimmt das Jahr 1977 als Ausgangspunkt für ein ganz eigenständiges Konzept der Individualisierungsforschung der Zeitgeschichte. Er entscheidet sich selbst aus autobiographischen Gründen, das Jahr 1977 als Schnittpunkt verschiedener zeithistorischer Entwicklungen zu nehmen, deren Auswirkungen nach seiner Diagnose bis in die Gegenwart Bestand haben. Die fünf Teile seines Werks startet er jeweils mit Nachrufen auf Personen, die im Verlauf des Jahres 1977 verstorben sind: der Philosoph Ernst Bloch, die amerikanische Bürgerrechtlerin Fanny Lou Hamer, die Schriftsteller Anais Nin und Jacques Prévert, der Ökonom und Politiker Ludwig Erhard. Von dort aus entwickelt er dann jeweils seine Themen weiter: Terrorismus und die RAF, Menschenrechte, die neuen sozialen Bewegungen, besonders die Frauenbewegung, Neoliberalismus und Marktwirtschaft, Evolutionstheorie und Genetik. Das ist sehr oft plausibel, wirkt gelegentlich aber auch weit hergeholt, und man stellt sich die Frage, von welcher Hintergrundtheorie die Reflexionen Sarasins zusammengehalten werden.

Immer wieder taucht bei ihm der Name Michel Foucaults auf, nicht nur deshalb, weil der Autor mit mehreren Monographien über den französischen Philosophen hervorgetreten ist. Geschichtsschreibung erweist sich nicht mehr als der Versuch, eine chronologisch geordnete Abfolge der Ereignisse samt einem dahinter gelegten philosophisch-historischen System zu präsentieren, sondern Sarasin, das wird im Verlauf der Lektüre deutlich, beschränkt sich auf die Hervorhebung einzelner Linien oder Themen, in der Hoffnung, dass diese sich zu einem überzeugenden Gesamtbild vereinen.

Bei dem Schweizer Autor steht im Hintergrund die These von den Singularisierungsprozessen der Moderne, die er im Anschluss an den Berliner Soziologen Andreas Reckwitz[1] entwickelt. Die größeren Einheiten der Gesellschaften (Nationalstaaten, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften etc.) zerfallen, während die einzelnen Bürgerinnen und Bürger an ihren Lebensentwürfen arbeiten, um sich immer stärker voneinander abzugrenzen. Sie singularisieren sich. Nach Sarasin zeigen sich schon im Jahr 1977 Ansätze und Andeutungen zu den bevorstehenden verstärkten Singularisierungswellen in den Gesellschaften des beginnenden 21.Jahrhunderts. Bei ihm wird aber auch deutlich, dass dieser Prozess von Anfang an seinen Preis hat. Die Wahrheiten von Wissenschaft und Politik zerfallen in viele kleine pluralisierte Wahrheiten. Einheitliche politische Meinungen zerfallen in die Meinungsblasen der sozialen Medien. Zusammenhalt und Ligaturen in der Gesellschaft lösen sich immer stärker auf. Das alte wissenschaftsmethodische Prinzip des Philosophen Paul Feyerabend feiert einen Sieg auf ganzer Linie: Anything goes.

In der singularisierten Gesellschaft muss sich jeder Akteur seine eigene Wahrheit zusammenbasteln. Das ist einerseits Ausdruck von Freiheit, andererseits eine Last, die zu Konflikten mit anderen führt. Als Leitidee fungiert die (Selbst-)Verwirklichung des eigenen Ich und seiner Bedürfnisse. Das allerdings führt langfristig zur Selbstgefährdung von Demokratien, was am Beispiel der USA unter ihrem vorletzten Präsidenten genügend deutlich geworden sein dürfte, es führt zur Entwicklung von Meinungsblasen und -festungen in den sozialen Medien, es führt zu fake news und spin doctors, die Meinungen manipulieren; und es führt schließlich in der Gegenwart der Corona-Pandemie zur Herausbildung von ‚Querdenkern‘, die in einer kruden Guerilla-Weltanschauung wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen und unterlaufen.

Je mehr an Meinungen, Engagement, Sinnstiftung der individuellen Perspektive überlassen wird, desto mehr steigt die Toleranz gegenüber allen Formen von Idiosynkrasien, abweichenden Meinungen bis hin zu Schrulligkeit und Querdenkertum, Sektenmentalität und Fanatismus. Wissenschaft und politische Vernunft verlieren ihren Status als kategoriale Maßstäbe. Eigentlich ist das Herausbilden einer eigenen, individuellen Meinung ja eine wichtige und zentrale Erwartung an die Bürger von demokratischen Staaten; es ist Bedingung der Möglichkeit von Partizipation. Aber auf lange Sicht geraten damit – so die von Sarasin analysierte Dialektik von Individualisierung und Demokratie – die grundlegenden Werte von Aufklärung, Demokratie und Bildung ins Unbestimmte und Verschwommene. Die Vielzahl pluralistischer Dialoge muss irgendwann ihren Preis zeitigen. Es mischen sich in den singularisierten Individuen Technikfreundlichkeit, Fortschritt, Demokratiebewusstsein auf der einen mit medizinischem Aberglauben (Homöopathie, Impfgegner, schon bei den Masern, nicht nur bei Corona), politischer Naivität und Emotionalisierung auf der anderen Seite. Die Mischungsverhältnisse variieren von Akteur zu Akteur. Es fehlen die Maßstäbe, an denen Erkenntnisse und Forderungen gemessen werden können. Etablierte Institutionen wie Wissenschaften, Parteien, think tanks, Tageszeitungen verlieren kontinuierlich an Glaubwürdigkeit, und in der Konsequenz muss jeder einzelne sich selbst fragen, ob er den Institutionen noch vertraut, wenn Epidemiologen zu einer Impfung gegen das Corona-Virus raten, Meteorologen vor der globalen Erwärmung warnen oder Finanzpolitiker höhere Steuern fordern.

Sarasin sucht die Ursachen dieser Entwicklungen, indem er stets von neuem im Jahr 1977 anknüpft, und er kommt folgerichtig in seiner Darstellung auf eine seltsame Mischdiagnose. Sie besteht aus dem Scheitern des Terrorismus der RAF, einer immer stärker werdenden Bewegung für Selbstverwirklichung, einer indisch angehauchten Therapiebewegung, dem New Age sowie der Digitalisierung und Computerisierung. All das ist stets, bewusst oder nicht, mit Machtfragen verknüpft, und deshalb kommt der frankophile Autor auch so oft auf den Machttheoretiker par excellence, Michel Foucault zurück.

Prozesse der Singularisierung bringen als Kehrseite eine Tendenz zum Verlust sozialen Vertrauens mit sich. In die entstehende Lücke dringen digitale Medien, Internetportale und soziale Netzwerke ein. Hier bilden sich Stimmungen, um Meinungen zu schaffen, brüchige Konsense zu bilden und wieder zu zerstören, shitstorms zu erzeugen und Hilfsaktionen zu planen.

Sarasin wirft seinen Blick auf naheliegende Beispiele wie Selbstverwirklichung und Digitalisierung, und es erstaunen die Wechselwirkungen zwischen beidem, die er herausarbeitet. Aber er geht eben auch auf Genetik und Evolution, insbesondere auf die Diskussion über die Soziobiologie, ein.

Egal ob es sich um Menschenrechte, Computer und Digitalisierung, die Entdeckung sexueller Freiheit, Erfahrungen mit Selbstverwirklichung und Therapieangeboten handelt, in den meisten Fällen laufen die von Sarasin markierten Entwicklungen nebeneinander her, andererseits sind sie aber auch auf geradezu unheimliche Weise aufeinander bezogen.

Sarasin verliert leider kein Wort über Kirchen und Religionen, diese Dimension der Kultur scheint für ihn keine besondere Rolle zu spielen. Er verliert auch kein Wort über bildende Kunst oder klassische Musik, stattdessen schreibt er sehr spannend über die Entwicklung von Punk und Hiphop in London und New York. Die Gewinn- und Verlustbilanz seiner Analyse bleibt darum zweideutig: Einerseits bewährt sich seine neue Methode, im Gegensatz zur chronologischen Geschichtsschreibung Funken aus dem scheinbar Unzusammenhängenden zu schlagen, andererseits fällt den Lesern Fehlendes, Ausgelassenes auf.

Am Ende soll ein einziges Zitat aus dem Buch stehen, aus dem sich doch noch ein interessanter Bezug zu Religion und Theologie herstellen lässt: Sarasin spricht vom „Zwang zur Allgemeinheit und zum Allgemeinen“ als einem entscheidenden Modernitätsmerkmal. Er fährt fort: „Dieser gemeinsame Nenner ist insbesondere in dem Maße als ‚modern‘ zu verstehen, wie die Idee und Praxis des Allgemeinen mit der ‚Gemeinheit‘, das heißt mit der Überzeugung von der prinzipiellen Gleichheit des Menschen, nicht erst im Jenseits, sondern schon im Diesseits verbunden wird – wenn es denn wahr ist, wie Max Weber sagte, dass die moderne Erfahrung mit dem Verlust des göttlichen Kosmos einsetzte. Modern war, dieses Fehlen metaphysischer Absicherung durch weltliche Ordnungsmuster zu kompensieren (…).“ (417)[2] Sarasin nennt als Beispiele für solche kompensierenden Kategorien die allgemeine Vernunft, die Gleichheit der Menschenrechte und die zivilreligiöse Bindung an Nationalstaaten (418). In der singularisierten Moderne nun lösen sich die durch Aufklärung und Vernunft gestifteten Allgemeinheiten wieder auf, und das hat Folgen für den Staat, aber eben auch für Kirchen und Religionen: Sie verlieren von ihren Universalitätsansprüchen, werden partikular und treten in ein Konkurrenzverhältnis. Das Leben in unübersichtlichen, pluralistischen Gesellschaften erfordert offensichtlich trotzdem so etwas wie orientierende Haltepunkte, die sozial beglaubigt dem Individuum bei der Suche nach Gewissheiten und Orientierungen helfen. Für Sarasin lassen sich diese nur im Kontext moderner Medien aufbauen, sie lösen die alten Sinnstiftungsinstanzen wie Kirchen und religiöse Gemeinschaften ab. Aber es wäre eben zu fragen, ob Kirchen und Religionen, auch wenn sie miteinander konkurrieren, nicht doch noch eine Existenzberechtigung haben als soziale Instanzen, die immer noch zwischen individualisierten Biographien und Allgemeinheitsansprüchen vermitteln.

Um es zusammenzufassen: Der Historiker diagnostiziert die Moderne als ein fragiles, instabiles Gebilde, das an seinem eigenen Erfolg zu scheitern droht. Er schließt dabei an die bereits genannten soziologischen Macht- und Singularisierungstheorien an, die gleichsam im Medium der Zeitgeschichte aufbereitet werden. Damit schreibt Sarasin im Übrigen auch die Geschichte der Zeitdiagnosen deutschsprachiger Intellektueller der Nachkriegszeit weiter, die Axel Schildt begonnen hatte[3]. Diese blieb unvollendet, was die sechziger und siebziger Jahre angeht. Sarasins höchst lesenswertes Buch bietet eine Fülle von Hinweisen auf die formative Kraft der siebziger Jahre und kann die Auswirkungen damals getroffener Entscheidungen bis in die Gegenwart zeigen. Am wichtigsten davon erscheint der wiederholte Hinweis auf die Ambivalenzen und Kosten der Singularisierung.

Anmerkungen


[1]    Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017; vgl. dazu Singularisierung, Säkularisierung oder sichere Schrumpfung. Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz‘ These von der Singularisierung unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage in Religionssoziologie und Kirchentheorie, tà katoptrizómena, Heft 125, Juni 2020, https://theomag.de/125/wv059.htm.

[2]    Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf das im Untertitel genannte Buch.

[3]    Dazu Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hg. und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried, Göttingen 2020; vgl. dazu Wolfgang Vögele, Literaturverzeichnisse, Referentenlisten und andere Netzwerke. Rezension von Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hg. und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried, Göttingen 2020, tà katoptrizómena, H.2, Nr. 130, 2021, https://www.theomag.de/130/wv068.htm.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/135/wv075.htm
© Wolfgang Vögele, 2022